»Mir gibt das Grab mehr Sicherheit,

es schafft mir wenigstens Vergessen.«

Georg Büchner, Dantons Tod

Als Morell das Archäologiezentrum verließ, war der heftige Wolkenbruch von vorhin in einen dünnen Sprühregen übergegangen. Diese Form des Niederschlags – so fand zumindest Morell – war die unangenehmste von allen. Sie war kein ehrlicher, geradliniger Schauer und auch kein sanftes, zartes Rieseln, sondern eine Ansammlung kleiner, hinterhältiger Tröpfchen, die so taten, als wären sie gar nicht existent. Heimlich, still und leise schlichen sie in jede noch so kleine Ritze, die sie in der Kleidung fanden, und durchweichten deren Träger bis auf die Knochen. Am allergemeinsten aber war die Tatsache, dass es vor ihnen keinen Schutz gab. Gegen einen anständigen Regenguss konnte man sich mit einem Schirm oder einer Kapuze zur Wehr setzen, aber gegen Nieselregen war kein Kraut gewachsen. Morell versuchte daher erst gar nicht, ihm die Stirn zu bieten. Er machte sich mit verkniffener Miene und hochgezogenen Schultern auf den Weg zu der ersten Adresse, die Bender ihm durchgegeben hatte – der von Wilfried Uhl.

Uhl betrieb doch keine Strandbar auf Kreta, sondern einen kleinen Laden im ersten Bezirk – und zwar ausgerechnet in der Blutgasse. Wien machte seinem Ruf als eine der morbidesten Städte der Welt wieder einmal alle Ehre.

Die Blutgasse befand sich in einem geschichtsträchtigen Viertel direkt hinter dem Stephansdom und war trotz ihres grausigen Namens wunderschön. Links und rechts der gepflasterten Straße standen einige der ältesten Häuser Wiens, die originalgetreu und mit viel Liebe zum Detail restauriert worden waren. Was den Namen der Gasse betraf, so gab es zwei Versionen: Die eine erzählte, dass sich im Mittelalter an dieser Stelle Schlachtplätze befunden hatten, eine andere besagte, dass dort im Jahre 1312 eine Gruppe von Templern so grausam ermordet worden sein soll, dass ihr Blut den Boden getränkt habe. Morell behagte weder die eine noch die andere Variante.

Obwohl die Blutgasse nicht gerade lang war, musste Morell einige Zeit nach dem Laden suchen, da dieser sich in einem versteckten Innenhof befand. ›Wilfried Uhl. Devotionalien und sakrale Artikel‹ stand dort in kleinen, geschwungenen Lettern neben einer unauffälligen Tür. Morell betrachtete die mickrige Auslage, in der geschnitzte Kreuze und ein paar bunte Rosenkränze leise vor sich hin staubten, und überlegte. Als was sollte er sich ausgeben? Als Polizist? Als Bestatter? Als Kunde? Er entschloss sich, sich auf Nachfrage ›privater Ermittler‹ zu nennen – es war am besten, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.

Als er die Tür öffnete, ertönte ein lautes Klingeln, auf das aber keine Reaktion folgte. Der Laden war unbeleuchtet und menschenleer, und Morell studierte etwas irritiert die Öffnungszeiten, die neben dem Eingang angeschlagen waren: Mo bis Fr 10:00 bis 12:00 Uhr und 14:00 bis 18:00 Uhr. An und für sich war geöffnet.

»Hallo?! Herr Uhl?!«, rief er, betrat das Geschäft und hielt nach einigen Schritten staunend inne. So etwas hatte er noch nie gesehen: Dieser Ort war ein römisch-katholischer Supergau, die unheilige Verschmelzung von Lourdes, Mariazell und Santiago di Compostela.

Morell befand sich in einem muffigen, weihrauchgeschwängerten Meer aus Engeln, Bibeln, Kerzen und Kreuzen. An der rechten Wand hingen ungefähr fünfzig Jesusse in allen nur erdenklichen Größen und Formen, und mindestens genauso viele Marien schauten mit vorwurfsvollen Blicken von einer Stellage hinter ihm herab. Es gab zig deckenhohe Regale, die mit allerlei sakralem Kitsch und groteskem Krempel vollgeräumt waren, und ein riesiger Beichtstuhl nahm mehr als ein Viertel der hinteren Wand in Anspruch. Das wohl Kurioseste und gleichzeitig auch Haarsträubendste in dem Laden war aber der Bereich ganz links. Dort war das Who’s who der christlichen Märtyrer versammelt. Auf Andachtsbildern, Medaillons und sogar auf Tellern ließen Männer und Frauen in jeder nur erdenklichen Fasson ihr Leben für den Glauben. Da wurde gekreuzigt, geköpft und gevierteilt, was das Zeug hielt. Ein Mann, laut Beschriftung der heilige Laurentius von Rom, wurde sogar auf einem eisernen Rost zu Tode gegrillt. Morell schauderte und griff nach einem Teller, auf dem eine Steinigung abgebildet war. Wer zum Teufel kaufte nur so etwas?

