»…, denn er muß verschwiegen sein wie das Grab,
ob er nun will oder nicht.«
Giovanni Boccaccio, Das Dekameron
Eine gute Stunde später hatte Morell noch immer keinen Weg gefunden, sein Gefängnis zu verlassen. Die Kälte war mittlerweile unerträglich, und er fürchtete langsam wirklich, dass er hier drinnen erfrieren könnte.
Wo waren denn nur die anderen? Warum war noch keinem von ihnen aufgefallen, dass er verschwunden war? Oder war an der bösen Ahnung, dass Eschener und Jedler ihn entlarvt hatten und nun einen ›bedauerlichen Unfall‹ inszenierten, tatsächlich etwas dran?
Er hätte sich nie so völlig unvorbereitet auf diese Undercover-Aktion einlassen dürfen. »Kein Gejammer, keine Schwäche«, rief er sich ins Gedächtnis. Für Reue und Selbstvorwürfe blieb später noch genug Zeit – jetzt musste er erst mal dafür sorgen, dass diese Kühlkammer nicht zu einem kalten Grab für ihn wurde.
Er rüttelte erneut an der Tür, aber wie schon die vielen Male davor bewegte sie sich keinen Millimeter. Er rüttelte noch einmal, diesmal so fest, dass er plötzlich die Türklinke in der Hand hielt. »VERFLUCHT!!!«, schrie er laut und knallte die Klinke auf den Boden. Als ihm einfiel, wo er sich befand und wer hinter ihm lag, murmelte er ein leises »’tschuldigung« und machte sich daran, die Stelle zu begutachten, an der er die Klinke aus der Tür gerissen hatte. Vielleicht schaffte er es ja, mit Hilfe der Pinzette und des kleinen Messers, das er dabeihatte, den Schließmechanismus der Tür zu überlisten.
Er stocherte mit klammen Fingern in dem Loch herum, hatte aber keinen Erfolg. Gerade als ihm so kalt war, dass er ernsthaft überlegte, einem der Toten sein Leichentuch wegzunehmen, kam ihm eine andere Idee: Rein theoretisch musste es irgendeine Vorrichtung geben, die Alarm schlug, wenn die Kühlung nicht mehr funktionierte. Wenn er es also schaffte, das Kühlaggregat außer Gefecht zu setzen, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er würde die Temperatur erhöhen, und er würde hoffentlich durch das Auslösen des Alarms auf sich aufmerksam machen. Er würde dann zwar für unbestimmte Zeit mit auftauenden Leichen in einem Raum sein müssen, doch alles war besser als selbst eine von ihnen zu werden.
Er drehte sich zu seinen Zimmergenossen um. Wo war das Kühlaggregat? Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte, sich von dem Anblick der toten Körper, die sich unter den Leichentüchern abzeichneten, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Ah, da bist du ja.« Er hatte direkt über einer Bahre einen grauen Kasten entdeckt, aus dem ein monotones Surren drang. Vorsichtig schob er die Bahre samt der darauf liegenden Leiche zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und ruckelte daran. Nachdem sich nichts tat, zog er mit klammen Fingern sein Werkzeug heraus und begann, mit dem kleinen Messer die Schrauben der Abdeckung zu lockern.
»Geht doch«, sagte Morell nicht ohne Stolz, als er es einige Minuten später tatsächlich geschafft hatte, die Abdeckung zu entfernen. Er legte das schwere Metallteil auf den Boden und betrachtete die Kabel, Schrauben und blinkenden Lichter, die sich dahinter verborgen hatten. Wie konnte er dieses Ding ausschalten? »Egal«, sagte er, atmete in seine Hände und fing an, mit dem kleinen Messer so lange ein Kabel nach dem anderen durchzuschneiden, bis das Surren der Kühlung plötzlich aufhörte. Zufrieden steckte er sein Messer weg, ging zur Tür, starrte hinaus und wartete.
Tatsächlich ließ die Rettung nicht lange auf sich warten. Es war Frau Summers pausbäckiges Gesicht, das nur kurze Zeit später in dem kleinen Sichtfenster erschien. Sie öffnete die Tür und schaute Morell, dem gerade ein tonnenschwerer Stein vom Herzen fiel, entgeistert an.
