»Ihr läugnet mir das nimmer ab,

denn wir legten ihn eben ins Grab.«

Hartmann von Aue, Iwein

Morell wurde durch das Klingeln seines Handys unsanft aus dem Schlaf gerissen und schielte müde auf die großen, roten Zahlen des Radioweckers: 06:23 Uhr. Wer um alles in der Welt rief denn an einem Samstagmorgen schon so früh an? Es musste sich um einen Notfall handeln. Hoffentlich war nichts Schlimmes in Landau passiert. Er drückte auf ›Annehmen‹, ohne vorher aufs Display zu schauen. »Morell«, meldete er sich.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Ähm … ich wollte eigentlich mit Thomas Reiter sprechen, aber anscheinend habe ich mich verwählt.« Es war Sebastian Jedler.

Morell erstarrte. An die Möglichkeit, dass es jemand aus der Pietät sein könnte, hatte er gar nicht gedacht. So ein dummer Fehler hätte ihm nicht passieren dürfen. Er versuchte sich in Schadensbegrenzung und verstellte seine Stimme so gut wie möglich. »Tjaaa, daaaa haaaben Sie sich wohl verrrwääählt«, sagte er.

»Entschuldigung.«

»Kein Prrroblem.« Morell legte auf und atmete tief durch. Jedlers Anruf hatte ihm einen ordentlichen Schreck versetzt, dank dem er nun hellwach war.

Wenige Sekunden später klingelte das Handy erneut. »Thomas Reiter«, meldete Morell sich dieses Mal mit seiner normalen Stimme.

»Hallo Tom, hier ist der Basti. Tut mir total leid, dass ich dich schon so früh stören muss, aber hier ist die Hölle los, und wir brauchen dringend deine Hilfe.«

»Was ist denn passiert?«

»Nix Besonderes. Es ist einfach nur einer dieser Tage, an dem die Leute sterben wie die Fliegen. Erst war da dieser fiese Unfall auf der Tangente. Motorrad gegen LKW. Keine schöne Sache …«

Morell merkte, wie sein Magen sich verkrampfte. »Und was noch?«

»In dem Altersheim, in dem wir gestern waren, ist schon wieder ein Insasse gestorben – den muss ich abholen, sobald ich mit dem Motorradfahrer fertig bin. Eschener ist mit der Organisation der Novak-Bestattung beschäftigt, und Frau Summer hat gerade einen Selbstmord und danach noch einen Herzinfarkt. Du müsstest dich um das Telefon und die tausend kleinen Dinge, die so anfallen, kümmern.«

 

Als Morell eine halbe Stunde später in der Pietät ankam, herrschte trotz der frühen Stunde bereits geschäftiges Treiben.

»Klasse, dass du so schnell kommen konntest!« Jedler klopfte ihm auf die Schulter. »Wie es scheint, schiebt Gevatter Tod heute ordentlich Überstunden. Gerade ist noch ein Todesfall reingekommen. Kannst du das bitte erledigen?« Er reichte Morell eine Liste. »Es geht um ein paar Blumengestecke, ein kurzes Gespräch mit dem Organisten, zwei Todesanzeigen und eine Parte.«

Morell nickte. Die Blumen, den Organisten und die Anzeigen würde er hinkriegen, aber das letzte? »Hilf mir kurz auf die Sprünge. Was war gleich noch mal eine Parte?«

Jedler schaute ihn argwöhnisch an. »Hast du bei Somnus nie Partezettel machen müssen?«

»Doch, aber das ist ja schon ein bisschen her.« Morell merkte, wie er rot wurde. Lügen war und blieb einfach eine seiner größten Schwächen.

