»Ich glaube, es ist unmöglich,

das Entzücken und die Wonne eines Menschen,

der sozusagen unmittelbar dem Grabe entronnen ist,

zu schildern.«

Daniel Defoe, Robinson Crusoe

An der Wohnungstür von Nina Capelli klingelte es drei-, vier-, fünfmal aufgeregt hintereinander: Lorentz war aus dem Gefängnis entlassen worden und stand nun mit Champagner und Kuchen vor der Tür.

»Ihr seid die Besten«, rief er und fiel erst Capelli und dann Morell um den Hals. »Lasst uns anstoßen!«

Zur Feier des Tages gönnte Morell sich ein großes Stück Sachertorte mit Schlagsahne. »Ist das gut«, schwärmte er, während er sich die Schokokouvertüre auf der Zunge zergehen ließ.

»Das kannst du laut sagen.« Lorentz nahm sich ein zweites Stück. »Der Knastfraß, den ich in den letzten Tagen vorgesetzt bekommen habe, war ein echter Albtraum. Von dem harten Bett und den gemeinen Weck- und Schlafenszeiten gar nicht erst zu reden. Viel länger hätte ich es da drinnen nicht mehr ausgehalten, ohne durchzudrehen.« Er nippte am Champagner und schloss die Augen. »Moritz Langthaler. Nie im Leben hätte ich ihm das zugetraut.«

Morell liebäugelte mit einem weiteren Stück von der traumhaft guten Sachertorte, entschied sich dann aber dagegen. »So ist das eben«, sagte er. »Es sind meistens die Menschen, von denen man es am wenigsten denkt: der unscheinbare Nachbar, die blasse Kassiererin oder der schüchterne Arbeitskollege.«

Lorentz streckte sich. »Und von denen gibt es in einer Großstadt jede Menge.«

Morell nickte. »Da lob ich mir das Leben auf dem Land. Dort gibt es nicht so viele Menschen auf engem Raum. Apropos – ich muss dann langsam los. Mein Zug fährt bald.«

»Ach nein«, rief Capelli. »Bleib doch noch. Wir müssen Leander doch erzählen, was alles passiert ist.«

»Das kannst du auch gut alleine, Nina«, sagte Morell zwinkernd und stand auf. Er wollte die Zweisamkeit des Paares nicht länger stören als nötig. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe das Gefühl, dass Bender allein in Landau etwas überfordert ist. Ich sollte dringend nach Hause fahren und nach dem Rechten sehen.«

»Na gut.« Lorentz trank den Rest seines Champagners aus. »Dann lass uns dich aber wenigstens zum Bahnhof bringen.«

»Da sage ich nicht nein.« Morell ging ins Gästezimmer und packte seine Sachen zusammen. »So«, sagte er, als er fertig war. »Landau, ich komme!«

 

Der Chefinspektor saß allein in einem Abteil und lauschte dem monotonen Rattern des Zuges. Nur noch wenige Minuten, dann würde er endlich wieder in seinem geliebten Landau ankommen. Er dachte an die vergangenen Tage zurück: Was für eine Woche. So viel Action und Aufregung erlebte er daheim normalerweise in einem ganzen Jahr nicht. Er tätschelte seinen Bauch und freute sich auf die ruhige und entspannte Zeit, die nun hoffentlich wieder anbrechen würde. Wenn Wojnar tatsächlich dichthalten und sich nicht bei Weber verplappern würde, hätte sein kleiner Ausflug nach Wien kein Nachspiel, und er konnte sich ab sofort wieder aus vollem Herzen den kleinen Wehwehchen der Landauer Einwohner widmen.

»Home sweet home«, sagte er, als er endlich aus dem Zug stieg. Er war einfach kein Großstadtmensch, sondern ein waschechtes Landei. Er nahm einen tiefen Atemzug – die Luft in Landau war frisch und sauber und duftete nach Herbstlaub und Alpenkräutern. Sofort spürte er, wie ihm das Herz aufging und er sich mit jeder Sekunde wohler und wohler fühlte. Hier war er daheim. Hier gehörte er hin.

Die unbeschwerte Stimmung, die in Landau herrschte, sowie die Vorfreude auf Fred und die Pflanzen übertünchten sogar die schmerzhafte Erinnerung an Valerie.

»Ab nach Hause«, sagte er, schnappte seinen Koffer und machte sich auf den Weg.