»Das ist der heilige Stephanus – der Erzmärtyrer. Er wird bei Besessenheit, Kopfweh und für eine gute Sterbestunde angerufen.«

Morell fuhr erschrocken herum, fasste sich ans Herz und ließ dabei beinahe den Teller fallen. »Halleluja, Sie haben mich aber erschreckt.«

»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Ich war gerade dabei, das Lager aufzuräumen, und muss dabei wohl die Türklingel überhört haben. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Morell, dessen Herz noch immer bis zum Hals schlug, stellte mit zitternder Hand den Teller zurück. »Ich suche Wilfried Uhl.«

»Sieht so aus, als hätten Sie ihn gefunden.«

Morell musterte Uhl. Dieser stinknormale Kerl sollte ›Crazy Willie‹ sein? Der Mann vor ihm wirkte alles andere als unkonventionell oder gar durchgeknallt. Ganz im Gegenteil – Uhl war die Durchschnittlichkeit in Person: Er war Ende fünfzig, mittelgroß, weder dick noch dünn, hatte kurzes, graumeliertes Haar und ein unauffälliges, glattrasiertes Gesicht. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und darüber ein Kord-Sakko. Noch gewöhnlicher und normaler ging es kaum. Von Crazyness keine Spur. Nun ja, den meisten Leuten sah man ihre Verrücktheit nicht an, und der verborgene Wahnsinn war meist um einiges schlimmer als der offen nach außen ausgelebte. Und jemand, der einen Laden wie diesen hier betrieb, konnte wohl tatsächlich nicht ganz normal sein.

»Mein Name ist Morell, und ich ermittle im Fall Novak. Haben Sie davon gehört?«

»Wer hat das nicht. Die Zeitungen sind ja voll davon. Der arme Vitus.«

»Sie haben den Toten also gekannt.«

»Ja, wir haben vor einer halben Ewigkeit zusammen studiert.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Ich habe mich mit der trockenen Materie gelangweilt und das Studium abgebrochen. Bin danach ein paar Jahre durch die Welt gezogen und habe mich dann mit meinem kleinen Laden hier selbständig gemacht.«

»Und den Kontakt zu Ihren ehemaligen Kollegen haben Sie nicht aufrechterhalten?«

»Nein, wir haben uns nach meinem Ausstieg völlig aus den Augen verloren. Aber warum fragen Sie das alles? Ich dachte, der Fall sei bereits aufgeklärt.«

Der Chefinspektor beobachtete Uhl genauer. Täuschte er sich, oder hatte er gerade einen Hauch von Panik in der Stimme seines Gegenübers vernommen? »Es gibt da noch ein paar kleine Ungereimtheiten, die ich gerne klären möchte, und ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen können.«

»Ich? Ich habe Vitus seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Das macht nichts. Was mich interessiert, liegt schon einige Zeit zurück. Im Jahr 1978, um genau zu sein. Die Ausgrabungen auf dem Tell Brak. Sie und Novak haben damals zusammengearbeitet, nicht wahr?«

Uhl nickte. »Was hat denn das mit dem Mord zu tun?«

»Genau das versuche ich herauszufinden. Ich brauche deshalb so viele Informationen wie möglich über diese Expedition.«

Uhl grübelte, und Morell entging nicht, dass sich dabei kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. »Das ist so wahnsinnig lange her. Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Ich weiß nur noch, dass die Arbeit anstrengend und ziemlich langweilig war.«

»Es gab also keine besonderen Vorkommnisse oder irgendwelche spektakulären Funde?«, hakte Morell weiter nach.

»Nein!« Uhl lachte auf und schüttelte dann vehement den Kopf. »Mit Sicherheit nicht! Es sei denn, Sie bezeichnen Dreck und Steine als spektakulär.«

Morell ließ nicht locker. Im Laufe seiner Karriere hatte er schon oft mit Leuten zu tun gehabt, die ihm direkt ins Gesicht gelogen hatten – und Uhl war einer von ihnen. Das konnte er an dessen Mimik und Gestik erkennen. »Es gibt aber das Gerücht, dass Novak Geld verdiente, indem er wertvolle Funde auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Sein Lebensstil entsprach nicht unbedingt dem eines normalen Archäologen.«