»Das Wort Parte kommt vom französischen ›faire part‹, was auf gut Deutsch so viel wie ›mitteilen‹ heißt. Es wird darauf nämlich mitgeteilt, dass jemand gestorben ist. Du kannst dir die Parte wie einen Flyer vorstellen, der in verschiedenen Schaukästen aufgehängt und an Verwandte und Bekannte des Toten geschickt wird.«

»Ach so, du meinst einen Totenzettel.«

Jedler nickte. »Bei uns in Wien heißt das Parte.« Er kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber kritisch. »Wie auch immer – ich mache mich dann mal an die Arbeit. Es scheint heute ein recht sterbeintensiver Tag zu werden.«

»Alles klar«, murmelte Morell und hoffte, dass dies das letzte Fettnäpfchen für heute gewesen war.

 

Die Mitarbeiter der Pietät waren nicht die Einzigen, die schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen waren. Auch die Wiener Polizei nahm keine Rücksicht auf Wochenenden, Uhrzeiten oder den Schlafrythmus ihrer Beamten.

Chefinspektor Roman Weber war bereits gegen fünf Uhr morgens in eine Bar gerufen worden, in der eine Messerstecherei stattgefunden hatte, und befand sich nun auf dem Weg zurück ins Kriminalamt, wo ein Haufen Papierkram auf ihn wartete.

»Was für ein Mist«, sagte er zu seinem Kollegen Theo Wojnar, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. »Können sich diese besoffenen Idioten nicht zu einer halbwegs menschlichen Zeit die Bäuche aufschlitzen?« Da er ein bisschen fröstelte, schaltete er die Heizung des Wagens ein. Er war ein vielbeschäftigter Mann und hatte keine Zeit für Schnupfen, Halsweh und all das andere lästige Zeug, das der Herbst so mit sich brachte. Und außerdem – wie würde das denn aussehen? Er, der Held von Wien, ausgeschaltet von ein paar popeligen Viren. »Ich brauche dringend einen Kaffee«, konstatierte er, drehte die Heizung noch etwas höher und bog in die Josefstädter Straße ein. »Wenn ich mich nicht täusche, gibt es gleich da vorne eine nette, kleine Bäckerei, die schon offen hat.«

Wojnar nickte zustimmend und zeigte dann auf einen Zeitungsverkäufer, der am Straßenrand stand. »Sag mal – erscheint heute nicht dein Interview?«

»Doch!« Wie hatte er das nur vergessen können?! Weber legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung vor dem jungen Pakistaner hin, der beim Anblick der beiden Polizisten verunsichert die Hände in die Höhe hob.

»Keine Sorge«, sagte der Chefinspektor gönnerhaft. »Wir wollen deine Arbeitsgenehmigung gar nicht sehen. Gib mir einfach nur ein Exemplar von diesen da.« Er zeigte auf einen Stapel Zeitungen. »Oder weißt du was – gib mir gleich zwei, oder sagen wir fünf davon.«

Nachdem er dem verstörten Mann ein dickes Trinkgeld gegeben hatte, raste Weber zur Bäckerei – er konnte es kaum erwarten, den Bericht zu lesen.

»Bleib du nur sitzen und schau dir den Artikel an.« Wojnar stieg aus. »Ich hole uns schnell Kaffee und ein paar Croissants.«

Weber nickte, blätterte voller Vorfreude auf Seite drei – und erstarrte. Was sollte denn das? Etwas Schlimmeres hätten ihm die dummen Zeitungsheinis nicht antun können: Sie hatten seinen Namen falsch geschrieben. Er hieß WEBER, nicht WEHNER! Wie um alles in der Welt hatte nur so etwas passieren können? Verärgert warf er alle fünf Zeitungen auf den Rücksitz und umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Einmal im Leben passierte ihm etwas Gutes. Einmal im Leben war er der Star, der Held, der Mann der Stunde. Und dann? Dann vermasselten ihm diese ignoranten Pressefuzzis seine fünfzehn Minuten Ruhm, indem sie ihn Roman Wehner nannten. Am liebsten hätte er die Reporter verhaftet und wegen akuter Dummheit eingesperrt. Nachdem das aber leider nicht ging, musste er seinem Zorn irgendwo anders Luft machen – aber wo? Unvermittelt fiel ihm sein Verdacht bezüglich Morell wieder ein.

