»Was die Welt betrifft, so ist sie ein Grab und weiter nichts.«
Alexandre Dumas, Die drei Musketiere
Morell hatte in der Zwischenzeit nicht ganz so viel Erfolg wie sein Assistent: Im Gefängnis herrschte momentan keine Besuchszeit, und der zuständige Beamte wollte sich um nichts in der Welt erweichen lassen.
»Es ist gerade keine Besuchszeit, und damit aus.«
»Es ist aber dringend.« Morell war nicht bereit, so schnell aufzugeben.
»Das Leben ist kein Wunschkonzert«, stellte der Justizvollzugsbeamte trocken fest und wandte sich wieder irgendwelchen Unterlagen zu.
»Ich muss Herrn Lorentz wirklich unbedingt sprechen.«
»Sind Sie sein Anwalt oder was?«
Morell überlegte, wie viel er preisgeben sollte. »Nein, ich bin kein Anwalt, ich bin …«
Der Justizvollzugsbeamte sah Morell fragend an. »Ich höre«, sagte er.
Morell entschied, alle Ängste und Zweifel beiseitezuwischen. Weber war so oder so schon drauf und dran, ihm seine Marke abzunehmen. Was hatte er also zu verlieren? »Ich bin Polizist. Zwar in zivil, aber nichtsdestotrotz ein Polizeibeamter.« Er zeigte dem Beamten seine Marke. »Ich verstehe, dass Sie sich an die Vorschriften halten müssen, aber könnten Sie nicht vielleicht eine klitzekleine Ausnahme machen?« Morell holte tief Luft. »Bitte«, fügte er hinzu.
»Chefinspektor Otto Morell?« Der Beamte schaute sich die Marke an und pfiff durch die Zähne. »Von Ihnen habe ich bereits gehört.«
O nein!, schoss es Morell durch den Kopf. Weber war also schneller gewesen und hatte bereits alle Stellen vor ihm gewarnt. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper mit einer dünnen Schicht aus kaltem Schweiß überzog.
»Sie sind der, der letztes Jahr den Serienkiller in Tirol gefasst hat, nicht wahr?«
Morell nickte etwas verunsichert.
Der Beamte lachte und streckte Morell seine Hand entgegen. »Das habe ich in der Zeitung gelesen. Top Job! Gut gemacht!«
Morell schüttelte die Hand des Beamten. Er war einerseits erleichtert, aber gleichzeitig auch peinlich berührt. Verlegen kratzte er sich am Kopf.
»Wissen Sie was?«, flüsterte der Beamte und blickte verstohlen um sich. »Ich kann Sie zwar nicht zum Herrn Lorentz reinlassen, das wär’ zu auffällig – aber weil Sie’s sind, kann ich dem Herrn Lorentz vielleicht eine Nachricht zukommen lassen.« Er schob Morell unauffällig ein Blatt Papier zu und zwinkerte.
»Tausend Dank!« Morell griff nach dem Papier, zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und schrieb eine Nachricht mit den wichtigsten Informationen an Lorentz. Dann faltete er das Blatt, legte eine Kopie der Listen von Uhl dazu und reichte sie dem Beamten. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Vielen Dank noch mal.«
»Schon gut«, nickte der Mann. »Ich drücke Ihnen die Daumen für Ihre Ermittlungen. Wiederschaun.«
Als Morell auf die Straße trat, schaute er auf die Uhr: Nicht einmal sechs, und es fing bereits an zu dämmern. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zu – mittlerweile war es ganz schön kühl geworden, und damit nicht genug: Ein fieser Wind blies beißend durch die Gasse. Irgendwie typisch wienerisch, fand Morell.
Er stellte seinen Kragen hoch und überlegte, was er als Nächstes unternehmen sollte. Sollte er zu Uhl gehen, obwohl er noch nicht wusste, was die Listen bedeuteten? Oder war es besser, damit zu warten, bis er die Möglichkeit gehabt hatte, mit Lorentz zu reden?
Seine Überlegungen wurden von Benders Anruf unterbrochen.
»Hallo, Chef, ich bin es. Gut, dass ich Sie erwische. Ich habe nämlich herausgefunden, wo Gustaf Harr steckt.«
Morell war mit einem Schlag aufmerksam. »Schieß los!«
»Sie werden nicht begeistert sein«, fing Bender an und erzählte Morell alles, was er von Nagy erfahren hatte.
Morell lauschte andächtig den Ausführungen seines Assistenten. »Harr ist damals also einfach nicht mehr zurück nach Wien gereist, und seither weiß niemand, wo er abgeblieben ist?«, fasste er zusammen, als Bender fertig war.
