»Leben heißt kämpfen.

Ruhe wirst du im Grab haben.«

Lucius Annaeus Seneca

Nina Capelli ließ ihren Blick noch einmal durch die Wohnung wandern, aus der sie in weniger als 24 Stunden ausziehen würde. Sie hatte bereits gestern ihre gesamte Habe zusammengepackt und ihr komplettes Zuhause in ein mannshohes Labyrinth aus penibel zugeklebten, braunen Kartons verwandelt. Morgen früh würde der Umzugswagen kommen und ihr sorgfältig verstautes Leben nach Wien bringen.

Es war erstaunlich, wie riesig die 50-Quadratmeter-Garçonnière ohne Inventar plötzlich wirkte und wie viele längst verloren geglaubte Dinge beim Abbauen der Schränke und Bücherregale wieder aufgetaucht waren: die Bedienungsanleitung für den DVD-Player, ihr Reisepass, den sie schon seit Ewigkeiten suchte, und ein Strass-Ohrring, dessen einsamen Partner sie längst weggeworfen hatte.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht wehmütig zu werden, spürte Capelli bei dem Gedanken an ihren bevorstehenden Umzug ein leichtes Stechen im Herzen. »Jetzt nur nicht schon wieder gefühlsduselig werden«, sagte sie leise zu sich selbst und ärgerte sich, dass das Medikamentenschränkchen bereits weggepackt war. Gestern Abend hatte sie nämlich im großen Stil Abschied gefeiert und sich dabei ein paar bunte Drinks zu viel genehmigt – sie brauchte dringend ein Aspirin.

Sie fasste sich an ihren schmerzenden Schädel und seufzte. Es war ein großer Schritt, Innsbruck und ihre Freunde zurückzulassen, und auch was den Job anbelangte, plagten sie noch Zweifel. Sie hatte zwar Glück gehabt und eine Anstellung als Assistenzärztin am Department für Gerichtsmedizin in Wien bekommen, war sich aber nicht sicher, ob das Betriebsklima und die Kollegen dort genauso toll waren wie hier. Sie streichelte über die Fotocollage, die ihre beste Freundin als Andenken gebastelt hatte, und spürte Tränen aufsteigen.

»Aus jetzt!« Capelli beschloss, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Im Grunde freute sie sich sehr auf das, was vor ihr lag. Wien war eine tolle Stadt und Leander ein toller Kerl. Er war nicht nur attraktiv und intelligent, sondern hatte auch überhaupt kein Problem mit ihrer Arbeit. Die wenigsten Männer konnten sich vorstellen, eine romantische Beziehung mit einer Frau zu unterhalten, die hauptberuflich tote Menschen aufschnitt. Capelli hatte bereits befürchtet, für immer Single bleiben zu müssen, doch dann war Lorentz in ihr Leben getreten. Der fesche Archäologe hatte keinerlei Scheu vor ihrem Beruf – ganz im Gegenteil: Er nahm die Tatsache, dass seine Freundin regelmäßig in den Innereien von Leichen herumwühlte, mit Humor. Vor ein paar Wochen erst hatte er ihr einen Anhänger in Form eines Gehirns geschenkt, da sie ständig ihren Autoschlüssel verlegte. Apropos Autoschlüssel – wo war der denn schon wieder? Capelli stand auf, kramte in ihrer Tasche herum und schaute auf der Fensterbank nach – nichts. Wann hatte sie ihn denn das letzte Mal in der Hand gehabt? Das musste gestern Mittag gewesen sein. Sie suchte weiter. In ihrer Jacke war er nicht, und auf der Ablage neben der Garderobe lag nur ihr Handy. Sie kratzte sich am Kopf und sah sich noch einmal um, als plötzlich eine böse Ahnung in ihr verkatertes Hirn sickerte. Er war doch nicht versehentlich in eine der Kisten gerutscht?

Capelli starrte auf die Unmengen von braunen Kartons und fluchte. So wie es aussah, musste sie die Arbeit des gestrigen Tags zerstören und sich durch unendlich viele Schichten Klebeband und Tonnen von Bläschenfolie kämpfen, um es herauszufinden. Sie seufzte, griff nach einer Schere und machte sich daran, den ersten Karton zu öffnen, als ihr Handy klingelte.

»Hallo, Leander«, sagte sie, nachdem sie auf das Display geschaut hatte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was mir schon wieder passiert ist. Es ist sooo ärgerlich! Jetzt hast du mir extra den Anhänger für meinen Autoschlüssel geschenkt, und nun habe ich trotzdem …«

»Entschuldige, Nina, aber ich habe jetzt leider überhaupt keine Zeit für deinen Schlüssel. Die Polizei ist hier, und ich fürchte, dass ich bis zum Hals in Schwierigkeiten stecke.« Lorentz’ Stimme klang belegt und zitterte.

»O Gott, Schatz, was hast du denn bloß angestellt?« Capelli ließ die Schere sinken und setzte sich auf eine der Kisten.

»Die denken, dass ich jemanden umgebracht habe, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Nina schnappte nach Luft.

»Nina? Bist du noch dran?«

»Die denken, dass du jemanden umgebracht hast?!« Die Stimme der Gerichtsmedizinerin war gerade um eine Oktave höher geworden. »Aber um Himmels willen, wen sollst du denn … die Horsky?!«

»Nein, Professor Novak wurde umgebracht, und jetzt wollen die mir den Mord in die Schuhe schieben.«

»Aber du bist doch wirklich nicht der Einzige, der mit Novak gestritten hat.«

»Nein, aber …« Lorentz senkte seine Stimme. »Ich habe dir doch erzählt, dass Novak meine Unterlagen und ein paar wichtige Proben geklaut hatte … na ja … das wollte ich mir natürlich nicht gefallen lassen. Also bin ich gestern Abend in sein Büro eingebrochen und habe sie mir zurückgeholt. Und dabei bin ich anscheinend beobachtet worden.«

»Leander!«

»Ja, ich weiß, das war dumm von mir.«

»Dumm ist gar kein Ausdruck! Du brauchst jetzt sofort einen Anwalt.«

»Ich kenn’ doch gar keinen Anwalt«, flüsterte Lorentz verzweifelt. »Bitte, Nina, kannst du das für mich in die Hand nehmen?«

»Natürlich, du kannst dich auf mich verlassen.«

Nachdem Capelli aufgelegt hatte, rückte sie ihre Brille zurecht und starrte das Handy an. Ihr Freund wurde verdächtigt, einen Kollegen ermordet zu haben – das durfte ja wohl nicht wahr sein! Er brauchte jetzt dringend ihre Hilfe. Einen guten Anwalt in Wien würde sie schon auftreiben, da würde sie ihre Beziehungen spielen lassen. Aber reichte das aus? Was konnte sie noch tun? Gedanken explodierten in ihrem Kopf, sausten ungebremst hin und her und verursachten ein riesiges Durcheinander.

Minutenlang saß sie nur da und grübelte. Dann kam ihr eine Idee. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und griff erneut nach dem Handy.