Wojnar riss Weber aus seinen Überlegungen, indem er die Beifahrertür öffnete und seinem Kollegen einen Becher mit dampfendem Kaffee und eine Tüte mit zwei Croissants unter die Nase hielt. »Na, wie ist der Artikel? Lass mal sehen!«, sagte er und stieg ein.

»Frag einfach nicht«, grummelte Weber, startete den Wagen und fuhr so abrupt an, dass Wojnar beinahe seinen Kaffee verschüttete.

»Hey, was ist denn jetzt los? Haben wir einen Einsatz, oder warum hast du es so eilig?«

»Frag einfach nicht«, wiederholte Weber, und Wojnar entschied, dass es wohl das Beste war, einfach den Mund zu halten. Weber hatte vor drei Wochen aufgehört zu rauchen und versetzte seither die ganze Abteilung mit seinen unkontrollierbaren Launen in Angst und Schrecken. Er nahm einen großen Bissen von seinem Croissant, schaute zum Fenster hinaus und schwieg. Er sagte auch nichts, als sein Kollege wenige Minuten später den Wagen unsanft im Parkverbot vor der Pietät abstellte.

»Bin gleich wieder da«, sagte Weber und stieg aus. Sollte sich herausstellen, dass der ominöse Thomas Reiter wirklich Otto Morell war, dann sollte sich dieser lieber warm anziehen!

Er ging mit entschlossenem Schritt zum Eingang, zögerte dort aber einen Moment. Es war erst kurz nach sieben – ob das Bestattungsinstitut wohl schon offen hatte? Sollte es eigentlich – der Tod hielt sich schließlich an keine Öffnungszeiten. Er zog an der Tür, die tatsächlich aufging, und betrat den Ausstellungsraum – keiner da. Er nahm einen Schluck Kaffee und sah sich um. Urnen, Särge, Totenhemden, Kruzifixe und Kerzen so weit das Auge reichte. Ein leichter Schauer rann Webers Rücken hinunter, als unangenehme Erinnerungen an den Tod seines Vaters in ihm hochstiegen. »HALLLOOO?!«, rief er ungeduldig.

 

Jedler wollte gerade in den Keller gehen, als die Eingangstüre bimmelte. »Nicht schon wieder Kundschaft«, stöhnte er. »Dafür habe ich jetzt echt keine Zeit.« Er wandte sich an Morell. »Sieht so aus, als müsstest du das übernehmen. Oder hast du auch vergessen, wie man ein Beratungsgespräch führt?«

Morell zuckte zusammen. »Ähm … nein … natürlich nicht … kein Problem.«

»Dann ist ja gut.« Jedler verschwand in sein unterirdisches Reich, und Morell blieb allein im Flur zurück.

Ein Beratungsgespräch … jetzt … und er war völlig unvorbereitet. »Ruhig bleiben und Nerven bewahren«, sagte er zu sich selbst. »Kein Gejammer, keine Schwäche.« Was konnte denn schon großartig schiefgehen? Er würde den Trauernden sein Beileid aussprechen, sie fragen, was für eine Bestattungsart sie sich wünschten, und ihnen anschließend Särge und wenn nötig auch Urnen zeigen. Ein Klacks.

»HALLLOOO?!«, rief eine unfreundliche Stimme aus dem Ausstellungsraum, die Morell irgendwie bekannt vorkam.

»Nicht aus der Ruhe bringen lassen«, murmelte er. Das sind Menschen, die sich in einem Ausnahmezustand befinden. Da dürfen sie auch ruhig ein bisschen ungeduldig sein. Er holte noch einmal tief Luft und öffnete die Tür.

