»Der Körper ist das Grab der Seele.«

Platon

Am Montagmorgen stand Morell pünktlich um acht Uhr in der Pietät. Er hatte von Capelli eine kleine Schere, eine Pinzette, eine Feile und mehrere durchsichtige Plastikdöschen bekommen, mit deren Hilfe er Proben von den diversen Artikeln nehmen konnte.

»Guten Morgen, Herr Eschener«, sagte er zu seinem Chef, der schon wieder hektisch herumrannte. »Was gibt es denn heute alles für mich zu tun?«

Eschener ruckelte an seiner Krawatte. »Eine Menge«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Am besten, Sie gehen runter zu Herrn Jedler und helfen ihm beim Herrichten von Frau Liebermann.« Er schaute auf seine Uhr und nickte. »Ja, das ist eine gute Idee – Frau Liebermann muss in spätestens einer halben Stunde raus.«

Morell schluckte. »Frau Liebermann ist … ähm … tot?«

»Aber ja.« Eschener schnupperte. Hatte sein neuer Mitarbeiter etwa in aller Herrgottsfrühe schon getrunken? Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas vorkam – viele Menschen trieb der ständige Umgang mit Toten und Trauernden in den Alkoholismus. Er schnupperte noch einmal, konnte aber nichts riechen. »Natürlich ist Frau Liebermann tot. Was dachten Sie denn, Herr Reiter?«

Morell lächelte verlegen. »Natürlich«, sagte er. »Tot. Was sonst. Ich bin wohl noch ein bisschen verschlafen.«

»Tja.« Eschener zeigte auf die Kellertür. »Nichts weckt einen besser auf als die Arbeit.«

»Alles klar«, versuchte Morell, seine wahren Gefühle zu überspielen. »Dann mal los.«

Der Thanatopraxieraum war genau so, wie Morell ihn sich in seinen schlimmsten Albträumen vorgestellt hatte: Es war kalt, steril und roch nach allen möglichen Chemikalien. In der Mitte des weißgefliesten Raumes stand ein Edelstahltisch, und an den Wänden waren Metallregale angebracht, in denen zahlreiche Instrumente und Geräte standen. Morell wollte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wofür diese Dinge eingesetzt wurden. Das grelle Neonlicht, das leise Surren der Belüftung und der penetrante Geruch nach Formalin, der den Gestank des Todes nur oberflächlich überdeckte, verursachten dem Chefinspektor Übelkeit. Er lockerte seine Krawatte und wischte sich ein paar kalte Schweißperlen von der Stirn. Er war tatsächlich in der Hölle gelandet, in Frankensteins Laboratorium, im Folterkeller der Blutgräfin Báthory.

»Buh!« Jedler sprang aus einer Ecke auf Morell zu.

»Sag mal, spinnst du?« Morell griff sich ans Herz. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt. Mach so was nie wieder!«

»Stell dich nicht so an, Thommy! Ein bisschen Spaß muss sein, sonst wird man depressiv hier.« Jedler griff nach einer Bürste und tat so, als wäre sie ein Mikrophon. »Ein bisschen Spaß muss sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein …«, stimmte er den bekannten Schlager an, tanzte nach draußen und kam kurz darauf mit einer Bahre, auf der ein Leichensack lag, zurück. »Sag guten Tag zu Frau Liebermann.« Mit diesen Worten öffnete Jedler schwungvoll den Sack und gab den Blick auf eine bleiche, faltige, alte Dame frei.

Morell starrte auf den Boden und hielt die Luft an. »Und was machen wir jetzt mit ihr?«, fragte er leise.

»Die gute Frau Liebermann kriegt das Standardprogramm verpasst. Wir werden sie waschen, ihr einen Talar anziehen, sie schminken, frisieren und dann in ihren Sarg betten.« Er zog den Leichensack unter der Toten weg und legte ihn zur Seite. Der Leichnam lag nun blass und nackt auf dem Edelstahltisch.

