»Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben.«

Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg

»Servus! Hier ist der Ernst.«

»Ernst?« Morell, dem das Herz noch immer bis zum Hals schlug, hatte keine Ahnung, wer sich am anderen Ende der Leitung befand. Wahrscheinlich falsch verbunden. »Tut mir leid«, sagte er deshalb. »Sie müssen sich verwählt haben – ich kenne keinen Ernst.«

»Geh! Aber klar doch! Der Ernst. Von gestern. Wir sind zusammen in Professor Novaks Büro eingestiegen.« Ein lautes, heiseres Lachen drang an Morells Ohr.

»Ach so, Sie sind das, Herr Payer. Ist Ihnen etwas zum fehlenden Foto eingefallen?«

»Nein, das nicht, aber ich habe über was anderes nachgedacht. Kommen Sie doch in mein Büro, dann können wir das besprechen und dabei zusammen etwas trinken.«

Morell konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass Payer in Wahrheit über gar nichts nachgedacht hatte, sondern einfach nur auf der Suche nach einem Saufkumpan war. »Sind Sie sicher, dass Ihre Neuigkeiten wirklich relevant für den Fall sind?«, hakte er daher nach.

»Wie relevant meine Neuigkeiten sind, kann ich selbst nicht beurteilen. Kommen Sie doch vorbei und bilden Sie sich Ihre eigene Meinung.«

»Worum genau handelt es sich denn?«

»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie da sind. Also, bis gleich!«

»Aber ich … Hallo? Herr Payer?« Zu spät – Payer hatte schon aufgelegt. Morell versuchte mehrmals, den Archäologen zurückzurufen, aber er hob nicht mehr ab.

Zornig starrte der Chefinspektor auf das Telefon in seiner Hand. Wie hatte es nur so weit kommen können? Erst ließ er sich von einer kleinen, alten Dame herumkommandieren, und jetzt tanzte ihm auch noch dieser kauzige Weihnachtsmannverschnitt auf der Nase herum. Er betrachtete sein Abbild, das sich in der Auslage der Pietät spiegelte, und hätte am liebsten laut aufgeschrien. Wann war er nur zu diesem zimperlichen, übergewichtigen Weichei geworden, das ihm da aus dem Schaufenster entgegenblickte? Kein Wunder, dass Valerie ihn verlassen hatte und Weber sich über ihn lustig machte.

Er ballte die Hände zu Fäusten, presste die Lippen aufeinander und starrte sein Spiegelbild trotzig an. Er musste aufhören, sich derart gehenzulassen und so passiv zu sein – sonst würde er bald endgültig zu einer dicken Witzfigur mutieren und auch noch den letzten Funken an Respekt und Selbstachtung verlieren. Noch konnte er das Ruder herumreißen, und das würde er auch tun. Morell reckte sein Kinn in die Höhe. Er würde ab sofort die Dinge selbst in die Hand nehmen: Er würde abnehmen, Lorentz’ Unschuld beweisen, das Rätsel um Benedikt Horsky lösen und damit Valerie und Weber zeigen, dass er ein ganzer Kerl und ein ernstzunehmender Polizist war.

»Kein Gejammer, keine Schwäche«, murmelte Morell wie ein Mantra, während er sich voller Tatendrang und guter Vorsätze aufmachte, um zu hören, was Payer zu sagen hatte. Er musste sogar ein wenig schmunzeln, als er sich der Ironie bewusst wurde, dass er gerade von einem Ort, an dem tote Menschen fürs Begraben vorbereitet wurden, zu einem anderen fuhr, wo es darum ging, sie wieder auszubuddeln.

 

»Kein Gejammer, keine Schwäche«, wiederholte der Chefinspektor erneut, als er kurze Zeit später das Institut für Ur- und Frühgeschichte betrat. Gleich würde die erste Bewährungsprobe für seine guten Vorsätze folgen: Er würde sich anhören, was der Professor zu sagen hatte, aber sich auf gar keinen Fall zum Schnapstrinken nötigen lassen.