 

Weber trippelte unangenehm berührt zwischen den Bestattungsutensilien herum. Noch vor weniger als einer halben Stunde hatte er in einer riesigen Blutlache gestanden und mit angesehen, wie zwei Sanitäter einen Mann verarzteten, dem ein Messer bis zum Anschlag im Bauch steckte. Das hatte ihm absolut nichts ausgemacht – im Laufe seiner Karriere hatte er schon weitaus Schlimmeres gesehen. Die Särge und Urnen machten ihn aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund nervös. »HALLLOOO?!«, rief er also noch einmal. »Ist da jemand? Ich möchte bitte sofort mit einem Mitarbeiter sprechen.«

 

Morell erstarrte. WEBER! Was wollte der denn hier? Er hielt die Luft an und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Ganz egal, was seinen Exkollegen hergeführt hatte – er durfte ihn auf keinen Fall sehen.

So leise wie möglich zog er die Tür wieder zu und schaute sich hektisch um. Die zwei Beratungszimmer waren besetzt und weder die Toilette noch die Trauerhalle waren ein gutes Versteck, da jederzeit jemand hineinplatzen konnte.

Nach kurzem Überlegen beschloss er, in den Keller zu schleichen, durch die Garage auf die Straße zu gehen und sich dort so lange versteckt zu halten, bis Weber wieder weg war – ja, das war ein guter Plan.

Morell huschte also ins Souterrain, sauste an der Kühlkammer, dem Lager und dem Thanatopraxieraum, in dem Jedler laut singend vor sich hin arbeitete, vorbei und schlüpfte in die Garage. Erst jetzt traute er sich wieder zu atmen. »Puh, gerade noch mal gut gegangen«, keuchte er und öffnete die Tür nach draußen. Die Erleichterung hielt leider nur ein paar Sekunden an, denn direkt in der Ausfahrt stand ein Streifenwagen, in dem Wojnar saß und genüsslich ein Croissant aß. Morell schlug die Tür wieder zu und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren.

 

Obwohl auf sein Rufen keinerlei Reaktion folgte, dachte Weber nicht im Traum daran, unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Wenn Morell tatsächlich die Frechheit besaß, heimlich in seinem Fall herumzuschnüffeln, dann hatte er einen Denkzettel verdient – und zwar jetzt sofort, denn er brauchte nach dem Zeitungsdesaster dringend eine Gelegenheit, sich abzureagieren. Er öffnete also die Hintertür und trat auf den Flur. »HALLLOOO!?«, rief er noch einmal. »Wo sind denn hier alle?«

Er wollte sich gerade ein bisschen genauer umsehen, als eine Tür rechts von ihm aufging und eine ältere, rundliche Frau mit wuscheligem weißem Haar heraustrat.

»Pssst!«, sagte sie und legte einen Finger an die Lippen. »Ich habe gerade ein Gespräch. Ist denn niemand vorne im Ausstellungsbereich?«

Weber verneinte.

»Das tut mir leid, bitte entschuldigen Sie.« Die Dame bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick, stellte sich als Frau Summer vor und tätschelte seine Hand. »Könnten Sie sich vielleicht einen kleinen Moment gedulden? Ich komme so schnell wie möglich zu Ihnen. Es dauert sicherlich nicht lange.«

Weber antwortete nicht, sondern zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn Frau Summer vor die Nase. »Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer Mitarbeiter – einem gewissen Herrn Reiter. Ist er zufällig hier?«

Frau Summer wurde ganz blass um die Nase. »Hat der Herr Reiter etwas angestellt?«, fragte sie und schlug eine Hand vor den Mund.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Weber und steckte sich einen Zahnstocher in den Mund. »Dazu muss ich erst einmal seine Personalien feststellen.«

 

Durch Morells Kopf rasten tausend Gedanken – was sollte er jetzt tun? In der Garage konnte er schlecht bleiben, da Jedler jeden Moment auftauchen konnte, um ins Altersheim zu fahren. Die Tatsache, dass er hier drinnen hockte anstatt oben ein Beratungsgespräch zu führen, würde ihn in ziemlichen Erklärungsnotstand bringen. Ihm blieb also nur der Weg zurück.