»Das ist mit Sicherheit nur blödes Gerede. Vielleicht hat Novak ja reich geheiratet oder im Lotto gewonnen. Es gibt viele Wege, an Wohlstand zu gelangen – aber Archäologie ist keiner davon. Weder auf legale noch auf illegale Weise.«

»Versuchen Sie bitte noch einmal, sich an Syrien zu erinnern. Jedes noch so kleine Detail kann von Bedeutung sein.«

Uhl wischte sich über die Stirn. »Ich dachte, der Täter sei bereits gefasst worden.«

»Die Polizei hat geschlampt und den falschen Mann eingesperrt. Es ist darum doppelt wichtig, den wahren Mörder zu fangen. Erstens, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, und zweitens, um einen Unschuldigen zu entlasten.«

»Ich weiß zwar immer noch nicht, was diese Expedition damit zu tun haben soll, aber ich werde trotzdem noch mal nachdenken und mich bei Ihnen melden, falls mir noch was einfällt. Und bis dahin hilft Ihnen vielleicht das.« Uhl reichte Morell ein kleines Bildchen. »Das ist der Erzengel Michael, der Schutzheilige der Polizisten und Detektive.«

»Danke.« Der Chefinspektor nahm das Geschenk entgegen und war angenehm überrascht von der Tatsache, dass der Erzengel Michael weder gefoltert noch gemeuchelt wurde. »Einen interessanten Laden haben Sie hier.«

Uhl lächelte. »Bei mir gibt es Hilfe und Beistand, Hoffnung und Zuversicht. Heilige zum Anfassen und nicht dieses abstrakte Gerede, das die Priester jeden Sonntag zum Besten geben.«

»Wenn Sie meinen …«, setzte Morell an, als sein Magen laut anfing zu knurren. Verflixte Diät.

»Entweder Sie beten zur heiligen Walburga, der Patronin gegen Hungersnot, oder Sie gehen in die Bäckerei um die Ecke. Die haben tolle Plundertaschen«, sagte Uhl mit einem Augenzwinkern.

Morell spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, und verspürte das dringende Bedürfnis, tatsächlich in die Bäckerei zu stürzen. Er hielt kurz inne – ihm war eine Idee gekommen. Er drehte sich um und musterte noch einmal die Märtyrer-Teller. »Was kostet dieser da?« Er zeigte auf einen Mann, der zwischen zwei mit Nägeln besetzten Tafeln zu Tode gequetscht wurde.

»Der heilige Daniel von Padua kostet vierzehn Euro.«

»Gut, den nehme ich.« Morell zückte seine Brieftasche, gab Uhl neben dem Geld auch seine Visitenkarte und betrachtete dann voller Genugtuung seinen Neuerwerb. Er würde ab sofort nur noch von diesem Teller essen. Mit dem Bewusstsein, dass er mit jedem Bissen mehr von den Wunden, Schmerzen und dem gequälten Blick des heiligen Daniel freilegte, würde ihm selbst Frau Horskys Apfelstrudel nicht mehr schmecken. »Idealgewicht, ich komme«, murmelte er und ging zur Tür. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen.« Er wandte sich noch einmal an Uhl. »Können Sie sich vielleicht noch erinnern, was Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag gemacht haben? Das ist immerhin noch nicht ganz so lange her.«

Uhl bedachte Morell mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich bin doch wohl nicht verdächtig, oder?«

»Nein, keine Sorge, die Frage ist reine Routine.«

Uhl wischte sich noch einmal über die Stirn. »Ich … ähm … ich … war daheim.«

»Allein?«

Uhl setzte ein gequältes Grinsen auf. »Leider. Der letzte Damenbesuch ist schon eine Weile her.«

»Alles klar.« Morell setzte zum Gehen an, hielt aber erneut inne. »Ach ja: Ich soll Ihnen noch schöne Grüße von Ernst Payer ausrichten.«

Uhl schien erleichtert darüber zu sein, dass die Befragung endlich zu Ende war, und lachte auf. »Den Crazy Ernstl gibt es also auch noch? Was macht er? Wie geht es ihm?«

Morell musste schmunzeln. Wer war denn hier nun der Verrückte: Uhl oder Payer? »Er ist Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte, brennt seinen eigenen Schnaps und klagt über mangelnde Forschungsgelder.«

»Richten Sie dem alten Kerl schöne Grüße zurück aus – er soll mal mit einer Flasche Selbstgebranntem vorbeikommen, um über die alten Zeiten zu quatschen. Und Ihnen wünsche ich viel Freude mit dem heiligen Daniel.«

»Die werde ich haben.« Morell verließ den Laden und betrachtete auf der Straße die Ausbeute seines Besuchs: ein Heiligenbildchen, ein Märtyrer-Teller und ein Mann ohne Alibi, der offensichtlich etwas zu verbergen hatte.