»Genau.«
»Das kommt mir ziemlich komisch vor. Hat Nagy gesagt, wie das Dorf hieß, in das Harr gezogen ist?«
Bender verneinte. »Soll ich ihn noch mal anrufen und fragen? Oder soll ich bei Google Earth nachschauen, wie die Dörfer da in dieser Gegend heißen?«
»Nein, schon gut. Ich habe eh noch ein Hühnchen mit Uhl zu rupfen. Da kann ich ihn gleich nach Harr und dessen Aufenthaltsort befragen. Gute Arbeit, Robert.«
»Danke«, sagte Bender stolz.
»Wie geht es denn Fred und den Pflanzen?«
»Alles bestens. Servus, Chef.«
Noch bevor Morell weiter nachfragen konnte, hatte Bender bereits aufgelegt.
»Komisch«, murmelte Morell und meinte damit sowohl die Geschichte mit Harr als auch das übereilte Abwürgen des Gesprächs durch Bender.
Der Wiener Wind unternahm einen neuen Versuch, die Kleidung des Landauer Chefinspektors zu durchdringen, was diesem eine geharnischte Schimpftirade entlockte. Er beschloss, jetzt gleich zu Uhl zu gehen, ohne Lorentz’ Meinung über die geheimnisvollen Listen zu kennen. Er wollte nicht mehr länger warten.
Die Sonne war mittlerweile vollständig untergegangen, als Morell in der Blutgasse ankam. Mit entschlossenem Schritt durchquerte er den Durchgang zu dem kleinen Innenhof, blickte nach oben und scannte die Fenster im ersten Stock. Uhls Wohnung befand sich über seinem Geschäft – wenn er also daheim war, dann musste irgendwo Licht brennen.
Doch sowohl im Laden als auch in der darüberliegenden Wohnung war alles finster. Was sollte er jetzt tun? Einerseits wollte er so schnell wie möglich ein paar Antworten, andererseits hatte er keine Lust, sich hier in dem düsteren, kalten Innenhof die Beine in den Bauch zu stehen und darauf zu warten, dass Uhl irgendwann wiederkam. Er überlegte gerade und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen, als sein Blick an einem kleinen Schimmer im Laden hängenblieb. War das eine Reflexion, oder brannte da wirklich irgendwo Licht?
Morell ging so dicht wie möglich an das Schaufenster heran und spähte durch die Kruzifixe und Rosenkränze in das Innere des Ladens. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Im hinteren Teil des Verkaufsraums war ein gedämpfter Lichtstrahl zu sehen. Er beugte sich so weit nach vorn, dass seine Nase das kalte, leicht feuchte Glas der Auslage berührte. Das musste die Tür sein, hinter der sich Uhls Lager befand. Crazy Willie war also doch nicht ausgeflogen, sondern werkelte in seinem Hinterzimmer herum.
Da die Ladentür verschlossen war, drückte Morell auf die Klingel, doch es folgte, wie auch vorhin schon bei Meinrad, keine Reaktion.
»Ich weiß, dass du da bist«, murmelte er, und weil er sich nicht so einfach geschlagen geben wollte, beschloss er, einmal um das Haus herumzugehen – vielleicht gab es ja noch irgendwo ein Fenster, durch das er einen Blick in das Lager werfen konnte.
Just in dem Moment, als er zurück in die Blutgasse bog, hörte er das Bimmeln von Uhls Ladentür. Er drehte wieder um und lief in den dunklen Durchgang, der den Innenhof mit der Straße verband.
»Die Luft ist rein«, hörte er Uhl sagen und hielt inne. Crazy Willie war also nicht allein. »Das waren sicher wieder die Nachbarskinder, diese verflixten Blagen. Die finden es lustig, das dumme, alte Klingelstreichspiel zu spielen.«
Vorsichtig machte Morell einen Schritt zur Seite und presste sich an die Wand. Er wollte sehen, wer Uhls Besucher war, und vielleicht, wenn er Glück hatte, konnte er noch ein paar Gesprächsfetzen belauschen.
»Dann ist ja alles klar.« Die Stimme kam Morell bekannt vor. Das war doch wohl nicht etwa …? Nein, das konnte nicht sein!
»Du hast die Liste?«, fragte Uhl.
»Ja, ich habe alles.« Der zweite Mann machte einen Schritt nach vorn und stand nun genau in Morells Blickfeld.