Gerade als er die Garagentür vorsichtig hinter sich schloss, hörte er Schritte am oberen Ende der Treppe. Das unverkennbare Klick-Klack von Stöckelschuhen verriet ihm, dass es sich dabei um Frau Summer handeln musste.

»Herr Reiter?!«, rief sie auch schon. »Sind Sie irgendwo da unten? Hier möchte jemand mit Ihnen sprechen.«

Morell überflog die Optionen, die ihm blieben: Kühlkammer oder Lager. Die Wahl fiel ihm nicht schwer – das Lager war das kleinere Übel, und außerdem war es näher.

So leise wie möglich schlich er sich ran, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Gerade noch rechtzeitig, denn die Schritte waren jetzt ganz nah. Es handelte sich um zwei Personen, die, wie es schien, zum Thanatopraxieraum gingen.

»Geh, Sebastian, sag, ist der Herr Reiter schon da?«, hörte er Frau Summer fragen.

»Jep, der ist gerade oben und berät einen Kunden.«

»Nein, das tut er nicht.« Das war Webers Stimme. »Wo sonst könnte er sein?«

»Vielleicht sucht er was im Lager.«

»Das wäre möglich – ich werde nachsehen. Danke, Sebastian.«

Erneut ertönte das Klick-Klack von Frau Summers Schuhen auf dem harten Fliesenboden.

Nun saß er also in der Falle. Nur mit Mühe unterdrückte Morell ein lautes Fluchen. Er musste von hier verschwinden oder sich verstecken, bevor Weber und Summer hereinkamen. Mit einem prüfenden Blick scannte er den Raum: Die beiden Fenster kamen als Fluchtweg nicht in Frage, da sie viel zu hoch oben, zu klein und außerdem vergittert waren. Er musste also einen Schlupfwinkel finden: Hinter den Schachteln mit den Totenhemden? Die waren nicht breit genug. Unter dem Regal? Zu schmal. Hinter den Kisten mit den Urnen? Die waren schwer, und er hatte nicht genug Zeit, um sie zu verrücken.

Sein Blick blieb an dem amerikanischen Klappsarg Modell Kennedy hängen, der im hinteren Teil des Zimmers stand – eine absolute Fehlinvestition, hatte Eschener ihm mit einem Seufzen erklärt. Viel zu teuer und dank seiner überdimensionalen Ausmaße nicht für die einfachen europäischen Erdgräber geeignet.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Särgen war der Deckel dieses Fabrikats nicht lose und musste angeschraubt werden, sondern man konnte ihn wie einen Kofferraum einfach auf- und zuklappen. Genau das tat Morell jetzt. Er öffnete die staubige Totenkiste und schielte in ihr Inneres. Allein bei dem Gedanken, sich da hineinzulegen, standen ihm alle Haare zu Berge, aber was war die Alternative? Von Weber entdeckt zu werden? Die Konsequenzen wollte er sich gar nicht erst ausmalen. Also stieg er hinein und zog den Deckel gerade noch rechtzeitig zu, bevor Frau Summer die Tür aufmachte.

»Hallo? Herr Reiter? Sind Sie hier?« Die Metallwände des Sarges blockten die Außengeräusche ab, so dass ihre Worte nur äußerst gedämpft und leise zu hören waren.

Morell spürte, wie eine Woge des Unbehagens durch seinen Körper raste. Hier drinnen war es nicht nur schrecklich eng und beklemmend, sondern auch noch unendlich stickig und dunkel. Kein einziger Lichtpartikel fand seinen Weg in diese modrige Konservenbüchse. Er hatte einmal gehört, dass das Wort Sarg vom griechischen Begriff Sarkophagos stammte, was übersetzt so viel wie ›Fleischfresser‹ hieß. Er lag also eingequetscht in einer fleischfressenden Kiste, während sein jähzorniger Exkollege nur wenige Zentimeter von ihm entfernt nach ihm fahndete. Er schauderte und presste sein Ohr so fest wie möglich an den muffigen Synthetikstoff, mit dem der Innenraum des Sarges ausgekleidet war.

