»… und nachdem wir der Seele Ruh im Grabe geschafft,

wird laut noch gerufen der Abschied.«

Vergil, Äneis

Chefinspektor Otto Morell saß in der Polizeiinspektion von Landau, einem kleinen Kaff in den Tiroler Bergen, und starrte Löcher in die Wand. Seine Freundin Valerie hatte vor knapp zwei Wochen aus heiterem Himmel beschlossen, dass sie eine Beziehungspause brauchte, und seitdem war der sonst so fröhliche und ausgeglichene Polizist ein echter Trauerkloß. Missmutig schob er sich ein Stück selbstgebackenen Marmorkuchen in den Mund und kaute geistesabwesend darauf herum. Eigentlich sollte er ja keine Süßigkeiten mehr essen, da sein Bauch die Uniformhose bereits bis zum Anschlag dehnte, doch er brauchte den kulinarischen Trost aus Zucker, Fett und Kohlehydraten – ans Abnehmen konnte er ein anderes Mal denken. Morell lockerte seinen Gürtel, um seinem Bauch ein wenig Freiraum zu geben, und griff nach dem nächsten Stück.

Von wegen Beziehungspause – er wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Warum konnten Frauen nicht einfach sagen, was sie dachten? Warum mussten sie immer um den heißen Brei herumreden? Damit machten sie doch alles nur noch schlimmer. Der Chefinspektor wusste genau, was als Nächstes kam: In ein paar Tagen würde sie ihn anrufen und vorschlagen, doch gute Freunde zu bleiben – aber darauf konnte er verzichten. Er nahm sich ein drittes Stück Kuchen und verpasste ihm eine fluffige, weiße Haube aus Sprühsahne.

Morell und Valerie waren zusammengekommen, nachdem er eine schreckliche Serie von Morden aufgeklärt hatte und als Retter von Landau gefeiert worden war. Mittlerweile war jedoch wieder der Alltag eingekehrt, was dem Chefinspektor mehr als nur recht war – er liebte sein entspanntes Leben und war froh, wenn er sich in Ruhe um seine drei Hobbys kümmern konnte: Kochen, Essen und Blumenzüchten. Seine Noch-Freundin sah die Situation anscheinend anders: Sie hatte sich in einen strahlenden Helden verliebt und einen übergewichtigen und ruhebedürftigen Dorfpolizisten bekommen. Und er konnte ihr ihr Verhalten nicht einmal verübeln.

Als wäre das nicht alles schon schlimm genug, lag auch noch der Lieblingsficus des Chefinspektors im Sterben. Morell hatte die Topfpflanze extra von zu Hause mitgebracht, damit er sie den ganzen Tag über pflegen konnte, aber so wie es aussah, kam jede Hilfe zu spät. »Nicht sterben, mein Kleiner«, flüsterte er und schob das Bäumchen dichter ans Fenster, damit es alle Strahlen der Morgensonne abbekam. Dann kontrollierte er die Feuchtigkeit der Blumenerde und stellte noch einmal sicher, dass sein grüner Freund keine Zugluft abbekam. »Was fehlt dir denn nur?« Er blätterte in einem Pflanzenratgeber, als die Tür aufging und Robert Bender mit einer Tasse Tee in der Hand den Raum betrat.

Der 27-jährige Inspektor hatte vor drei Jahren seine Ausbildung zum Polizeibeamten beendet und war seitdem Morells Assistent und Stellvertreter. Bender, der regelmäßig im Fitnesscenter trainierte, war alles andere als ein dünner Zwerg, doch neben seinem Vorgesetzten fühlte er sich klein und schmächtig. Normalerweise blickte der junge Polizist also stets ein wenig eifersüchtig auf die imposanten 1,95 m Körpergröße und die üppige Statur seines Vorgesetzten, doch heute boten der vom Liebeskummer gezeichnete Morell und sein sterbenskranker Ficus ein solches Bild des Elends, dass bei Bender keine Spur von Neid mehr aufkam. Im Gegenteil – die nun schon seit fast zwei Wochen andauernde Schwermut des Chefinspektors bereitete ihm allmählich Sorgen.