Als er die Tür von Payers Büro öffnete, war er aufs Neue von der Masse der Bücher, die sich in dem kleinen Raum befand, überwältigt. Payer, der mittendrin im Chaos saß, winkte ihm euphorisch zu. »Da sind Sie ja! Kommen Sie herein, setzen Sie sich!«

Morell schlängelte sich durch den labyrinthartigen Bücherdschungel und ließ sich auf dem Hocker vor Payers Schreibtisch nieder. »Also, was haben Sie für mich?«, fackelte er nicht lange herum.

Das wettergegerbte Gesicht Payers formte ein breites Grinsen. »Ich habe mir Gedanken zum Thema Enthauptung gemacht und bin auf ein paar interessante Ansätze gestoßen.«

»Und die hätten Sie mir nicht auch am Telefon erläutern können?«

»Natürlich, aber persönlich macht das Reden doch viel mehr Spaß.« Payer grinste und zog ein vollgekritzeltes Blatt Papier aus einer Schublade.

Der Chefinspektor wollte nach der Notiz greifen, aber der Professor entzog sie ihm und versteckte sie hinter dem Rücken. »Erst trinken wir einen kleinen Schnaps zusammen.«

Morell holte tief Luft und erinnerte sich an sein neues Credo. Wenn er es tatsächlich schaffen wollte, hier in Wien nicht völlig unter die Räder zu kommen, dann musste er lernen, nicht ständig nachzugeben. Payer und sein Schnaps waren dafür eine gute Übung. »Herr Payer, geben Sie mir jetzt bitte die Notizen.«

»Erst das Schnapserl. Nachdem Ihnen gestern mein Marillenwässerchen so gut geschmeckt hat, habe ich nämlich heute eins aus Quitten mitgebracht – zum Kosten.« Der Professor schraubte bereits eine Flasche auf und machte sich daran, zwei Gläser einzuschenken.

Morell ignorierte das Grauen im Glas und streckte seine Hand nach dem Papier aus. »Es tut mir wirklich leid, aber ich bin im Dienst. Außerdem habe ich heute noch nichts gegessen – ich werde daher keinen Schnaps trinken. Also, zur Sache, bitte!«

Payer zögerte kurz, aber der bestimmte Tonfall, in dem Morell seine Worte ausgesprochen hatte, schien zu wirken. »Wir können ja nachher zusammen runter in die Mensa gehen und ein paar Würstel essen«, schlug er vor. »Dann haben Sie eine gute Grundlage und können danach den Schnaps probieren.«

»Können wir jetzt bitte über das Thema Enthauptung sprechen?!«

»Von mir aus.« Payer legte das Blatt Papier auf den Tisch, kippte seinen Schnaps auf ex hinunter und griff nach Morells Glas, das unangetastet auf dem Tisch stand. »In der Vergangenheit waren Enthauptung und anschließende Präsentation des Kopfes sehr weit verbreitet. Damals ging es darum, besonders schwere Delikte öffentlichkeitswirksam zu bestrafen.«

»Sie meinen, es wäre also möglich, dass irgendjemand Novak für ein Verbrechen bestrafen wollte? Aber was könnte das gewesen sein?«

»Das ist die große Frage. Prost!« Payer trank, sehr zu Morells Erleichterung, auch noch das zweite Glas aus.

»Irgendwelche Vorschläge?«

Der Archäologe schenkte Schnaps nach. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen wollen? Vielleicht ein halbes Gläschen? Nur für den Geschmack.«

Morell schüttelte den Kopf. »Denken Sie nach. Was könnte Novak getan haben?«

Payer grübelte und strich über seinen Rauschebart. »Keine Ahnung«, murmelte er. »Jedenfalls nichts, was es rechtfertigen würde, ihn umzubringen und seinen Kopf im Arkadenhof auszustellen.«

»Menschen können aus den absurdesten Gründen zu Mördern werden«, warf Morell ein. »Ich finde Ihren Ansatz jedenfalls interessant. Was haben Sie denn noch so zusammengetragen?«

Payer schaute auf den Zettel. »Es gab da mal ein paar Gerüchte, die besagten, dass Novak früher heimlich Artefakte auf dem Schwarzmarkt verkauft habe.«