»Wie lange arbeitet dieser Herr Reiter denn schon für Sie?«

»Seit zwei Tagen. Er ist noch auf Probe hier.«

»Ist Herr Reiter zufällig ein Tiroler?«

»Ich glaube schon – er kommt auf jeden Fall aus dem Westen. Vorarlberg oder Tirol, ich kann die beiden Dialekte nicht wirklich unterscheiden.«

Morells Herz pochte so laut, dass er befürchtete, es würde ihn verraten. Wie um alles in der Welt war Weber ihm nur auf die Schliche gekommen?

»Schauen wir doch noch einmal oben nach«, sagte Frau Summer. »Vielleicht war er ja nur kurz auf der Toilette. Ansonsten habe ich seine Telefonnummer – dann können wir ihn anrufen.«

Die Schritte entfernten sich, und einige Augenblicke später war das Öffnen und Schließen der Tür zu vernehmen. Es kostete Morell einiges an Überwindung, nicht augenblicklich den Sargdeckel hochzuwuchten und in die Freiheit zu springen. Er musste warten, bis er sicher sein konnte, dass Summer und Weber außer Hörweite waren, und zwang sich deshalb noch etwas auszuharren. Während er mit geschlossenen Augen regungslos dalag, trieb ihm vor allem ein Gedanke den Angstschweiß aus den Poren: Was, wenn er den Deckel nicht mehr aufbekam? Wenn irgendetwas klemmte? Wie lange würde die Luft ausreichen, bevor er elendig krepierte?

»Kein Gejammer, keine Schwäche und vor allem keine Panikattacke.« Er fummelte ziemlich umständlich sein Handy aus der Hosentasche, schaltete es aus und begann langsam von 30 rückwärts zu zählen.

 

Nachdem Herr Reiter unauffindbar blieb, ließ Weber sich von Frau Summer dessen Telefonnummer geben und verabschiedete sich. Groß, korpulent, Tiroler, seit zwei Tagen in der Pietät und versuchte Frau Novak den Floh ins Ohr zu setzen, dass Lorentz nicht der Täter war – das musste einfach Morell sein. »Na warte, Otto«, murmelte er, als er ins Auto stieg.

»Können wir los?«, wollte Wojnar wissen.

»Gleich.« Weber zückte sein Handy und wählte die Nummer, die er eben von Frau Summer bekommen hatte. Nachdem er eine grimmige Nachricht auf der Mobilbox hinterlassen hatte, startete er, ohne etwas Weiteres zu sagen, den Wagen.

Wojnar, der nicht riskieren wollte, Webers Stimmung noch mehr zu verschlechtern, verkniff sich die Frage nach den Details und trank schweigend den Rest seines Kaffees aus.

 

»… vier, drei, zwei, eins.« Morell hob den Sargdeckel an, setzte sich aufrecht hin und holte tief Luft. Das war ja zum Glück noch mal gutgegangen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacke, wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und wollte gerade aus seinem unfreiwilligen Gefängnis klettern, als er erneut Schritte auf dem Flur hörte. Waren die beiden etwa zurückgekommen? Er hatte keine Zeit, lange zu überlegen, da die Stimmen sich schnell näherten – er musste sich wohl oder übel noch einmal einsargen.

Im selben Moment, als er den Deckel über sich schloss und abermals in beengter, beklemmender Dunkelheit verschwand, wurde die Lagertür geöffnet.

