»Dann nur ein Grab auf grüner Flur,
Und nah nur, nah bei meinem Neste,
In meiner stillen Heimat nur!«
Anette von Droste-Hülshoff, Letzte Gaben
Morell klingelte mit dem Modell GESEGNET unter dem Arm an Frau Horskys Wohnungstür. »So viele Jahre haben wir nicht gewusst, wo du steckst«, sagte er und tätschelte die Urne. »Deine Mutter wird sich echt freuen, wenn sie erfährt, wie alles gewesen ist.«
Frau Horskys Freude war tatsächlich überwältigend. Die alte Frau brach vor lauter Glück in Tränen aus, als Morell ihr in einer feierlichen Geste die große Urne übergab.
»Sie haben endlich meinen Sohn zu mir zurückgebracht und mich damit zur glücklichsten Frau der Welt gemacht. Wie kann ich Ihnen nur danken?«, rief sie mit tränenerstickter Stimme und schlang ihre knochigen Ärmchen um den fülligen Leib des Chefinspektors.
»Ach«, winkte Morell ab, der von Frau Horskys Gefühlsausbruch ziemlich gerührt war. »Ich habe doch nur meinen Job gemacht. Ihr Apfelstrudelrezept ist Dank genug.«
Frau Horsky ließ Morell los, schnäuzte sich und lächelte. »Aber natürlich«, sagte sie. »Das Rezept. Sie werden überrascht sein! Einen kleinen Moment noch – ich mache es meinem Benedikt noch schnell gemütlich, und danach werden wir zwei das Strudelgeheimnis lüften.« Sie stellte die Urne auf einen kleinen Beistelltisch und drapierte vorsichtig ein paar Kerzen drum herum. »So«, sagte sie, als sie fertig war. »Dann hole ich Ihnen mal schnell Ihre Belohnung.« Sie lächelte verschmitzt und ging in die Küche. Wenige Augenblicke später kam sie zurück und drückte Morell eine Packung tiefgefrorenen Fertigstrudel in die Hand.
Die alte Dame hatte ihn offenbar nicht richtig verstanden. »Nein, nein, ist nett gemeint, aber so was brauche ich nicht. Mir geht es doch nur um Ihr Rezept.«
»Das ist das Rezept.«
Morell starrte erst Frau Horsky und dann die eisige Strudelpackung mit offenem Mund an. »Aber das ist …«
»Fertigstrudel vom Discounter«, sagte Frau Horsky immer noch lächelnd. »Backrohr vorheizen, Apfelstrudel reinschieben und dann bei 180 Grad circa 15 Minuten goldbraun backen.«
Morell konnte es nicht fassen. Jahrelang hatte er alles Menschenmögliche versucht, um das Geheimnis von Frau Horskys Strudel zu lüften, und jetzt das! Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Ähm … ja … ich glaube, ich muss dann mal los.«
Er gab Frau Horsky die Packung zurück und verließ die Wohnung. Er würde wohl ein bisschen Zeit brauchen, um diesen Schock zu verdauen. »Fertigstrudel«, murmelte er fassungslos, während er die Tür zu Capellis Wohnung aufsperrte. »Und dann auch noch vom Discounter.«