»Und wie viel Wahrheitsgehalt ist an diesen Gerüchten?«

»Keine Ahnung.« Payer strich sich erneut über den Bart. »Einerseits konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden, andererseits lebte Novak viel zu gut für einen normalen Archäologen – unsereins ist ja schon froh, wenn er sich von dem bisschen Geld, das sich Gehalt schimpft, das Nötigste zum Leben leisten kann.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ob er damals tatsächlich in Grabraub und Kunstschmuggel verwickelt war, kann ich nicht sagen. Wie hat der Reinhard Fendrich schon so schön gesungen: ›Alles ist möglich, aber nix ist fix‹.«

»Ist einer von meinen Kollegen diesen Gerüchten nachgegangen?«

»Nein, die wissen ja nichts davon.«

»Warum nicht? Das könnte eine wichtige Spur sein.«

»Die haben ja nicht danach gefragt. Und von allein erzählt das hier sicher keiner rum. Wir wollen die Archäologie an sich und das Institut im Besonderen ja nicht in Verruf bringen. Außerdem handelt es sich nur um einen zweifelhaften, uralten Tratsch. Das ist Jahre her und hat mit den heutigen Ereignissen wahrscheinlich eh nichts zu tun.«

»Wir sollten der Sache trotzdem nachgehen.«

»Wenn Sie meinen. Ich kann mich ja mal unauffällig umhören.«

Morell nickte. »Aber wirklich ganz unauffällig. Immerhin könnte es sein, dass ein skrupelloser Mörder ganz in der Nähe ist.«

»Okay.« Payer grinste und rieb sich die Hände. »Endlich kommt hier mal ein bisschen Action in die Bude.«

Morell wurde ganz flau im Magen. Er wusste nicht, ob er dieses unangenehme Gefühl seinem Hunger oder dem Enthusiasmus seines Gegenübers zu verdanken hatte. »Eine Mordermittlung ist eine ernste Angelegenheit, bei der man sehr vorsichtig und mit Bedacht vorgehen muss. Das ist nicht wie in einem Indiana-Jones-Film.«

Payer grinste noch immer.

»Ich meine es ernst, Ernst. Ich will nicht, dass Sie sich in Gefahr begeben.«

»Keine Sorge«, ignorierte Payer die Mahnung des Chefinspektors. »Ich werde so dezent wie möglich sein. Wollen wir jetzt in die Mensa gehen, Würstel essen und danach Schnaps verkosten?«

Morell hatte Glück, denn just in diesem Moment klopfte es, und Moritz Langthaler steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Ah, Herr Morell, dachte ich doch, dass ich Sie in Dr. Payers Büro habe gehen sehen.«

»Komm nur herein, Moritz«, forderte Payer den jungen Dozenten auf. »Magst du einen Schnaps?«

»Nein, vielen Dank.« Langthaler betrat das Büro und suchte zögerlich nach einer Sitzgelegenheit.

»Hock dich ruhig auf die Diplomarbeiten.« Der Professor zeigte auf einen Bücherstapel.

Moritz Langthaler ließ sich vorsichtig auf dem wackeligen Packen nieder.

»Was gibt es denn?« Payer drückte dem jungen Mann ein randvolles Schnapsglas in die Hand. »Selbstgebrannter Quittentraum«, fügte er verschwörerisch hinzu. »Nur was für ganze Kerle.«

Langthaler schaute angewidert auf das Glas – wie es schien, war Payers Schnaps am ganzen Institut in Verruf. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie auf mich zählen können, wenn Sie Hilfe brauchen. Ich möchte wirklich alles dafür tun, um Dr. Lorentz zu entlasten. Ich habe von Anbeginn an seine Unschuld geglaubt.«

Morell nickte dankbar.

»Anna Wondraschek hat bald die versprochene Liste zusammengestellt«, fuhr Langthaler fort. »Wir können sie dann spätestens morgen mit den Fotos abgleichen.«

»Sehr gut.« Morell nickte. Bis dahin sollte auch die Versiegelung von Novaks Büro wieder aufgehoben sein, so dass sie ohne Umstände ein und aus gehen konnten.

