»Die Lüge folgt uns noch hinab ins Grab.«

Giovanni Battista Niccolini

Nina Capelli, die heute ihren ersten offiziellen Arbeitstag hatte, saß in ihrem kleinen Büro in der Sensengasse und studierte einen Obduktionsbericht, als es an der Tür klopfte.

»Ja, bitte!«

»Hallo, Frau Capelli.« Es war Jochen Kern, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckte. »Ich habe gerade die Sekretärin auf dem Gang getroffen, und sie hat mir gesagt, dass wir einen Fall haben.« Er wedelte mit einem kleinen Zettel.

Capelli legte den Obduktionsbericht zu Seite. »Wissen wir schon, womit wir es zu tun haben?«, fragte sie.

»Es sieht schwer nach Mord aus. Ein älterer Herr wurde mit durchschnittener Kehle in seiner Wohnung aufgefunden. Nähere Details sind leider noch nicht bekannt. Aber wir werden es gleich herausfinden. Der Tatort liegt in der Berggasse, das ist nicht weit von hier entfernt. Mit dem Auto sind wir in fünf Minuten dort.«

»Dann mal los.« Capelli griff nach ihrer Jacke und stand auf.

 

Die Autofahrt dauerte, genauso wie Kern es angekündigt hatte, nur ein paar Minuten. Während der Fahrt schwiegen sie. Seit dem letzten Mal hatte der Obduktionsassistent keinen weiteren Annäherungsversuch mehr gestartet. Offenbar hatte er Capellis Wink verstanden.

»Da vorne muss es sein.« Capelli deutete auf die blinkenden blauen Lichter der anwesenden Streifen- und Krankenwagen, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie geradewegs auf einen Tatort zufuhren.

Sie parkten direkt vor dem Haus, stiegen aus und wurden von den anwesenden Schaulustigen mit einer Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und Abscheu angestarrt, als sie sich als Vertreter der Gerichtsmedizin auswiesen und von einem jungen Polizisten in das Gebäude geführt wurden.

»Können Sie uns schon irgendwelche Details sagen?«, fragte Capelli im Treppenhaus.

»Bei dem Opfer handelt es sich um den 56-jährigen Johannes Meinrad. Seine Nachbarin hat die Polizei alarmiert, weil er einen Termin mit ihr nicht eingehalten und auf ihr Rufen und Klopfen nicht reagiert hat. Er war wohl sonst sehr zuverlässig, da ist sie stutzig geworden. Wir haben die Türe eingetreten und ihn mit durchschnittener Kehle in seinem Flur liegend gefunden. Mehr weiß ich leider auch nicht. Jetzt kommen Sie ins Spiel.«

Capelli sah sich um. Hier drinnen herrschte bereits ein ziemlicher Trubel. Ein Team von Streifenpolizisten war gerade dabei, die Hausbewohner zu befragen, während ein Team der Spurensicherung im Treppenhaus nach Indizien suchte.

»Sie müssen rauf in den ersten Stock«, sagte der junge Beamte. »Es ist die zweite Tür links. Sie können sie nicht verfehlen.«

Tatsächlich war der Tatort nicht zu übersehen – und auch nicht zu überhören. Die Wohnungstür, die tatsächlich gewaltsam geöffnet worden war – überall am Boden lagen Holzsplitter herum –, stand sperrangelweit offen, und davor stand ein älterer Polizist, der eine hübsche, blonde Frau im Arm hielt, die herzzerreißend schluchzte. Das musste die besagte Nachbarin sein.

Capelli und Kern zogen sich ihre Schutzanzüge über und betraten die Wohnung.

Der Tote, der in einer riesigen, mittlerweile braun verfärbten Blutlache lag, war nur ein paar Schritte von der Tür entfernt. Aber Capellis Blick fiel auch noch auf etwas anderes, das sie in diesem Moment noch mehr interessierte als die Leiche: An den Wänden hingen Bilder von antiken Reliefs, und am Ende des Flurs stand eine griechische Statue. »Was hat Herr Meinrad denn beruflich gemacht?«, fragte sie Kern.

Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. »Warum wollen Sie das wissen?« Er schaute auf den Toten. »Ist das irgendwie wichtig?«

Capelli zog die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht. Möglich wäre es.« Sie ging zur Tür. »’tschuldigung«, wandte sie sich an den Polizisten, der vor der Wohnungstür stand. »Wissen Sie zufällig, was der Tote von Beruf war?«

»Ähm …«, setzte der Beamte an. »Nicht genau, ich glaube …«

»Er war Spezialist für antike Kunst«, schluchzte die blonde Frau und schnäuzte sich. »Er hat verschiedenste Auktionshäuser und auch Privatleute beraten.«

»Hmmm …« Capelli überlegte. Johannes Meinrad. War das nicht einer der Namen gewesen, die auf Morells Liste standen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. »Wissen Sie zufällig, ob Herr Meinrad früher einmal auf archäologischen Grabungen im Ausland tätig war?«

Die blonde Frau wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke Tränen aus dem Gesicht. »Möglich wäre es, aber sicher bin ich nicht«, sagte sie.