Morell konnte und wollte nicht hinsehen. »Ich kann schon mal den Sarg holen, wenn du willst. Du kannst derweil ja schon mit dem Waschen anfangen.«

»Ist gut, von mir aus.« Jedler zog sich einen grünen Kittel an und schaute auf ein Klemmbrett. »Unsere Frau Liebermann wird die Ewigkeit in einem rustikalen Eichenholzpyjama mit geschnitzter Palmverzierung verbringen. Wir haben davon noch einen oder zwei im Lager stehen.«

»Gut, ich hol einen her.« Morell verließ im Laufschritt den Thanatopraxieraum, rannte ins Lager, schloss die Tür hinter sich und holte erst mal tief Luft. »Super«, murmelte er dann und lächelte. Er hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Er war Frau Liebermann entkommen und hatte sich eine Gelegenheit verschafft, Proben zu entnehmen.

»Okay. Wo fange ich an?« Morell zog die Utensilien, die er von Capelli erhalten hatte, aus der Innentasche seiner Jacke und schaute sich um. Als Erstes ging er zum Modell Kennedy und schnitt vorsichtig ein winziges Stück aus dem Innenfutter heraus. Nachdem er das kleine Stoffstück sorgfältig in einem Plastikdöschen verstaut hatte, zupfte er die Innenausstattung so zurecht, dass man seinen Eingriff nicht mehr sehen konnte, schloss leise den schweren Metalldeckel und wandte sich dann den Totenhemden zu. Er kramte eines von ganz unten aus einer Schachtel heraus und schnitt auch hier ein kleines Stückchen aus dem Stoff. Anschließend schabte er etwas Holz von verschiedenen Sargmodellen und kratzte ein paar Späne von diversen Urnen ab. Nachdem er sämtliche Proben akribisch eingepackt und beschriftet hatte, verstaute er sie in seiner Jackentasche und machte sich dann auf die Suche nach dem richtigen Sarg für Frau Liebermann. Er fand das benötigte Modell recht schnell, trödelte dann aber extra lange herum – er fühlte sich im Lager zwar nicht sonderlich wohl, aber im Vergleich zum Thanatopraxieraum war es hier um Welten angenehmer.

Es schien so, als wäre seine Strategie aufgegangen. Als er den Sarg in den Thanatopraxieraum karrte, war Jedler bereits mit dem Waschen und Ankleiden fertig.

»Da bist du ja. Ich hatte schon befürchtet, du tauchst heute gar nicht mehr auf.« Jedler bedachte Morell mit einem vorwurfsvollen Blick und holte dann einen großen Plastikkoffer aus einem Regal.

»Tut mir leid«, antwortete Morell. Da er die Tote nicht anschauen wollte, schnappte er sich ein Wattestäbchen und fing an, die Schnitzereien des Sarges von Staub zu reinigen. »Ich kenn mich im Lager noch nicht so gut aus und musste mich erst mal durch alle möglichen Sargmodelle kämpfen, bis ich das richtige gefunden habe.«

»Schon in Ordnung«, nickte Jedler. »In ein paar Wochen bist du ein Profi und findest alles blind.« Er öffnete den Koffer, der sehr zu Morells Erleichterung keine Foltergeräte, sondern Schminkutensilien enthielt. »So, dann werden wir mal dafür sorgen, dass unsere Lady hier an ihrem großen Tag auch ordentlich was hermacht.« Jedler nahm ein kleines, beiges Schwämmchen und tunkte es in irgendeine streng riechende, hautfarbene Paste. »Ich bin richtig gut im Schminken und Frisieren. Die frischgebackenen Grabbewohner sehen nach meiner Behandlung oft besser aus als zu Lebzeiten.« Er griff nach einem Pinsel. »Pfirsich oder Himbeer?«

»Wie bitte?«

»Passt zu ihrem Teint eher ein rosa- oder ein orangestichiger Rouge-Ton?«

»Um ehrlich zu sein, bin ich nicht sehr gut in solchen Dingen.« Morell zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich kann mich oben nützlicher machen als hier unten.«

»Wie um alles in der Welt hast du es so lange bei Somnus ausgehalten, wenn du so eine große Abneigung gegen tote Menschen hast?« Jedler überlegte kurz. »Von mir aus. Aber das nächste Mal kommst du mir nicht so einfach davon, dann hilfst du mir beim Waschen und Anziehen.«

Den letzten Teil des Satzes hatte Morell nicht mehr gehört, weil er bereits zur Tür hinaus und auf dem Weg nach oben war. Er ging zurück in den Empfangsraum und fing dort an, ein Gesteck aus Trockenblumen neu zu arrangieren. Tote Blumen waren zwar überhaupt nicht nach seinem Geschmack – aber sie waren immerhin besser als tote Menschen.

