»Das wahre Grab der Toten ist das Herz der Lebenden.«

Jean Cocteau

Am nächsten Vormittag liefen Weber und Wojnar mit entschlossenem Schritt über den Flur des AKHs und steuerten auf das Zimmer Nummer 312 zu.

»Sie können da nicht rein!«, versuchte eine korpulente Krankenschwester die beiden aufzuhalten. »Der Patient braucht absolute Ruhe!«

Weber zückte seine Dienstmarke und hielt sie der Frau unter die Nase. »Polizei«, sagte er trocken.

Die Schwester überlegte kurz. »Na gut. Zehn Minuten, aber keine Sekunde länger. Und regen Sie ihn ja nicht auf – er muss sich erholen und braucht Ruhe.«

»Wir werden darauf achten«, sagte Wojnar. »Vielen Dank!«

Moritz Langthaler lag mit einem dicken Verband um den Kopf und dunklen Rändern unter den Augen in einem der Krankenhausbetten. Außer ihm gab es keine weiteren Patienten in dem trostlosen Zimmer. »Haben Sie das Schwein gefunden, das mich beinahe umgebracht hat?«, fragte er mit schwacher Stimme, als die beiden Polizisten an sein Bett traten.

»O ja, das haben wir.« Weber schnappte sich einen Plastikstuhl, rückte ihn neben Langthaler und setzte sich, während Wojnar am Fußende des Bettes stehen blieb. »Sie werden überrascht sein.«

Langthaler lächelte kraftlos. »Ich bin gespannt.«

Weber steckte sich einen Zahnstocher in den Mund. »Ganz schön in die Hose gegangen, der schöne Plan«, sagte er. »Das hatten Sie sich wohl anders vorgestellt.«

»Natürlich habe ich mir das anders vorgestellt – immerhin hat mich irgendjemand brutal von hinten niedergeschlagen.« Um seine Worte zu untermauern, griff Langthaler an seinen Verband.

»Nicht von hinten«, sagte Wojnar. »Sondern von oben.«

»Und auch nicht irgendjemand«, fügte Weber hinzu. »Sondern Sie selbst.«

Langthaler riss die Augen auf. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Hast du gehört, Theo«, sagte Weber. »Er weiß nicht, wovon wir reden. Wahrscheinlich hat der Schlag auf seinen Kopf eine Amnesie ausgelöst.«

»Oder vielleicht beeinträchtigen die Medikamente, die er genommen hat, sein Erinnerungsvermögen«, meinte Wojnar sarkastisch.

»Dann wollen wir seinem Gedächtnis doch mal auf die Sprünge helfen.«

»Was soll das?« Langthaler schaute irritiert von einem Polizisten zum anderen.

Weber nahm den Zahnstocher aus dem Mund und beugte sich vor. »Ich kann Ihnen sagen, was das soll. Sie haben Vitus Novak und Johannes Meinrad umgebracht, weil sie Schuld am Tod Ihres Vaters hatten. Als Ihre Mutter vor zwei Monaten gestorben ist, haben Sie wahrscheinlich in ihrem Nachlass etwas gefunden, das Sie auf die Spur von Novak gebracht hat, und da haben Sie den Plan gefasst, Rache zu nehmen.«

»Grund dazu hatten Sie ja genug«, warf Wojnar ein. »Der Vater tot, die Mutter durchgedreht und Ihre Kindheit vermurkst.«

»Aber … aber … sehen Sie denn nicht, dass ich selbst ein Opfer bin?« Langthaler versuchte, sich aufzusetzen.

Weber lehnte sich wieder zurück und kaute auf seinem Zahnstocher herum. »Sie haben irgendwie gemerkt, dass wir Ihnen auf den Fersen waren, und wollten daher ein Ablenkungsmanöver starten. Sie haben sich als Opfer inszeniert, um den Verdacht von Ihnen abzulenken.«

»Sie sind ja verrückt! Ich wäre beinahe krepiert. Glauben Sie, ich lege es darauf an, mich selbst umzubringen?«

»Tja, Ihr Plan ist leider in die Hose gegangen. Sie haben einen schweren Aschenbecher aus Jade auf eine Tür gelegt, die nur einen Spaltbreit geöffnet war, dann haben Sie die Tür aufgerissen, so dass der Aschenbecher Ihnen auf den Kopf geknallt ist.«

»Und dabei haben Sie die Wucht des Aschenbechers unter- und die Stärke Ihres Schädels überschätzt«, fügte Wojnar hinzu.

»Das ist doch alles Unsinn.« Langthaler lehnte sich in seine Kissen zurück und fasste sich an den Kopf.

»Das sehen wir ganz anders. Zudem haben unsere Kollegen Spuren des Aschenbechers auf der Oberkante des Türblatts gefunden.«

»Unsinn.« Langthaler schloss die Augen. »Alles Unsinn.«

»Und dann haben wir noch etwas gefunden, und zwar in Ihrer Wohnung. Ein Tagebuch. Das Tagebuch von Vitus Novak mit brisanten Eintragungen aus den 70er Jahren. Und dann war da auch noch das Foto, das Sie aus Novaks Büro mitgenommen haben – wahrscheinlich weil es das letzte Foto ist, das Ihren Vater lebend zeigt.«

Langthaler schaute die beiden entsetzt mit weitaufgerissenen Augen an.

Weber stand auf und nahm den Zahnstocher aus dem Mund. »Sie sind hiermit offiziell verhaftet. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sie haben außerdem das Recht, die Aussage zu verweigern. Bis zu Ihrer Genesung werden wir einen Wachposten vor dem Zimmer platzieren. Schönen Tag noch.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ gemeinsam mit Wojnar den Raum.

Die beiden Polizisten gingen den langen Flur entlang, und Weber wandte sich an seinen Kollegen. »Wieder einen Fall gelöst«, sagte er. »Und das in ziemlich kurzer Zeit. Du hattest tatsächlich den richtigen Riecher, Theo. Toll, wie du das mit der Kopfwunde erkannt hast. Gute Arbeit!«

Wojnar schmunzelte. »Vielen Dank, Roman.«

»Scheinst ja gerade eine echte Glückssträhne zu haben. Erst die Pietät und dann auch noch der Novak-Fall. Wie hast du das nur gemacht?«

»Das hat sich so ergeben«, wiegelte Wojnar ab, während sie vor einer Glastür stehen blieben.

»Apropos Pietät – sag mal, ist dir da ein gewisser Thomas Reiter begegnet? So ein großer, dicker Typ?«

»Reiter? Nein, die Mitarbeiter hießen Eschener und Jedler, und dann gab’s noch eine Frau Summer.«

»Und den Otto Morell, den hast du nicht zufällig dort gesehen?«

»Warum soll denn der Otto in der Pietät gewesen sein? Ich weiß, dass er in Wien ist, aber was soll der in einem Bestattungsinstitut? Das gibt doch keinen Sinn, Roman.« Wojnar grinste in sich hinein, während er seinem Kollegen die Tür aufhielt.