»Na, dann ist ja alles wunderbar.« Payer lächelte und zeigte auf das Schnapsglas, das Langthaler noch immer in der Hand hielt. »Darauf trinken wir! Also, runter mit dem Zeug!«

Morell beobachtete nicht ohne Schadenfreude, wie Langthaler das Gebräu hinunterkippte und angewidert das Gesicht verzog. »Ich muss dann mal wieder los«, sagte er und stand auf. »Rufen Sie mich bitte an, sobald die Liste fertig ist.«

»Das werde ich tun«, sagte der Dozent, nachdem er die Kontrolle über seinen Körper wieder zurückerlangt hatte.

»Und was ist mit den Würsteln und dem Schnaps?«, wollte Payer wissen. »Wir hatten doch ausgemacht …«

Kein Gejammer, keine Schwäche. »Heute nicht. Ein anderes Mal.« Morell schloss die Tür hinter sich und ging mit einem Lächeln im Gesicht den Flur entlang. Er hatte ganz vergessen gehabt, wie wunderbar es sich anfühlte, die Dinge unter Kontrolle zu haben. »Geht doch«, murmelte er leise.

 

Das nächste Erfolgserlebnis bescherte sich der Chefinspektor im nahe gelegenen Supermarkt. Tapfer ignorierte er die lauten Iss-mich-Rufe von Nussecken, Punschkrapfen und Käsesemmeln und kaufte sich stattdessen ein Vollkornbrot und etwas Obst. Er biss gerade in einen Apfel, als sein Handy läutete.

»Servus, Nina. Alles gut bei dir?«

»Nein, nicht wirklich. Ich bin auf hundertachtzig und kann gar nicht mehr aufhören, mich aufzuregen.« Sie erzählte Morell von ihrer Begegnung mit Weber.

»Bitte sag mir, dass das nur ein dummer Scherz ist und du dich nicht wirklich mit Weber getroffen hast! Wenn der draufkommt, was wir hier treiben, kommen wir in Teufels Küche.« Der Chefinspektor unterdrückte die aufkeimende Panik, indem er innerlich sein neues Mantra wiederholte. Verzagtheit und Kleinbeigeben waren etwas für den alten Morell. Der neue war souverän und würde sich nicht von dem Gedanken an seinen Exkollegen einschüchtern lassen. »Hat dein Gespräch wenigstens irgendwas Interessantes ergeben?«, fragte er also.

»Ich habe tatsächlich was Spannendes erfahren: Es war Novaks Nachbar, der der Polizei erzählt hat, dass Leander zur Tatzeit im Institut war. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was dieser Typ mitten in der Nacht dort wollte. Weber will darüber natürlich nicht nachdenken – er ist so sehr von Leanders Schuld überzeugt, dass er anderen Möglichkeiten gegenüber völlig blind und taub ist.«

»Hmmm.« Morell überlegte. »Das ist tatsächlich sehr interessant. Am besten, wir statten diesem ominösen Nachbarn mal einen kleinen Besuch ab.«

»Echt?« Capelli, die genau das geplant hatte, war sicher gewesen, dass es einiges an Zeit und Überredungskunst kosten würde, Morell für diese Aktion zu erwärmen. »Wo bist du? Ich hole dich ab.« Sie musste handeln, bevor Otto Morell es sich anders überlegte.

 

Capellis kleiner grüner Ford legte exakt acht Minuten später eine Vollbremsung neben Morell hin, der gerade seinen dritten Apfel aß und zu der Erkenntnis gelangt war, dass Obst zwar gut schmeckte, aber nicht wirklich satt machte.

»Spring rein«, rief die Gerichtsmedizinerin und brauste los, noch bevor ihr Beifahrer Zeit hatte, sich anzuschnallen.

»Wenn du unbedingt mit deinen Patienten den Platz tauschen willst, dann fahr nur weiter so.« Der Chefinspektor tätschelte seinen Magen, der lautstark seinen Unmut über die unzureichende Nahrung und die rasante Fahrt kundtat.

Novaks Zuhause lag in einem ausgesprochen teuren Viertel. Döbling, der neunzehnte Bezirk, lag am nordwestlichen Rand Wiens und erstreckte sich über knapp 25 Quadratkilometer. Je weiter man in Richtung Stadtrand fuhr, desto näher kam man den Weinbergen und dem Wienerwald und desto exklusiver wurden auch die Wohngegenden. Luxuriöse Villen mit tollen Ausblicken, riesigen Gärten und gepflegten Einfahrten dominierten hier das Umfeld.