»Hier, Chef, ich habe Ihnen einen Tee gemacht.« Bender konnte nicht mehr länger mit ansehen, wie Morell vor sich hin litt und Süßigkeiten in sich hineinstopfte, obwohl seine Uniform an allen Ecken und Enden spannte. Er würde nicht zulassen, dass sein ansonsten blitzgescheiter und scharfsinniger Chef immer mehr in Selbstmitleid versank und sich dadurch selbst zugrunde richtete. Bender hatte deshalb bereits vor einer Woche beschlossen zu handeln und war in die Apotheke gegangen, wo ihm Johanniskraut als natürliches Heilmittel gegen Depressionen empfohlen worden war. Seitdem mischte er täglich heimlich ein paar Tropfen davon in den Tee seines Chefs.

»Danke, Robert.« Morell pustete und nahm vorsichtig einen Schluck.

»Kommen Sie, wir gehen ein bisschen raus und suchen den entlaufenen Hund von Frau Hämmerle. Ein wenig frische Luft und Sonnenschein werden Ihnen guttun.«

Anscheinend zeigte das Johanniskraut noch keine Wirkung, denn Morell schüttelte nur den Kopf. »Ich bin grad gar nicht in der Stimmung. Geh du nur allein.«

Bender schielte besorgt auf den überdimensionalen Bauch seines Chefs und das Kuchenstück in dessen Hand. »Dr. Levi hat mich gebeten, Sie an Ihr Gewicht und Ihre Cholesterinwerte zu erinnern. Sie sollen nicht so viel Süßes und Fettes essen, sonst riskieren Sie einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt.«

»Sag Dr. Levi, er soll sich um seinen eigenen Kram scheren.« Morell grummelte. Er wusste, dass der Gemeindearzt recht hatte, aber er konnte sich momentan beim besten Willen nicht auch noch mit der Bürde einer Diät belasten.

Bender wollte gerade resigniert das Büro verlassen, als Morells Telefon läutete. Während sich der Chefinspektor zur Seite drehte und zum Hörer griff, nutzte sein Assistent die Gelegenheit, um sich den Teller zu schnappen und samt Kuchen aus dem Zimmer zu verschwinden. Wenn Morell sich weigerte, auf seine Gesundheit zu achten, dann musste er ihn zu seinem Glück einfach zwingen.

 

»Servus, Otto, hier ist Nina. Ich bin ja so froh, dass ich dich erreiche!« Nina Capelli und Otto Morell hatten sich letztes Jahr im Dezember kennengelernt, als das idyllische Landau durch eine Mordserie erschüttert und sie dem Fall als zuständige Gerichtsmedizinerin zugeteilt worden war.

»Nina? Na, das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir?« Morell öffnete die Schublade, in der er seine Süßigkeiten bunkerte, nahm eine Tafel Nuss-Nougat-Schokolade heraus und nestelte an der Verpackung herum.

»Leider nicht so gut. Ich brauche dringend deine Hilfe.« Die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwang, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Notfall handelte.

Morell legte die Schokolade beiseite und setzte sich aufrecht hin. »Ich bin ganz Ohr. Was ist passiert?«

Capelli erzählte, was geschehen war. »Könntest du vielleicht nach Wien kommen?«, bat sie schließlich.

Morell überlegte. Er konnte Wien nicht ausstehen und hatte absolut keine Lust, in die Bundeshauptstadt zu fahren, andererseits konnte er seine Freunde nicht einfach so hängenlassen. »Hmmm …«, sinnierte er.

»Bitte, Otto, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der genau weiß, wie so eine Mordermittlung abläuft. Außerdem kennst du vielleicht sogar die zuständigen Polizisten vor Ort.«

Der korpulente Chefinspektor war früher als Kripobeamter in Wien tätig gewesen, hatte aber irgendwann die Nase gestrichen voll von all dem Großstadtrummel gehabt und war daher samt seinem dicken Kater Fred zurück in seinen Heimatort Landau gezogen.

