»Gebet der Erde, was sie gegeben.

Es blühet das Leben über dem Grab.«

Clemens Brentano

»Hast du zufällig einen Wien-Reiseführer herumliegen?«, fragte Morell, nachdem er Capelli alles über seinen unfreiwilligen Ausflug in die Untiefen der Stadt Wien erzählt hatte. »Ich würde gerne mehr über die Katakomben unter dem Stephansdom erfahren. Was kann es in ihnen geben, das für Payer und Uhl von Interesse sein könnte?«

Capelli stand auf und durchsuchte ein Bücherregal. »Irgendwo hatte ich einen.« Sie öffnete eine Kiste und wühlte in deren Inhalt herum. »Ah, da ist er ja«, sagte sie und hielt triumphierend ein dickes Buch in die Höhe. »Bitte schön.«

Morell nahm den Reiseführer entgegen und studierte das Inhaltsverzeichnis. »Stephansdom … Seite 76 …«, sagte er, schlug die Seite auf und begann still zu lesen.

»Ich will auch was mitkriegen«, forderte Capelli. »Lies laut vor!«

»Na gut. Hör zu: Unter dem Stephansdom befinden sich mehr als 30 Grabkammern, die allesamt durch ein labyrinthartiges Tunnelsystem miteinander verbunden sind. Die älteste Kammer ist die Herzogsgruft, in der sich die sterblichen Überreste von Erzherzog Rudolf IV. und seiner Familie befinden. In einer weiteren Kammer werden seit 1630 einbalsamierte Bischöfe und Kardinäle in Kupfersärgen aufbewahrt. Weiter gibt es eine Gruft für die Domherren und andere hohe Würdenträger, einen Schacht, in dem sich die Überreste der Pesttoten aus dem Jahr 1713 befinden, und mehrere andere Kammern, in denen insgesamt mehr als 11 000 Tote bestattet worden sind.

»Wow«, Capelli nickte anerkennend. »Das habe ich nicht gewusst.«

»Leider wurde der Gestank der Toten irgendwann so unerträglich, dass es nicht mehr möglich war, Messen im Dom abzuhalten. Darum und aus hygienischen Gründen hat Kaiser Josef II. im Jahr 1783 verboten, Menschen innerhalb der Stadtmauern zu begraben.« Morell blätterte weiter und überflog den Rest des Kapitels. »Zudem gibt es in den Katakomben noch eine Kapelle und ein sogenanntes Steinmuseum – das ist ein Raum, in dem verschiedenste Steinfiguren und Steinplatten aufbewahrt werden, die früher den Dom zierten, dann aber Renovierungsarbeiten zum Opfer gefallen sind.«

»Sehr merkwürdig.« Capelli zuckte ratlos mit den Schultern. »Knochen und Steine. Was könnte es sonst noch da unten geben?«

Morell war ratlos. »Dort unten gibt es, soweit ich das mitbekommen habe, nur Kälte, Dunkelheit und massenhaft tote Menschen.«

»Gene«, rief Capelli plötzlich. »Dort unten liegt ziemlich spezielles Genmaterial.«

»Bitte?«

»Nun, wenn in der Kapelle nicht irgendwelche kostbaren Kelche oder goldverzierten Kreuze liegen, dann ist das Wertvollste dort unten das Genmaterial von Bischöfen, Kardinälen und den Habsburgern.«

»Nicht dein Ernst!« Morell überflog noch einmal das Kapitel über die Katakomben. »Hier steht, dass die zuletzt deponierte Urne die Eingeweide des 1878 gestorbenen Erzherzogs Franz Carl, des Vaters von Kaiser Franz Joseph, enthält. Das ist mehr als 130 Jahre her.«

»Aber die Eingeweide wurden doch sicher konserviert, oder?«

Morell las weiter. »Ja, hier steht was von Alkohollösung.«

Capelli nickte. »Kein Problem für die DNA

»Geh, du glaubst Uhl und Payer verkaufen Habsburger-DNA

»Warum nicht? Vielleicht gibt es Wissenschaftler, die sich für so etwas interessieren.«

Morell, dem allein bei der Vorstellung alle Haare zu Berge standen, verdrehte die Augen. »Da muss es noch etwas anderes geben. Irgendetwas, das wir übersehen oder noch nicht in Betracht gezogen haben.«

»Ich schau auch noch mal im Internet, vielleicht gibt’s da was. Aber morgen, jetzt muss ich nämlich ins Bett«, sagte Capelli gähnend. »Und wenn uns dann immer noch nichts einfällt, mache ich eben eine der Führungen durch die Katakomben mit und schaue mir die Sache live an.«

Morell nickte. »Ist gut«, sagte er. »Lass uns schlafen gehen. Wir müssen morgen fit sein – es könnte ein anstrengender Tag werden.«

 

Während Morell und Capelli rasch in einen tiefen Schlaf fielen, lag in den Tiroler Alpen einer hellwach im Bett: Bender. In Landau herrschte nämlich Katzenjammer, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Der Baldrian hatte gewirkt und sämtliche Katzen aus der Nachbarschaft angelockt. Nur leider schien er, anders als bei Menschen, keinen beruhigenden Effekt auf sie zu haben – ganz im Gegenteil, er versetzte die Tiere regelrecht in Ekstase.

Bender tat die ganze Nacht kein Auge zu, weil die wild gewordenen Stubentiger lautstark eine Orgie in seinem Garten feierten. Es mussten sich wirklich alle Katzen und Kater aus Landau hier versammelt haben. Alle – außer Fred.