»Da müssen wir rein.« Nina zeigte auf eine schmale Gasse, die sich linker Hand einen kleinen Hügel hochschlängelte. Am unteren Ende des Wegs befand sich eine kleine, moderne Kirche, die unter dem Patronat der heiligen Margareta von Antiochien stand. Da die Märtyrerin als Patronin der Gebärenden und Unfruchtbaren galt, pilgerten tagtäglich schwangere Frauen oder solche, die es gerne werden wollten, in das Gotteshaus und zündeten Kerzen an. Die kleine Kirche passte vom Stil genau zu den dahinter liegenden modernen Designerhäusern, die so wirkten, als wären sie extra für eine Sonderausgabe von Schöner Wohnen gebaut worden.

Morell und Capelli parkten schräg gegenüber von Novaks Haus, stiegen aus dem Auto und sahen sich um. Der Chefinspektor gab es nicht gerne zu, aber bei dem Gedanken, in dieser vornehmen Gegend völlig unvorbereitet und geheim herumzuschnüffeln, keimte schon wieder leichte Panik in ihm auf. Leise wiederholte er sein Mantra.

»Welcher Nachbar ist wohl der besagte?«, riss Capelli ihn aus seinen Gedanken. »Der rechte, der linke oder der vis-à-vis?«

Morell zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, wir müssen uns wohl durchfragen.«

Wie auf Kommando öffnete sich die Tür des rechten Nachbarhauses, und ein älterer Herr in einer braunen Cordhose, einer beigen Burberry-Jacke und einer Schirmmütze mit einem BMW-Aufnäher trat heraus. Neben ihm trottete gemächlich ein silberfarbener Weimaraner.

»Los geht’s!« Capelli stieß Morell an. »Worauf warten wir?«

Das ging sogar dem neuen Morell ein wenig zu schnell. »Ich habe mir noch gar keine Strategie überlegt«, zischte er.

»Dann improvisieren wir einfach.«

Noch bevor Morell etwas entgegnen konnte, überquerte der Mann die Straße und kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er und kraulte seinen Hund hinter den Ohren. Dieser musterte die beiden Fremden erst neugierig und begann dann an Morells Hosenbein zu schnuppern. »Keine Sorge, der tut Ihnen nichts«, versicherte der Mann dem Chefinspektor, der das Tier misstrauisch beäugte – Morell war und blieb ein Katzenmensch und konnte Hunden einfach nichts abgewinnen.

»Es geht um den Mord an Herrn Novak. Einer seiner Nachbarn hat anscheinend ein paar wichtige Beobachtungen gemacht, und wir haben diesbezüglich noch ein paar Fragen«, sagte der Chefinspektor.

»Sind Sie von der Presse?«

»Nein, von der Polizei«, sagte Capelli und kassierte dafür einen bösen Blick von Morell.

Der Mann war mit dieser Antwort anscheinend zufrieden, denn er wollte, sehr zu Morells Erleichterung, weder Namen noch Dienstgrade wissen oder gar Ausweise sehen. Er zeigte auf das kleine Haus, das links neben der Novak-Villa stand. »Der Augenzeuge, den Sie suchen, ist Pfarrer Stimpfl. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet er dazu beigetragen hat, den Mörder zu schnappen.«

»Warum Ironie?«

»Stimpfl und Novak – das waren vielleicht zwei Streithammel. Die beiden alten Dickschädel haben sich gegenseitig das Leben ganz schön schwergemacht. Novak hat sich zum Beispiel ständig über das Läuten der Kirchenglocken aufgeregt und Stimpfl sogar wegen Ruhestörung angezeigt. Dafür hat der Pfarrer ihm Graberde direkt auf die teuren Orchideen geschaufelt, was wiederum zur Folge hatte, dass Novak nächtelang alle Kerzen auf dem Friedhof ausgelöscht hat. Daraufhin wurde er von Stimpfl wegen Störung der Totenruhe angezeigt … und so weiter und so fort.« Der Mann tätschelte seinen Hund, der langsam unruhig wurde. »Ja, ja … wir gehen ja schon.«

»Interessant«, murmelte der Chefinspektor. »Sie wissen nicht zufällig, was der Auslöser für diese Feindseligkeiten war?«

Der Nachbar schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Am besten, Sie fragen Pfarrer Stimpfl selbst.«

»Das werden wir auf jeden Fall tun«, sagte Capelli. »Vielen Dank.«

 

Das Pfarrhaus war kleiner und schlichter als die umliegenden Villen, versprühte aber weitaus mehr Charme. Es war ein einfaches, einstöckiges Gebäude mit einem gepflegten Garten, in dem Gänseblümchen, Sonnenblumen und Obstbäume wuchsen.