Morell kratzte sich am Kinn. »Ich werde mal mit Bender reden. Wenn er es sich zutraut, die Inspektion alleine zu verwalten, dann werde ich kommen. Bleibt nur die Frage, wer sich dann um Fred und meine Pflanzen kümmert.«

»Aber das kann doch Valerie machen!«

Der Chefinspektor spürte ein Ziehen in der Brust, als Nina den Namen seiner zukünftigen Exfreundin aussprach, und griff nach der Schokolade. Wahrscheinlich tat ihm ein wenig Abstand von Landau ganz gut. »Natürlich«, sagte er wolkig, da er nicht über seine Verflossene sprechen wollte. »Also gut, ich werde kommen.«

»Danke, du bist ein Schatz. Hör zu, ich würde dich ja sofort abholen, aber ich kann meinen Autoschlüssel nicht finden. Außerdem muss ich mich hier noch um die ganzen Umzugssachen kümmern. Ist es okay für dich, wenn wir uns in Wien treffen?«

Morell, der sich nur mit Grauen an die Fahrkünste der Gerichtsmedizinerin und an die beengten Verhältnisse in ihrem kleinen Ford erinnerte, nickte. »Kein Problem. Ich werde den ersten Zug morgen früh nehmen.«

»Du bist der Beste! Dann bis morgen. Richte Valerie schöne Grüße von mir aus. Ich hoffe, sie weiß, was sie an dir hat«, sagte Capelli hörbar erleichtert und legte auf.

»Anscheinend nicht«, murmelte Morell und schob sich ein großes Stück Schokolade in den Mund.

 

»Robert, ich muss kurz mit dir reden.« Morell hatte seinen Bauch zurück in die Hose gequetscht und war ins Vorzimmer gegangen, wo Bender heimlich vom konfiszierten Marmorkuchen naschte. »Ich müsste mal für ein paar Tage verreisen.«

Ein Lächeln trat auf das Gesicht des jungen Inspektors. Morell kam endlich aus seinem Loch gekrochen und ging wieder unter Leute. Anscheinend wirkte das Johanniskraut doch. »Das ist ja super! Wohin geht die Reise denn?«

»Ich muss nach Wien, um Lorentz aus der Patsche zu helfen. Glaubst du, dass du hier ein paar Tage ohne mich klarkommst?«

Bender nickte euphorisch. Endlich würde er zeigen können, was in ihm steckte. »Natürlich, Chef. Mit dem entlaufenen Hund von Frau Hämmerle und dem gestohlenen Blumentopf von Frau Schubert komme ich schon allein zurecht.«

»Äh, da wäre allerdings noch etwas«, druckste Morell herum. »Würdest du dir auch zutrauen, während dieser Zeit nach Fred und meinen Pflanzen zu sehen?«

»Aber klar doch, Chef. Kein Problem.« Bender hätte in diesem Moment alles zugesagt, nur um seinen Vorgesetzten loszuwerden.

»Gut, dann fahre ich jetzt heim, um alles für die Reise vorzubereiten. Es wäre prima, wenn du am Abend bei mir zu Hause vorbeikommen könntest, damit ich dir alles genau erklären kann.«

 

Eigentlich war es von der Inspektion zu Morells Haus nur ein kurzer Fußmarsch von ungefähr fünf Minuten, doch der Chefinspektor hatte die schlechte Angewohnheit, auch kürzeste Strecken mit dem Auto zu fahren. Er nahm sich schon seit Jahren fest vor, den Wagen gegen ein Fahrrad zu tauschen, aber bisher war es bei den guten Vorsätzen geblieben.

Morell kurbelte die Fensterscheibe ein wenig nach unten und ließ sich die kühle Luft um die Nase wehen. Er mochte den Herbst. Er verband ihn mit raschelndem Laub, Kürbiscremesuppe, gebratenen Maiskolben und Rotkraut. Die Jahreszeit war wunderschön hier auf dem Land. Am Morgen glitzerte der Tau in den Spinnweben, die wie Fäden aus purem Silber glänzten, der Ausblick auf die majestätischen Berge war so klar wie selten, die üppigen Wälder färbten sich bunt, und auf Wiesen und in Gärten erstrahlten Herbstanemonen, Dahlien und Astern in voller Pracht. Hier konnte man so richtig die Seele baumeln lassen – ganz im Gegensatz zu Wien. Dort war es laut, grau und dreckig, und die Luft stank nach menschlichen Ausdünstungen und Abgasen.