Morell merkte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er bei Uhl auf Stimpfl, Nagy oder sogar Zuckermann gestoßen wäre – aber Payer? Er hatte dem kauzigen Kerl vertraut. War das etwa ein Fehler gewesen? Reflexartig griff er an seinen Bauch. Normalerweise konnte er seinem Bauchgefühl doch immer trauen. Hatte die Diät etwa sein Urteilsvermögen getrübt?
»Kannst du mir die Sachen bitte so schnell wie möglich vorbeibringen? Der Kunde wartet nämlich schon ungeduldig«, sagte Uhl.
»Kein Problem, das kriege ich locker hin. Was für ein Glück, dass ich immer noch ein paar Schlüssel aus meiner Zeit bei der Stadtarchäologie habe.« Payer ließ sein typisches Weihnachtsmannlachen erklingen. »Die ersten beiden hole ich gleich jetzt und bring sie dir heute noch oder morgen vorbei. Den Rest kriegst du je nachdem, wie schnell ich fündig werde, wahrscheinlich Dienstag.«
»Super! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Uhl klopfte Payer auf die Schulter. »Das Geld kriegst du dann auch gleich.«
»Passt.« Payer lachte erneut laut auf. »Dann bis bald.«
Morell machte vorsichtig ein paar Schritte zurück auf die Straße und huschte in den nächsten Hauseingang. Wovon hatten die beiden nur geredet? Und was sollte er jetzt tun? Er musste sich entscheiden: Sollte er Payer verfolgen und versuchen herauszufinden, welche zwei Dinge er holen ging, oder sollte er lieber hierbleiben und Uhl mit den Listen aus Stimpfls Schachtel konfrontieren? Er entschied sich für Ersteres. Uhl konnte er später immer noch befragen.
Morell beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Payer aus dem Innenhof geschlendert kam und anschließend in nördlicher Richtung die Blutgasse entlangspazierte. Er wartete, bis der Abstand zwischen ihm und Payer groß genug war, und nahm dann die Verfolgung auf. »Ernst Payer«, murmelte er. »Dir hätte ich es am allerwenigsten zugetraut.«
Payer bog erst links in die Domgasse und anschließend in die Schulergasse ein und steuerte dann direkt auf den Stephansdom zu. Morell erwartete, dass er sich hier ein Taxi nehmen, runter in die U-Bahn gehen oder an der Bushaltestelle warten würde, doch der schrullige Archäologe tat nichts dergleichen. Er blieb neben dem Nordturm stehen, zog aus seiner Hosentasche einen Schlüssel, eine Taschenlampe und eine Plastiktüte und ging zur Nordwand des mächtigen gotischen Doms. Dort schaute er kurz nach links und rechts, sperrte dann eine unscheinbare Gittertür auf und verschwand dahinter.
Morell folgte ihm. Die Tür bestand aus dicken Metallstäben und gab den Blick auf eine eiserne Falltür frei. Dahinter befand sich ein riesiges Kreuz, unter dem eine Inschrift stand. Er versuchte, in dem diffusen Licht die Buchstaben zu entziffern: An dieser Stätte wurde des unsterblichen W. A. Mozart Leichnam am 6. Dez. 1791 ausgesegnet. »Nichts als Tote«, stellte er fest, drückte behutsam die Klinke nach unten und übte sanften Druck auf das Gitter aus, das sich tatsächlich öffnete. Was für ein Glück, dass Payer es nicht wieder abgesperrt hatte. Morell trat nach innen, hob einen Flügel der Falltür hoch und konnte die Umrisse einer Stiege ausmachen, die steil in die Tiefe führte. Was zum Teufel war dort unten? Eine unterirdische Kapelle? Eine archäologische Ausgrabungsstätte? Ein alter Geheimgang?
Er stieg vorsichtig die ersten paar Stufen nach unten und stand bald in tiefschwarzer Dunkelheit. Nicht einmal die Hand vor Augen konnte er sehen. Vorsichtig schob er einen Fuß vor den nächsten und gelangte so, völlig blind, Stufe für Stufe ans untere Ende der Treppe. Wo um Gottes willen befand er sich nur? Es roch muffig hier. Ungelüftet und modrig. Er tastete sich an der Wand entlang und stellte fest, dass sie sehr wahrscheinlich aus unverputzten Ziegelsteinen bestand. Sie fühlte sich kalt und feucht an und brachte ihn zum Schaudern. Morell konnte gar nicht glauben, dass er sich unter dem Stephansdom befand – es kam ihm hier eher vor wie mitten im Prater, und zwar direkt in der Geisterbahn.