»Lass uns bitte kurz besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen«, versuchte Morell Capelli zu bremsen, die voller Elan zur Eingangstür geeilt war, aber zu spät – die Gerichtsmedizinerin hatte bereits auf den Klingelknopf gedrückt. »Wir geben uns jedenfalls nicht mehr als Polizisten aus«, bestimmte der Chefinspektor. »Stell dir nur mal vor, was alles passieren könnte, wenn irgendwer sich bei Weber nach uns erkundigt. Es reicht, dass die Archäologen denken, ich wäre ein offizieller Ermittler.«

»Was sollen wir denn sonst sein?«

Noch bevor Morell sich eine Antwort überlegen konnte, wurde die Tür geöffnet.

»Grüß Gott. Was kann ich für Sie tun?« Stimpfl war ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und dichtem, weißem Haar. Sowohl Capelli als auch Morell hatten erwartet, dass er ein Collarhemd, eine Soutane oder etwas Ähnliches tragen würde, doch zu ihrer Überraschung trug er Jeans und ein einfaches blaues Hemd.

»Wir sind wegen Herrn Novak hier.« Morell war es ziemlich unangenehm, dass sein Gegenüber ein Priester war. Es fiel ihm ja schon schwer, normale Menschen anzuschwindeln, aber einen Mann, der für Gott arbeitete – das war Lügen für Fortgeschrittene.

»Sie kommen von der Pietät, nicht wahr?«, sagte Stimpfl.

Morell war völlig perplex. Woher zur Hölle wusste der Priester von seinem Job beim Bestatter. Er fand die Situation mehr als nur unheimlich, bis ihm einfiel, dass er immer noch die kleine Anstecknadel trug, die Eschener ihm geschenkt hatte. »Ähm … ja … wir kommen von der Pietät«, improvisierte er.

»Es tut mir leid, aber Sie sind umsonst hier. Meine Antwort ist und bleibt ›Nein‹. Vitus Novak wird von mir kein kirchliches Begräbnis bekommen.«

»Wir akzeptieren natürlich Ihre Entscheidung«, versuchte der Chefinspektor, der keine Ahnung hatte, wovon Stimpfl sprach, die Konversation am Laufen zu halten. »Aber könnten wir vielleicht trotzdem noch einmal kurz darüber reden?«

Der Pfarrer zuckte mit den Schultern. »Ich hatte zwar bereits ein ausführliches Gespräch mit der Witwe und Herrn Eschener, aber ich kann Ihnen die Sachlage natürlich gerne noch einmal erklären. Bitte treten Sie ein und folgen Sie mir.«

Capelli sah Morell fragend an. »Ich versteh nur Bahnhof. Warum denkt er, wir seien Bestatter?«, zischte sie.

»Weil es die Wahrheit ist«, flüsterte der Chefinspektor.

»Hä?«

»Ich erklär’s dir nachher. Bis dahin sagst du am besten gar nichts und lässt mich reden.«

 

Das Wohnzimmer von Pfarrer Stimpfl war schlicht eingerichtet. In einer Ecke befand sich eine braune Ledercouch, vor der ein kleiner Tisch stand. Es gab einen Fernseher, eine Stereoanlage, einen flauschigen, weißen Teppich und ein paar Pflanzen. Einzig das große Holzkreuz an der Wand sowie eine Marienskulptur und mehrere Rosenkränze auf dem Tisch erinnerten daran, dass dies die Wohnung eines Priesters war.

»Bitte sehr, Herr …«, Stimpfl deutete auf das Sofa.