Aber es war nicht nur die Stadt, die Morell damals aufs Gemüt geschlagen war. Der anstrengende Alltag, die Gewaltverbrechen und all die anderen schrecklichen Dinge, mit denen er als Kriminalbeamter ständig zu tun hatte, waren zu hart für ihn gewesen. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er daher beschlossen, die Karriere an den Nagel zu hängen, das große, zweistöckige Haus mit der strahlend weißen Fassade und den Blumenkästen vor den Fenstern zu übernehmen und in seinem Heimatdorf Landau ein gemütliches Beamtendasein zu führen.

Er liebte diese kleine, heile Welt. Natürlich gab es auch hier manchmal Ärger, aber der beschränkte sich auf Kneipenschlägereien oder Verkehrsdelikte. Die Mordserie, die ganz Landau im letzten Winter erschüttert hatte, war zum Glück nur eine furchtbare Ausnahme gewesen. Sie hatte ihn und sein Leben für einige Zeit ins absolute Chaos gestürzt, und es hatte lange gedauert, bis endlich wieder Ruhe eingekehrt war. Morell seufzte. Er vermisste diesen Frieden jetzt schon.

 

Wie versprochen kam Bender abends bei Morell vorbei, um sich in die hohe Kunst der Katzen- und Blumenpflege einweihen zu lassen. Der junge Inspektor war sich durchaus im Klaren gewesen, dass sein Vorgesetzter ein Pflanzenfanatiker war, aber womit er nun konfrontiert wurde, damit hatte er nicht gerechnet. Überall im Haus gab es Blumen, Palmen, kleine Bäume, Stauden und anderes Grünzeug. Und das war längst nicht alles – Morell war stolzer Besitzer eines riesigen Gartens und eines Gewächshauses. Und als wäre das nicht alles schon Arbeit genug, benötigte anscheinend jede Pflanze eine andere Art von Pflege.

»Das hier sind meine Orangenbäumchen. Bitte achte darauf, dass ihre Erde immer ein bisschen feucht ist, aber bitte nimm kein Wasser aus der Leitung, das ist zu kalkhaltig. Der Zimmerahorn muss reichlich gegossen und die Jacobinien alle paar Tage mal gedüngt werden«, erklärte Morell dem völlig überforderten Bender. »Ach, und du müsstest auch unbedingt regelmäßig die Blätter kontrollieren und sie bei Bedarf abstauben. Die Pflanzen hassen es nämlich, dreckig zu sein.«

Bender starrte seinen Vorgesetzten fassungslos an. Das mussten Zigtausende Blätter sein. Wie zur Hölle sollte er jedes einzelne davon kontrollieren und saubermachen? Und wie sollte er sich all die verschiedenen Pflegeanleitungen merken? Vor seinem inneren Auge sah er bereits, wie sämtliche Lieblinge des Chefinspektors dem Ficus aus dem Büro in den Pflanzenhimmel folgten.

»Oh, schau mal, wer da kommt«, rief Morell. Fred, der, was das Übergewicht anging, ganz nach seinem Besitzer kam, schnupperte neugierig an den Hosenbeinen des Besuchers. Morell hob das getigerte Schwergewicht hoch und streichelte es, bis es zu schnurren anfing. »Fred bekommt dreimal täglich was zu fressen. Katzenfutter steht im Regal.« Der Chefinspektor setzte sein Haustier wieder auf den Boden. »Einmal täglich muss das Katzenklo gemacht werden, da ist er sehr heikel, und wenn möglich solltest du auch regelmäßig mit ihm spielen und dich ein bisschen mit ihm unterhalten. Ich befürchte, dass er auf meine Abwesenheit sonst ungut reagieren könnte.«

Bender nickte und fragte sich, wie Morell überhaupt noch Zeit für die Polizeiarbeit fand. »Ist gut. Machen Sie sich keine Sorgen. Das kriege ich schon hin.« Er war zwar von seinen Worten alles andere als überzeugt, doch die Tatsache, dass sein Chef ein wenig abgelenkt wurde und den Liebeskummer endlich überwand, war vorrangig. Bender nahm also den Schlüssel zu Morells Reich entgegen und wünschte seinem Chef eine gute Reise.