Er ging noch ein paar unsichere Schritte, blieb dann stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Er konnte Payer weder hören noch den Schein der Taschenlampe sehen. Crazy Ernstl war also offenbar außer Sichtweite. Er holte sein Handy aus der Jacke, klappte es auf und ließ das kühle, bläuliche Licht, das das Display ausstrahlte, langsam über den Fußboden und die Wände wandern: Er befand sich in einem schmalen Tunnel, dessen Wände aus rotbraunen Backsteinen und dessen schroffer Boden aus gestampftem Lehm bestand. Wo dieser Tunnel wohl hinführte? Morell ging ein paar Schritte weiter, indem er die Umgebung mit Hilfe seines Handys ableuchtete – und erstarrte.
Er konnte zwar nicht viel sehen, aber das Wenige reichte völlig aus, um ihm alle Haare zu Berge stehen zu lassen: Direkt links von ihm befand sich ein riesiger Haufen menschlicher Knochen. Morell klappte sein Handy zu und dann wieder auf, um das Display erneut zum Leuchten zu bringen, und hielt mit seiner mickrigen Lichtquelle noch einmal auf die Gebeine. Das mussten Hunderte von Skeletten sein, die hier wild durcheinander herumlagen. Er machte einen kleinen Schritt auf den grausigen Berg zu und zwinkerte. Nein, es war kein Traum und auch keine dumme Verwechslung. Direkt vor ihm lagen unzählige gelblich braune Knochen.
»Ach du Schande!« Morell versuchte seine Fassung wiederzuerlangen. »Kein Gejammer, keine Schwäche«, sagte er leise und holte mehrmals tief Luft, als ihm plötzlich einfiel, wo er war – und zwar mitten in den Wiener Katakomben. Er hatte bereits davon gehört: Wie ein Labyrinth erstreckten sich diese Tunnel und Kammern bis hin unter den Stephansplatz. Irgendwo hier drinnen lagen die Eingeweide der Habsburger, mehrere einbalsamierte Bischöfe und die Überreste von Tausenden von Pesttoten. Reflexartig hielt Morell sich die Hand vor die Nase und den Mund.
Er erinnerte sich, dass ihn vor vielen Jahren ein paar seiner Freunde zu einer geführten Tour durch die Katakomben hatten überreden wollen – doch er hatte abgelehnt. Er hatte es nicht nur pietätlos, sondern auch viel zu gruselig gefunden, sich auf einem unterirdischen Friedhof herumzutreiben. Und jetzt stand er hier: Allein. Im Dunkeln. Und irgendwo in diesem schauderhaften Labyrinth lief ein Mann herum, der möglicherweise ein Mörder war.
Morell beschloss umzukehren. Noch länger hier zu bleiben war einfach zu gefährlich. Niemand wusste, wo er war, und er konnte sich leicht verirren oder stolpern und in irgendeinen Schacht oder ein Loch fallen. Zudem waren die Gänge irrsinnig schmal – wenn er also auf Payer stieß, hatte er keine Möglichkeit, sich zu verstecken oder auszuweichen.
Er tastete sich rückwärts bis zu der Stiege, ging hoch und schlüpfte wieder zur Tür hinaus. Draußen angekommen, nahm er einen tiefen Atemzug frischer Luft und stellte sich dann vis-à-vis vom Nordturm an die Bushaltestelle. Dort wartete er darauf, dass Payer wieder zurückkam.
Und tatsächlich – nur kurze Zeit später öffnete sich die unscheinbare Tür einen kleinen Spalt breit, und Payer schlüpfte heraus. In seiner Hand hielt er die Plastiktüte, die jetzt eindeutig nicht mehr leer war. Der Archäologe schaute unauffällig nach rechts und links und spazierte dann, so als wäre nichts geschehen, wieder zurück in Richtung Blutgasse. Morell ließ ihm etwas Vorsprung und folgte ihm dann so diskret wie möglich.
Payer marschierte schnurstracks zurück zu Uhl, klopfte dort an die Tür und wurde prompt eingelassen. Nur wenige Augenblicke später gingen sämtliche Lichter im Geschäft aus, und es war nur der blasse, kleine Schimmer aus dem Lager zu sehen.
»Wartet nur ab, ihr zwei komischen Vögel«, sagte Morell leise. »Ich werde euch schon noch auf die Schliche kommen.« Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch, steckte die Hände in die Taschen und machte sich auf den Weg zurück zu Nina Capelli.