»Oh, wie unhöflich. Ich habe uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Mo… Reiter. Thomas Reiter, und das hier ist meine … meine … Assistentin … Frau …« Morell ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern. »Frau Kreuz. Maria Kreuz.« Der Chefinspektor kassierte ein Augenrollen von Capelli, ließ sich davon aber nicht aus dem Konzept bringen. »Herr Novak soll also ohne kirchlichen Segen beerdigt werden?«

»So ist es.« Stimpfl setzte sich aufrecht auf einen Stuhl und schlug die Beine übereinander. »Vitus Novak war kein großer Freund der Kirche und wollte ganz sicher kein christliches Begräbnis. Ich denke, wir sollten diesen Wunsch respektieren.«

»Ihre Weigerung hat also nichts mit den Unstimmigkeiten zu tun, die zwischen Ihnen und dem Verstorbenen herrschten?«, wollte Morell wissen.

»Aber nein.« Stimpfl winkte ab. »Professor Novak als Nachbarn zu haben war zwar eine wahre Bürde, doch wie steht es im elften Psalm so schön geschrieben: ›Der Herr prüft den Gerechten.‹ Vitus Novak war ein Mann der Wissenschaft. In seinem Leben gab es keinen Platz für den Glauben, für Gott oder die Kirche. Daraus machte er keinen Hehl, was natürlich zu Reibereien führte. Aber ich habe ihm stets verziehen, denn ich bin ein Mann Gottes, und Vergebung gehört zu meinem Beruf.«

»Wir haben gehört, Sie haben Ihrem Nachbarn nicht nur vergeben, sondern sollen auch das Ihre dazu beigetragen haben, seinen Mörder zu finden«, lenkte Morell das Thema geschickt auf die Mordnacht.

Der bisher eher reservierte Stimpfl bekam ganz rote Wangen. »Ich habe nur meine Pflicht getan«, sagte er und lächelte.

»Erzählen Sie. Das klingt spannend«, hakte Capelli nach.

Der Priester beugte sich ein wenig nach vorn und senkte seine Stimme. »Novak war stets sehr darauf bedacht, mir und meiner Kirche zu schaden. Als am Tag vor dem Mord die große Jesusfigur aus der Sakristei gestohlen wurde, fiel mein Verdacht natürlich sofort auf ihn. Als ich bemerkt habe, wie er mitten in der Nacht das Haus verließ, bin ich ihm gefolgt – ich wollte verhindern, dass er irgendeinen bösen Schabernack mit dem Heiland anstellt. Die Beschattung endete damit, dass Novak in sein Institut ging. Ich habe gewartet, dass er herauskommt – was er aber nicht tat.«

»Dafür sahen Sie, wie jemand anderes das Gebäude verließ.«

»Genauso war es. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein Schock das war, als mir später bewusst wurde, dass ich einen kaltblütigen Mörder direkt nach seiner schrecklichen Tat beobachtet hatte. Brrrrrrr.« Stimpfl schüttelte sich. »›Siehe, der hat Böses im Sinn; mit Unglück ist er schwanger und wird Lüge gebären.‹ Siebter Psalm, Vers 14.«

»Novak wurde in seinem Büro getötet. Sein Kopf und sein Körper wurden aber an verschiedenen Orten gefunden. Sie haben also tatsächlich beobachtet, wie der Täter samt dem Leichnam das Institut verließ?«, fragte Morell.

Stimpfl nickte. »Es war dunkel, und ich hatte mich in einiger Entfernung hinter einem Auto versteckt, darum konnte ich keine Details erkennen. Aber der Mörder schleppte eindeutig etwas mit sich, das er anschließend in seinem Kofferraum verstaute.« Er schauderte erneut. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass es sich dabei um meinen unglücklichen Nachbarn – oder zumindest um Teile von ihm – handelte.« Er schüttelte den Kopf und bekreuzigte sich. »Wenigstens konnte ich mich später an den Wagen des Mörders und an die ersten paar Ziffern des Nummernschilds erinnern.«

Capelli konnte sich nicht mehr länger beherrschen. »Sind Ihnen denn nie Zweifel gekommen, ob das wirklich der Mörder war? Haben Sie vielleicht noch andere verdächtige Dinge beobachtet? Haben Sie sich nie gefragt, was Ihr Nachbar um diese Zeit im Institut wollte?«, sprudelte es aus ihr heraus.