»Scheiß Kieberei«, sagte eine gedämpfte Männerstimme zu einer anderen Person. »Ich habe mich fast zu Tode erschreckt, als ich geschnallt habe, dass ein Bulle im Haus ist.«

»Was er wohl von Herrn Reiter wollte?«, fragte eine zweite Stimme.

Morell presste sein Ohr wieder gegen die Sargwand und versuchte die Anwesenden zu identifizieren – ja, kein Zweifel, es handelte sich um Jedler und Eschener.

»Keine Ahnung. Die Sache ist mir jedenfalls nicht ganz geheuer. Wir müssen unbedingt vorsichtig sein und dem Reiter auf die Finger schauen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.«

»Glaubst du, dass er vom Gesundheitsamt oder der Gewerbeaufsicht sein könnte?«

»Was auch immer – wegen ihm hatten wir heute die Polizei im Haus, und das ist nicht gut. Seit der Sache mit dem Horsky werde ich schon nervös, wenn ich nur einen Polypen am Straßenrand stehen sehe.«

Als Morell den Namen Horsky hörte, vergaß er vor lauter Aufregung kurz, dass er in einem Fleischfresser lag. Da sieh mal einer an – die Pietät hatte also tatsächlich etwas mit dem Verschwinden von Frau Horskys Sohn zu tun.

»Apropos Horsky«, redete Jedler weiter. »Habe ich dir schon erzählt, dass Reiter nach ihm gefragt hat? Er hat behauptet, er sei ein alter Freund von ihm.«

»Und? Glaubst du ihm das?«

»Ich bin mir nicht sicher – wir sollten ihn auf jeden Fall im Auge behalten.«

»Auf drei«, sagte Eschener nach einer kurzen Pause. »Eins – zwei – und rauf damit.« Irgendetwas, wahrscheinlich ein Sarg, wurde hochgewuchtet. Anschließend ging die Tür auf und wieder zu.

Nachdem die beiden weg waren, zählte Morell noch einmal von 30 rückwärts, befreite sich und schlich wieder in den oberen Stock.

»Da sind Sie ja«, begrüßte ihn Frau Summer im Ausstellungsraum. »Ein Herr Weber von der Polizei hat nach Ihnen gesucht.«

»Tatsächlich?« Morell versuchte, Zeit zu schinden und sich eine Ausrede einfallen zu lassen.

»Ja, er sagte, er wolle Ihre Personalien aufnehmen. Sie haben doch nichts angestellt, oder?«

»Ähm … nein … natürlich nicht.« Wenn er für jede Lüge einen Euro kriegen würde, wäre er bald reich. »Er war sicher hier … wegen des …«, er schielte durch die Scheibe der Auslage auf die Straße, »… des Autodiebstahls. Ich habe beobachtet, wie ein paar halbstarke Jungs ein Auto geklaut haben. Dieser Herr Weber hatte sicher noch Fragen deswegen.«

»Ach so.« Frau Summer schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein. »Und wo waren Sie? Ich habe überall nach Ihnen gesucht.«

»Ja … also …« Morell fuhr sich übers Gesicht. »Ich hatte vergessen, meinen Kater zu füttern, und bin darum schnell noch mal nach Hause gefahren. Fred … also mein Kater … ist recht eigen, wenn es um sein Essen geht. Entschuldigen Sie, ich hätte mich abmelden sollen.«

Frau Summer schien ihm die Lüge abzunehmen. »Ach ja, die lieben Kleinen«, sagte sie. »Ich habe selbst drei Katzen und weiß, wie heikel sie sein können. Sobald wir etwas weniger zu tun haben, müssen Sie mir unbedingt von Ihrem Fred erzählen.«

»Gerne.« Morell war froh, dass er sich so gut hatte herausreden können.

»Also dann, machen wir uns wieder an die Arbeit.« Sie klatschte in die Hände. »Hat der Herr Jedler Ihnen die Liste gegeben?«

Morell nickte. »Ich wollte gerade eben mit der Parte anfangen.«