»Großer Männer Grab ist die ganze Erde.«
Perikles
Der Sommer ging zu Ende. Langsam, aber sicher zog er sich zurück, um das Feld für den Herbst zu räumen, der bereits vor der Tür stand und ungeduldig auf seinen Einsatz wartete. Schon jetzt wurden die Tage stetig kürzer und die Röcke der Mädchen immer länger. Bald würden die Blätter von den Bäumen fallen, beißend kalter Wind durch jede noch so kleine Ritze kriechen und dichter Nebel sich Tag für Tag auf die Menschen senken.
Überall sonst in der Welt würde nun die trostloseste Zeit des Jahres anbrechen, aber das galt nicht für Wien – im Gegenteil: Die Donaumetropole brauchte das trübe Wetter und den Verfall der Natur, um ihren ganzen Charme voll zur Geltung zu bringen und in der erhabenen Morbidität zu erstrahlen, für die sie so bekannt war. Keine andere Stadt konnte so wunderbar trübsinnig und so herrlich melancholisch sein, an keinem anderen Ort hatte der Tod so viele Namen, und nirgends sonst wurde dem Sterben so sehr gehuldigt wie hier in der alten Kaiserresidenz.
Morgens war es mittlerweile so frisch, dass man etwas Warmes anziehen musste, um sich keine Erkältung einzufangen. Mirko Berger schnappte sich deshalb eine Jacke, als er in der Früh das Haus verließ und in Richtung Universität fuhr, wo er sich auf eine anstehende Prüfung vorbereiten wollte. Noch waren Ferien, und das majestätische Gebäude an der Wiener Ringstraße war deshalb so gut wie menschenleer – perfekt also, um dort ungestört zu lernen.
Er kaufte sich einen Becher heißen Kaffee und fuhr dann mit der ›Bim‹, wie die Wiener liebevoll die Straßenbahn nannten, zur Uni. Dort angelangt, durchschritt er das imposante Tor, das den Einlass in das Reich von Forschung und Lehre darstellte, und betrat die große Aula. Mirko schloss die Augen und atmete tief ein. Er mochte den Geruch der Universität. Hier roch es immer ein wenig nach Putzmitteln und, trotz des strikten Rauchverbots, nach Zigarettenqualm. Vor allem aber duftete es hier nach Büchern: Nach Druckerschwärze und Tausende Male umgeblättertem Papier. Das war der Geschmack von Wissen und jahrhundertealten Geheimnissen. Das herbe Aroma von Geschichte und verborgenen Schätzen.
Er setzte sich in den Arkadenhof, der von rund 150 Büsten berühmter Wissenschaftler gesäumt wurde, und holte seine Skripten aus dem Rucksack, als ihn eine plötzliche Unruhe überkam. Nur noch fünf Wochen bis zu seiner Prüfung über die Heldendichtung im deutschen Mittelalter. Er musste unbedingt bestehen.
Schuldbewusst schielte der junge Student auf den großen Bücherstapel neben sich, und sofort schossen ihm ein paar altbekannte Gedanken durch den Kopf: Hätte ich doch nur früher mit dem Lernen begonnen! Hätte ich doch nur im Seminar besser aufgepasst! Normalerweise hatte er keine Angst vor Klausuren, aber dieses Mal ließ allein der Gedanke daran seine Hände feucht werden.
Nach kurzer Überlegung beschloss Mirko, die Büste von Rudolf Much aufzusuchen. Ein paar seiner Kommilitonen hatten den Germanisten als eine Art Schutzheiligen auserwählt und es sich zur Angewohnheit gemacht, vor schwierigen Prüfungen dreimal über dessen Bart zu streichen. Mirko war nicht abergläubisch und glaubte nicht an einen solchen Quatsch, aber heute war definitiv so ein Tag, um es wenigstens einmal auszuprobieren.
Er ging also durch die Arkaden, vorbei an so illustren Größen wie Anton Bruckner und Sigmund Freud, als ihm plötzlich auffiel, dass hier irgendetwas anders war als sonst. Im hinteren Teil des Hofs hatte jemand eine der Büsten mit roter Farbe beschmiert. Aber welche? Er ließ die Reihe der Marmor-, Bronze- und Gusseisenköpfe vor seinem inneren Auge vorbeiziehen und kam zu dem Schluss, dass es sich um die Statue des Archäologen Otto Benndorf handeln musste.
Das war sicherlich wieder so eine Protestaktion gegen die Studiengebühren. Mirko konnte die Wut seiner Kommilitonen verstehen – er selbst fand die Haltung der Regierung auch nicht in Ordnung, aber musste man darauf mit Vandalismus reagieren? Und warum ausgerechnet in einem dunklen Winkel des Arkadenhofs? Und warum Otto Benndorf? Der war doch schon seit mehr als hundert Jahren tot – was hatte der also mit der aktuellen Lage zu tun? Mirko war neugierig geworden und beschleunigte seine Schritte.
›Komisch‹, dachte er, als er näher kam. Was für ein makabrer Scherz. Was sollte das denn bedeuten? Aber … das konnte doch nicht sein! Mirko trat noch ein wenig näher heran. Das konnte ja wohl nur ein Scherz sein! Ein schlechter Scherz! O Gott …! Das war kein Spaß! Das war echt! Und das Rot, das war gar keine Farbe …
Mirko Berger fiel kreidebleich auf die Knie, und sämtliche Würdenträger der Universität Wien schauten ihm mit starren Blicken und ungerührten Mienen dabei zu. Alle, bis auf Otto Benndorf – dessen Büste war nämlich verschwunden und durch das Haupt von Professor Vitus Novak ersetzt worden. Leider war Novaks Kopf aber nicht aus Marmor oder Gusseisen, sondern aus Fleisch und Blut.
Es dauerte einige Zeit, bis Mirko es schaffte, mit zitternden Händen sein Telefon aus dem Rucksack zu zerren und die Polizei zu alarmieren.
Der diensthabende Beamte hielt den Anruf für einen schlechten Scherz. »Verdammtes Pack«, murmelte er. »Dieses arbeitsscheue Gesindel sollte lieber weniger saufen und sich stattdessen nützlich machen.« Studenten hatten in seinen Augen einfach nicht genügend zu tun. Wenn sie mehr arbeiten oder lernen würden, dann hätten sie nicht so viel Zeit, irgendwelchen Unfug auszuhecken. Ständig machten diese neunmalklugen Typen Ärger: demonstrierten gegen dieses, boykottierten jenes oder waren auf irgendeine andere Art und Weise eine Plage. Und jetzt dachten diese Klugscheißer auch noch, sie könnten ihn verarschen! Von wegen menschliche Köpfe im Arkadenhof!
Der Inspektor nahm einen Schluck Kaffee, gähnte ausgiebig und griff dann erst nach dem Funkgerät. »Ist irgendwer von euch in der Nähe vom Dr.-Karl-Lueger-Ring?«, fragte er. »Die G’fraster von der Uni haben wieder irgendwas angestellt.«
Die Polizisten ließen sich Zeit, und so dauerte es geschlagene zwanzig Minuten, bis sie im Arkadenhof eintrafen. Der Schock über die Erkenntnis, dass es sich diesmal um keinen Scherz oder einen simplen Fall von Sachbeschädigung handelte, war daher umso größer. Die Beamten versuchten ihren Schnitzer wiedergutzumachen, indem sie sich mit Feuereifer in die Arbeit stürzten, und deshalb vergingen nur wenige Stunden, bis der erste Verdächtige gefunden war.