»Herr Reiter, was ist denn hier los? Über der Tür blinkt ein Licht, das besagt, dass die Kühlung ausgefallen ist.« Sie starrte auf die durchtrennten Kabel. »Haben Sie etwa …?«
Morell antwortete nicht gleich, sondern trat als Erstes auf den sicheren Flur. »Ich weiß nicht, was genau passiert ist«, sagte er zitternd und rieb sich die Hände. »Herr Eschener hatte mich gebeten, einen Toten aus dem Leichenwagen zu holen und in die Kühlkammer zu bringen. Als ich drinnen war, ist die Tür zugefallen und nicht mehr aufgegangen. Und um nicht zu erfrieren, habe ich die Kühlung … ähm …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… abgedreht.«
Frau Summer tätschelte Morells Oberarm und stemmte dann die Hände in die Hüften. »Ich habe dem Sebastian schon hundertmal gesagt, dass er die Tür reparieren soll«, schimpfte sie. »Mir ist das auch schon einmal passiert. Irgendetwas mit der Klinke ist kaputt. Kommen Sie! Ich mache Ihnen erst einmal einen Tee, und in meinem Büro habe ich auch noch eine große Dose mit Keksen stehen.«
Der heiße Tee und die Kekse taten Morell gut. Er fühlte, wie sich wohlige Wärme in seinem Körper ausbreitete und sich seine Nerven langsam beruhigten.
»Ich rufe gleich einen Techniker an«, sagte Frau Summer. »Der muss sich noch heute um die kaputte Kühlung und die defekte Klinke kümmern – nicht auszudenken, was alles hätte geschehen können. Ich schreibe zur Sicherheit auch noch schnell eine Warnung, die ich an die Tür klebe, damit so was nicht noch mal passiert.« Sie verfasste eine Notiz und huschte dann mit dem Zettel und einer Rolle Tesafilm in den Keller.
Morell trank in der Zwischenzeit den Rest seines Tees. Hatte er übertrieben? War sein unfreiwilliger Aufenthalt in der Kühlkammer doch nur ein Unfall und kein Mordanschlag gewesen? Er kam nicht dazu, noch mehr darüber nachzudenken, da sein Handy piepte und ihm Capellis Nachricht übermittelte.
Er rief sofort zurück. »Was gibt es denn? Du klangst so aufgeregt.«
»Wart kurz. Ich geh schnell raus«, flüsterte Capelli. »Gut«, sagte sie wenige Momente später. »Jetzt kann ich reden.«
»Dann schieß los. Deine Nachricht klang sehr dringend.« Morell starrte auf den Teller mit den Keksen und musste sich zusammenreißen, um keinen weiteren zu nehmen.
»Sagt dir zufällig der Name Johannes Meinrad etwas?«
»Aber klar. Er ist einer jener Männer, die gemeinsam mit Novak in Syrien waren. Ich wollte ihn vorgestern befragen, aber er war nicht daheim.«
»Tja, ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll, aber er war sehr wohl daheim. Er war nur nicht … nun ja … er war nur nicht mehr am Leben und konnte darum die Tür nicht öffnen.«
»Was?!« Morell schnappte sich einen Keks. »Tot? Bist du sicher?«
»Er liegt hier auf meinem Tisch. Ich bin also sehr sicher.«
Morell steckte sich den ganzen Keks in den Mund. »O nein!«, sagte er kauend. »Was ist passiert?«
»So wie es aussieht, hat ihm am Samstag jemand die Kehle durchgeschnitten.«
Morell verschluckte sich vor lauter Schreck beinah an seinem Keks. »Das kann kein Zufall sein. Ist es möglich, dass der Mörder alle Männer umbringt, die damals am Tell Brak gegraben haben?«
»Ich weiß es nicht. Einerseits spricht vieles dafür, andererseits ist der Modus operandi ein ganz anderer. Novak starb durch einen Schlag auf den Kopf. Meinrad wurde die Kehle durchschnitten. Novaks Kopf wurde abgetrennt und öffentlich zur Schau gestellt, während sich Meinrads Kopf noch immer auf seinem Körper befindet.«
»Vielleicht wurde der Täter gestört, oder er hat gemerkt, dass er mit Novak zu weit gegangen ist.«
»Ich weiß es nicht. Wir sollten auf jeden Fall noch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich werde jetzt die Obduktion fertig machen, und dann sehen wir weiter. Hast du die Proben?«
»Ja. Wann kann ich sie dir bringen?«
»Es wäre am besten, wenn du sie mir in ungefähr einer Stunde in die Sensengasse bringst. Und hast du am Abend Zeit? Es gibt da etwas, das ich dir zeigen muss.«
»Ja, habe ich. Dann bis später.« Morell legte auf, aß noch einen Keks und versuchte, klar zu denken. Meinrad war also tot. Ermordet. Das durfte nicht wahr sein. Das war sein ganz persönlicher Albtraum. »Nicht schon wieder ein Serienkiller«, bat er. »Lass es ein schrecklicher Zufall sein, aber nicht mehr.« Er stand auf und machte sich auf die Suche nach Frau Summer. »Kann ich heute etwas früher gehen?«, fragte er, als er sie gefunden hatte. »Ich bin noch immer ziemlich durchgefroren.«
»Aber natürlich, Sie Ärmster! Gehen Sie ruhig.« Sie tätschelte seinen Arm.
»Vielen Dank.« Morell stellte den Kragen hoch, als er hinaus ins Freie trat. Hoffentlich wurde dieser Tag nicht noch schlimmer.