»Sie stellen aber komische Fragen, Frau Kreuz.« Stimpfl musterte die Gerichtsmedizinerin.

Nina konnte den stechenden Blick des Chefinspektors spüren, der sich vorwurfsvoll in ihren Kopf bohrte. »Das ist ja wie in einem richtigen Krimi«, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen. »Wie spannend.«

»Nun ja, Frau Kreuz, ich würde dieses Erlebnis eher als schockierend bezeichnen. ›Ich wartete des Guten, und es kommt das Böse; ich hoffte aufs Licht, und es kommt Finsternis.‹ Hiob Kapitel 30, Vers 26.«

Morell spürte, wie die Gerichtsmedizinerin innerlich zu kochen begann, und erhob sich. »Frau Kreuz und ich müssen uns nun leider verabschieden. Wir haben noch eine Bestattung vorzubereiten.« Er wollte gehen, bevor sie etwas Unüberlegtes tat. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.«

»Richten Sie der Familie bitte noch einmal mein herzliches Beileid aus, Herr Reiter.« Stimpfl schüttelte Morells Hand zum Abschied. »Und Sie, Frau Kreuz, sollten nicht so viele Krimis lesen. Danken Sie lieber dem Herrn für das schöne, sorglose Leben, das er Ihnen geschenkt hat. ›Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.‹ Erstes Buch der Chronik. Kapitel 16, Vers 34.«

 

»Sie sollten nicht so viele Krimis lesen, Frau Kreuz«, äffte Capelli den Pfarrer nach, als sie und Morell wieder draußen auf der Straße waren. »Irgendetwas stimmt doch nicht mit dem. Der wird ja wohl in der Lage sein, einen Leichnam von einer Kiste mit Unterlagen zu unterscheiden … es sei denn …« Sie schielte auf das Pfarrhaus.

»Es sei denn was …?«

»Es sei denn, er selbst ist der Mörder und hat in Leander den perfekten Sündenbock gefunden.«

»Ich werde an ihm dranbleiben«, sagte Morell, dem die Vorstellung, einen Priester als Verdächtigen zu haben, alles andere als zusagte. Ein Mann Gottes als kaltblütiger Schlächter? Es musste eine andere Lösung geben. »Wenn wir schon mal hier sind, könnten wir doch gleich auch die Witwe befragen«, schlug er vor.

Capelli starrte Morell mit offenem Mund an. Sie war erneut über die plötzliche Energie des Chefinspektors erstaunt.

»Ist irgendwas?«, wollte dieser wissen.

»Nein, alles bestens, Herr Reiter.«

Leider wurde Morells Enthusiasmus dadurch gebremst, dass bei den Novaks niemand die Tür öffnete.

»Ist wohl keiner daheim«, stellte Capelli enttäuscht fest.

»Halb so schlimm – ich werde Frau Novak wahrscheinlich sowieso bald in der Pietät treffen.«

»Das musst du mir genauer erzählen«, forderte die Gerichtsmedizinerin, während sie zum Auto gingen. »Was zur Hölle machst du beim Bestatter? Und woher kommt dieser plötzliche Tatendrang?«

Morell zuckte mit den Schultern. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Kein Problem.« Capelli stieg in den Wagen. »Ich habe Zeit.«

 

In dieser Nacht lag der Chefinspektor noch lange wach und konnte nicht einschlafen. Er hatte schon wieder an Valerie denken müssen und kam außerdem vor lauter Kohldampf fast um: Hunger und Herzeleid – eine katastrophale Kombination.

Frustriert starrte Morell an die Decke und versuchte, sowohl seine Exfreundin als auch die Käsehäppchen, Schokokuchen und Sahnetorten zu ignorieren, die fröhlich vor seinem inneren Auge herumhüpften. »Nicht jammern und nicht schwach werden«, murmelte er leise. Er durfte seinen Gelüsten jetzt nicht nachgeben – nicht schon am ersten Tag.

Morell verscheuchte also die süßen Verlockungen und versuchte einzuschlafen. Wenn er Lorentz wirklich entlasten und das Rätsel um Benedikt Horsky lösen wollte, dann musste er morgen fit und ausgeruht sein.