Capelli bedankte sich, zückte ihr Handy, rief bei Morell an, landete aber sofort auf dessen Mobilbox. Sie versuchte es ein zweites Mal – erneut ohne Erfolg. »Hier ist Nina. Ruf mich dringend zurück!«, sagte sie, legte wieder auf und ging zurück in die Wohnung. Dort schenkte sie der Leiche keine Beachtung, sondern steuerte direkt auf das Wohnzimmer zu.

»Frau Capelli«, rief Kern ihr nach. »Alles in Ordnung? Wollen Sie denn gar nicht mit der Leichenbeschau beginnen? Was ist denn los?«

»Ich … ähm … ich bin gleich bei Ihnen«, rief Capelli zurück. »Bereiten Sie schon mal alles vor!« Sie lief ins Wohnzimmer und sah sich um. Genauso wie der Flur war auch dieser Raum voller Statuetten, Reliefs und antiker Bilder. Gut, Meinrad war kein Archäologe gewesen, aber trotzdem war er bereits der zweite Mann, der innerhalb von wenigen Tagen ermordet worden war und etwas mit antiken Dingen zu tun hatte. Sie versuchte noch einmal, Morell zu erreichen, was ihr aber nicht gelang, und schaute sich dann weiter um. Was, wenn Meinrad tatsächlich auf der Liste stand? Eilig schnüffelte sie weiter und schlich ins Schlafzimmer. Neben einem imposanten Wasserbett und einem ziemlich großen Schrank stand dort ein mächtiger Schreibtisch.

Leise öffnete sie eine Schublade nach der anderen und fing an, in deren Inhalt herumzuwühlen. »Hast du oder hast du nicht Archäologie studiert?«, murmelte sie und öffnete die unterste Schublade. »Interessant.« Hinter einem Stapel Rechnungen, ganz hinten in der Lade, befand sich ein kleines Holzkästchen. Sie nahm es heraus und betrachtete es genau: Es war aus dunklem Holz gefertigt, rundherum mit feinen Schnitzereien verziert und hatte an der Vorderseite ein kleines, silbernes Schloss. Capelli wollte es öffnen, musste aber feststellen, dass es zugesperrt war. Sie wühlte in der Schublade nach dem Schlüssel, konnte ihn aber nicht finden. Sie versuchte es in den anderen Laden, aber auch dort fehlte jede Spur von dem Schlüssel. Was wohl in dem Kästchen war, dass Meinrad es weggesperrt und in den hintersten Untiefen seines Schreibtisches versteckt hatte? Sie kam nicht weiter dazu, sich Gedanken zu machen, da sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich vernahm.

»Frau Capelli. So schnell sieht man sich wieder.«

Der Gerichtsmedizinerin blieb beinahe das Herz stehen – es war Weber. Nachdem sie die erste Schrecksekunde überstanden hatte, dankte sie Gott dafür, dass ihr Schutzanzug so weit war, steckte das Kästchen hinein und drehte sich langsam um. »Herr Weber«, sagte sie und versuchte, unschuldig dreinzuschauen. Mit ihrem linken Bein schob sie vorsichtig und so unauffällig wie möglich die Schublade zu.

»Wie es scheint, überschreiten Sie schon wieder einmal Ihre Kompetenzen. Oder warum, wenn ich fragen darf, schnüffeln Sie an meinem Tatort herum? Die Leiche liegt vorne im Flur. Alles andere hat Sie nicht zu interessieren.«

»Tut es auch nicht«, log Capelli, presste das Kästchen eng an ihren Bauch und hoffte, dass es nicht auffiel. »Es ist nur so, dass ich gerade angerufen wurde und ein ruhiges Plätzchen zum Telefonieren brauchte.« Sie grinste verlegen.

»Na, jetzt aber raus hier«, brummte Weber.

»Bin schon weg.« Capelli schlängelte sich an ihm vorbei und ging in den Flur zu dem Toten. Als sie sich hinkniete, drückte das Kästchen unangenehm in ihren Unterbauch.

»Alles in Ordnung?« Kern war der verkniffene Gesichtsausdruck von Capelli nicht entgangen. »Tut Ihnen was weh?«

»Schon gut«, winkte Capelli ab und fing mit der Leichenbeschau an. »Ich habe nur ein bisschen Muskelkater vom Joggen.«