»Sind Sie unten schon fertig?« Eschener betrachtete Morells Werk und nickte anerkennend.

»So gut wie. Herr Jedler hat gemeint, ich solle mich lieber hier oben nützlich machen«, log Morell.

»Wunderbar. Ich kann Sie nämlich gut gebrauchen.« Eschener reichte Morell einen Zettel. »Ich habe hier eine Liste mit Frau Novaks Blumenwünschen gemacht. Sie will vor allem weiße Callas und Lilien. Alles soll sehr gediegen wirken. Viel Weiß, viel Grün und eventuell ein paar violette Farbtupfer, am liebsten mit Orchideen.«

»Wow, das wird teuer werden.«

»Geld spielt keine Rolle.« Eschener lächelte selig und spielte an seinen Manschettenknöpfen herum.

»Ich mache mich dann gleich auf den Weg zum Floristen.« Morell war froh, dass seine nächste Aufgabe eine angenehme war.

»Der Florist und die Blumen können noch kurz warten.« Eschener schaute auf seine Uhr. »Ich komme gerade eben von einer Trauerfamilie und habe dort einen Verstorbenen abgeholt. Wären Sie bitte so nett und bringen Herrn Frey aus dem Leichenwagen in die Kühlkammer? Herr Jedler und Frau Summer sind beschäftigt, und ich muss zu einem Termin.«

Morells Begeisterung von vorhin war mit einem Schlag verflogen. Da er sich keine Blöße geben wollte, nickte er, legte die Liste beiseite und machte sich auf in den Keller.

Vor dem Thanatopraxieraum hielt er kurz inne, nahm einen tiefen Atemzug und öffnete dann die Tür. Jedler, der gerade die Haare von Frau Liebermann mit Glanzspray besprühte, trällerte lautstark vor sich hin: »Steh auf, wenn du Rapid-Fan bist. Steh auf, wenn du Rapid-Fan bist …« Er war offensichtlich ein Anhänger des Fußball-Clubs Rapid Wien. Frau Liebermann, die anscheinend kein großer Fan war, blieb liegen.

Morell räusperte sich. »Sorry, aber ich bräuchte kurz deine Hilfe.«

»Ja? Wozu denn?«

»Ich muss einen alten Herrn aus dem Leichenwagen in die Kühlkammer bringen.«

Jedler hob seine Hände, die voller Make-up, Haarspray und anderen Dingen waren, von denen Morell lieber nicht wissen wollte, worum es sich handelte. »Ich muss dringend Frau Liebermann fertig machen – sie muss nämlich in zwanzig Minuten in der Kirche sein. Außerdem schaffst du das auch ohne Probleme allein. Du musst nur die Fahrtrage herausziehen, die Räder ausklappen und das Ganze dann in die Kühlkammer schieben. Das geht schon.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Frau Liebermann zu. »Meinen Körper vermache ich der Medizin, nur meinen Arsch bekommt’s Finanzamt Wien«, sang er leise, während Morell missmutig die Tür hinter sich schloss.

Jedler hatte recht gehabt: Rein theoretisch war es überhaupt kein Problem, den Leichnam, der in graue Kunststoffplanen gehüllt war, alleine aus dem Wagen zu ziehen und aus der Garage zu schieben. Praktisch gesehen war es Morell aber trotzdem unangenehm. Er würde so wenig Zeit wie möglich mit dem Toten verbringen – die sterblichen Überreste des alten Herrn einfach vorne in der Kühlkammer einparken, nach oben sausen und sich dann beim Floristen erholen.

Leider stellte sich die Aufgabe als nicht ganz so leicht heraus. Vorne war nämlich kein Platz für die Bahre, und er musste nach hinten fahren. Er beeilte sich. Je schneller er das hier erledigte, desto schneller konnte er zu den Blumen gehen und anschließend die Proben auswerten lassen.

Da hörte er, wie die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel.