»Wahrlich ist der Mensch der König aller Tiere,

denn seine Grausamkeit übertrifft die ihrige.

Wir leben vom Tode anderer.

Wir sind wandelnde Grabstätten!«

Leonardo da Vinci

Er lag auf dem Boden und starrte an die Decke. Hätte ein Außenstehender ihn so sehen können, hätte er den Mann wahrscheinlich als ruhig und gelassen beschrieben, doch der Schein trog. In ihm brodelte es. Eine Mischung aus Enttäuschung, Wut, Reue und Angst wirbelte in seinem Kopf umher und führte dazu, dass er nicht mehr klar denken konnte.

Er hasste Novak, er hasste die Welt, und er hasste sich selbst. Er schlug mit der Faust gegen die Wand und konzentrierte sich auf den Schmerz. »Gut«, sagte er, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schlug noch einmal zu. »Ich bin so weit gekommen. Ich werde jetzt nicht aufgeben.« Er stand auf, genehmigte sich einen Schluck Hochprozentigen und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er durfte sich von diesem Rückschlag nicht aus der Ruhe bringen lassen – viele Wege führten ans Ziel.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das zerbeulte Tagebuch, das auf dem Boden lag, und merkte, wie sich das Chaos in seinem Kopf langsam lichtete. Novaks Aufzeichnungen hatten ihm zwar nicht verraten, was er wissen wollte, aber sie hatten ihm mitgeteilt, wer es ihm eventuell sagen konnte …

Er hob das Tagebuch auf und fing erneut an, darin herumzublättern. »Ich bin kein Verlierer mehr«, sagte er, als er fand, wonach er gesucht hatte – die Namen derer, die Novak ins Vertrauen ziehen wollte. Langsam strömte neue Zuversicht durch seinen Geist und verdrängte die chaotischen, schlechten Gefühle von vorhin.

Er entschied, dass er mit Johannes Meinrad anfangen würde. Wenn dieser irgendetwas wusste, dann würde er es ihm erzählen – dafür würde er schon sorgen. Er suchte sich im Telefonbuch Meinrads Adresse heraus, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und machte sich auf den Weg.

 

»Da sind Sie ja endlich!«, rief Frau Horsky, als Morell auf den Flur trat. Wie es schien, hatte die alte Dame hinter dem Türspion schon auf ihn gelauert. »Heute Vormittag habe ich sicherlich fünfmal bei Ihnen geläutet, aber keiner hat geöffnet.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich gerade ziemlich viel zu tun habe.«

»Und? Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Möglicherweise«, nickte Morell. »Wie es scheint, hatten Sie recht: Die Pietät hat wirklich etwas mit dem Verschwinden Ihres Sohnes zu tun.«

Frau Horsky strahlte, trat einen Schritt zur Seite und gestikulierte mit ihrer faltigen Hand wild herum. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Erzählen Sie mir alles!«

Morell schielte auf seine Uhr. Eigentlich wollte er ja zu Johannes Meinrad fahren … »Na gut«, sagte er. »Ein paar Minuten kann ich erübrigen.«

»Setzen Sie sich«, forderte Frau Horsky ihn auf, nachdem sie ins Wohnzimmer getreten waren. »Ich hole Ihnen ein Stück Apfelstrudel – den habe ich extra heute Morgen frisch gebacken.«

»Nein danke«, rief Morell. »Ich habe nicht viel Zeit und bin außerdem auf Diät.«

Frau Horsky musterte ihn, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. »Ein g’scheiter Mann muss ordentlich Fleisch auf den Rippen haben. Außerdem brauchen Sie Kraft und Energie, wenn Sie herausfinden wollen, was mit meinem armen Benedikt passiert ist.« Sie ignorierte seine Widerrede, stapfte in die Küche und kehrte kurz darauf mit einem Teller in der Hand zurück. Darauf lag ein überdimensionales Stück Strudel, das sie mit extra viel Sahne garniert hatte. »Bitte schön.«

»Es tut mir leid, ich werde das nicht essen«, konstatierte Morell, obwohl ihm bereits das Wasser im Mund zusammenlief.

»Papperlapapp! Wenn Sie das nicht essen, muss ich es wegwerfen, und das wollen Sie doch nicht, oder? Also. Guten Appetit.« Sie reichte ihm eine Kuchengabel. »Bevor Sie den nicht aufgegessen haben, lasse ich Sie nicht gehen.«

 

Je näher er Meinrads Wohnung kam, desto ruhiger wurde er. »Wie komisch«, wunderte er sich. Vor dem Mord an Novak war er so nervös gewesen, dass er tagelang weder richtig schlafen noch ordentlich essen konnte. Allein die Vorstellung, einem Menschen Leid zuzufügen, hatte ihm Albträume und schweißnasse Hände bereitet. Er hatte tausendmal alles in seinen Gedanken durchgespielt, das Für und Wider unendlich oft abgewogen und durch penible Planung versucht, jedes kalkulierbare Risiko auszuschalten.

Jetzt stand er wieder vor einer Situation, in der er einen Menschen foltern und töten musste, doch dieses Mal war er entspannt, gelöst, ja beinahe schon freudig erregt. Hatte ihn der erste Mord so abgestumpft? Hatte er sich an seine Rolle als Täter, der dem Prinzip des Handelns und nicht mehr der Maxime des Erduldens folgt, schon so sehr gewöhnt? Oder hatte der Tod Novaks einen erschreckend brutalen Wesenszug in ihm ans Licht gebracht, der jahrzehntelang in den Tiefen seines Seins geschlummert hatte? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich gut fühlte. Er würde endlich für Gerechtigkeit sorgen und sich von den Schatten der Vergangenheit befreien. Er würde von vorn beginnen, aus seinem Kokon schlüpfen und ein neuer Mensch werden. Ein glücklicher Mensch.

Er lächelte – die Vorstellung gefiel ihm. Bald war es so weit. Vielleicht sogar schon heute.

 

»Also, wie gesagt, Sie hatten recht: Die Pietät hat etwas mit Benedikts Verschwinden zu tun«, versuchte Morell, von dem herrlich duftenden Apfelstrudel abzulenken. »Ich konnte heute Morgen ein Gespräch belauschen, das diesen Verdacht bestätigt.«

Frau Horsky nickte zufrieden.

»Ich habe eine Theorie, was das Motiv angeht, und würde gerne wissen, was Sie davon halten«, fuhr Morell fort.

»Lassen Sie hören!«

»Wäre es möglich, dass die Pietät billigen Ramsch aus dem Osten oder Asien einkauft, der nicht den österreichischen Qualitäts- und Umweltstandards entspricht, und die Sachen dann teuer weiterverkauft?«

Frau Horsky dachte kurz nach. »Illegale Billigexporte aus dem Osten? Das kann sich doch schon allein wegen der hohen Transportkosten nicht rechnen. Und was ist mit dem Zoll? Eine Ladung Särge ist nicht gerade etwas, was man so einfach in seiner Handtasche verstecken und heimlich über die Grenze schmuggeln kann.«

Morell zuckte mit den Schultern. »Es ist nur eine Theorie.« Verdammt, roch der Strudel gut. »Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Sohn diese oder irgendeine ähnliche Entdeckung gemacht hat, ohne jemandem davon zu erzählen?«

»Ja, das kann ich. Mein Benedikt war ein sehr anständiger und korrekter junger Mann. Ohne stichfeste Beweise hätte er niemals einen bösen Verdacht laut ausgesprochen. Wahrscheinlich wollte er erst für Klarheit sorgen und hat die Leute von der Pietät mit seiner Vermutung konfrontiert, was ihm dann zum Verhängnis geworden ist.«

Morell fasste sich gedankenverloren an die Wange. Dank Capellis Salbe war das Jucken fast verschwunden. »So könnte es gewesen sein«, sagte er. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.« Er wollte aufstehen, aber Frau Horsky fasste ihn an der Schulter und drückte ihn zurück auf das Sofa. Unglaublich, wie viel Kraft in dieser mumienhaften Hofratswitwe steckte.

»Sie haben Ihren Apfelstrudel noch nicht aufgegessen«, sagte sie bestimmt.

»Ich muss wirklich dringend zu einem potentiellen Zeugen.«

»Denken Sie an die hungernden Kinder in der Dritten Welt!«

»Wenn ich an die denke, dann habe ich noch viel weniger Lust, den Strudel zu essen.«

»Dann denken Sie an mich. Machen Sie einer alten Frau eine Freude.«

»Na gut.« Morell gab sich geschlagen und griff nach der Kuchengabel. Er steckte sich ein großes Stück Strudel in den Mund, schloss die Augen – und genoss.

»So, nun muss ich aber wirklich los«, sagte er, nachdem er den Strudel bis auf den letzten Brösel aufgegessen hatte. »Ich kann ja nicht für immer in Wien bleiben. Irgendwann muss ich auch wieder zurück nach Landau.« Apropos Landau – er würde später noch einmal bei Bender anrufen und sich nach der Lage erkundigen. Er hatte noch immer keine Informationen über Gustaf Harr bekommen. Ob sein junger Assistent mit Fred und den Pflanzen so überfordert war, dass er es einfach vergessen hatte?

 

Er fuhr mit seinem Zeigefinger langsam über die Namensschilder an der Haustür. Karner, Stadler, Leucht, Liebermann … da war er ja … Meinrad. Sanft, beinahe schon liebevoll, drückte er auf den dazugehörigen Klingelknopf und wartete. Heute war sein Tag, das spürte er – darum zweifelte er auch keine Sekunde lang daran, dass Meinrad daheim war und er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Tatsächlich ertönte nach wenigen Augenblicken eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage: »Ja, bitte?«

»FedEx. Ich habe eine Paketlieferung für Herrn Meinrad.«

Das monotone Summen des automatischen Türöffners ertönte, und er betrat mit einem Lächeln auf den Lippen das Haus.

 

Wer ihm wohl ein Paket geschickt hatte? Johannes Meinrad, der sich gerade einen opulenten Brunch gönnte, schälte sich aus seinem Morgenmantel, schlüpfte in eine bequeme Hose und ein Poloshirt und überlegte. Wahrscheinlich schickte ihm wieder einmal irgendein unerfahrener Sammler oder dilettantischer Hobbyarchäologe unangemeldet Fotos oder kleine Artefakte zur Begutachtung. Er seufzte. Als Experte für antike Kunst musste er immer wieder Träume zerstören und hoffnungsfrohen Findern erklären, dass es sich bei einem vermeintlichen Kleinod um eine plumpe Fälschung oder einfach nur um unbedeutenden Schrott handelte.

Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, als ihm noch eine zweite Möglichkeit einfiel. Vielleicht war das Paket ja von Matthew Rail, dem schnuckeligen Auktionator, den er letzten Monat in London kennengelernt und mit dem er ein fabelhaftes Wochenende in seinem Hotelbett verbracht hatte. Vor seiner Rückreise hatte er dem jungen Briten gestanden, dass er ihn gerne wiedersehen wolle, und war aus allen Wolken gefallen, als dieser erklärt hatte, kein Interesse an einer Vertiefung der Beziehung zu haben. Vielleicht hatte Matthew es sich ja anders überlegt. Vielleicht hatte er erkannt, dass er doch verliebt war, und wollte sich nun mit einem kleinen Geschenk für sein Verhalten entschuldigen.

Nervös tippelte Meinrad von einem Fuß auf den anderen. Bitte lass es von Matthew sein, bat er im Stillen und malte sich schon aus, wie ein mögliches Wiedersehen ablaufen könnte.

Als es endlich läutete und er die Tür öffnete, war Meinrad noch immer so sehr damit beschäftigt, sich an die engelsgleichen Gesichtszüge seines jugendlichen Lovers zu erinnern, dass ihm gar nicht auffiel, dass der vermeintliche FedEx-Bote weder eine Uniform trug noch ein Paket in den Händen hielt. Die Vorstellung, seinen Matthew, der den Körper von Michelangelos David und das Gesicht von Caravaggios Amor hatte, bald wieder in den Armen zu halten, ließ seine Gedanken so weit abschweifen, dass der verschwärmte Ausdruck auf seinem Gesicht erst verschwand, als ein starker Fausthieb ihn rückwärts in die Wohnung taumeln und auf den Fußboden knallen ließ.

»Wer? … Was? … Aber …«, stotterte er und hob die Hände reflexartig nach oben. Der Angriff war so schnell und unerwartet erfolgt, dass er gar nicht genau wusste, wie ihm eigentlich geschah.

»Aufstehen!«, sagte eine männliche Stimme, und irgendjemand packte ihn am Kragen und zerrte ihn in die Höhe.

Johannes Meinrad, noch immer ganz benommen von dem heftigen Schlag, ließ es mit sich geschehen und stolperte, halb gezogen, halb geschoben, in Richtung Wohnzimmer. Dort schubste ihn der Eindringling unsanft auf einen großen, gepolsterten Sessel und fesselte ihm mit dem Gürtel des Morgenmantels die Hände. Meinrad versuchte, das Gesicht seines Peinigers zu erkennen, aber ohne seine Brille, die bei dem Schlag verrutscht war, konnte er nur eine große, verschwommene Silhouette ausmachen. Hatte er es mit einem Einbrecher oder einem radikalen Schwulenhasser zu tun?

»Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?«, stammelte er und schaute entsetzt zu, wie das Blut, das aus seiner Nase rann, langsam, aber sicher den teuren, weißen Sesselbezug besudelte. Das kriege ich nie wieder raus, dachte er und wunderte sich gleichzeitig, wie seltsam die menschliche Psyche doch oft funktionierte. Während ein Fremder ihn in seiner eigenen Wohnung überfallen und niedergeschlagen hatte, fand er noch die Zeit, sich Sorgen um seine Möbel zu machen. »Nehmen Sie, was Sie wollen, aber tun Sie mir nichts«, bat er.

»Deine Wertsachen interessieren mich nicht. Ich will Informationen.«

»Informationen?« Meinrads Nase hörte nicht auf zu bluten, und der rote Fleck auf dem elfenbeinfarbenen Wildlederbezug wurde immer größer. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Hatte er etwa unwissentlich mit einem wichtigen Politiker oder Promi geschlafen? War sein Gegenüber auf der Suche nach belastenden Aussagen, die ein hochrangiges Mitglied der Gesellschaft outen sollten?

»Hör mir gut zu, denn ich wiederhole mich nur ungern.« Der Mann sprach langsam und deutlich, ohne die geringste Spur von Eile oder Nervosität in seiner Stimme. »Du wirst mir jetzt alles über die Ausgrabung am Tell Brak im Jahr 1978 erzählen. Und glaub ja nicht, dass du mich anlügen oder mir etwas verschweigen kannst. Ein falsches Wort, eine kleine Ungereimtheit oder Erinnerungslücke, und du bist ein toter Mann.«

»Sie … O, mein Gott … Haben Sie etwa Novak …?«, stammelte Meinrad, dem die Brille mittlerweile wieder richtig auf die nase gerutscht war und dem langsam dämmerte, dass es sich hier nicht um einen einfachen Einbruchdiebstahl handelte.

»Genau. Dein werter Freund war leider nicht besonders kooperativ, und das hat ihn den Kopf gekostet – im wahrsten Sinne des Wortes. Also, sei so schlau und mach nicht denselben Fehler.«

Meinrad, dem der blutbefleckte Bezug plötzlich völlig gleichgültig war, blinzelte und musterte den Mann eingehender, der gerade die Replik einer griechischen Amphore betrachtete. Seine Gesichtszüge kamen ihm irgendwie bekannt vor. »Du liebe Güte«, rief er aus. »Du bist …«

Der Mann drehte sich zu ihm und schaute ihm direkt ins Gesicht. »Genau der bin ich. Und jetzt will ich endlich die Wahrheit hören.«

Meinrad nickte, schloss die Augen und öffnete in seinem Geist eine Tür, die seit mehr als dreißig Jahren verschlossen gewesen war.

 

Otto Morell fuhr mit der Straßenbahn in den neunten Bezirk und war schon sehr gespannt, ob Meinrad ihm etwas über die Grabung am Tell Brak und das rätselhafte Königsgrab erzählen konnte.

Er stieg an der Haltestelle Schwarzspanierstraße aus und ging die berühmte Berggasse hinunter. Hier hatte Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelt und Theodor Herzl den politischen Zionismus begründet. Doch der Chefinspektor war mit seinen Gedanken ganz woanders, so dass er weder dem Freud-Museum noch Herzls Wohnhaus oder irgendeinem der vielen bunten Geschäfte und Cafés Aufmerksamkeit schenkte. Er stapfte eilig geradeaus und stand bald vor einem großen, fünfstöckigen Jahrhundertwendehaus, dessen Fassade ganz auf Jugendstil getrimmt war: Geschwungene Linien, kleine Erker und dekorative florale Elemente dominierten die Vorderseite des mächtigen Zinshauses und verliehen ihm ein prunkvolles Erscheinungsbild.

Morell suchte aus ungefähr dreißig Namensschildern das von Meinrad heraus, drückte auf den dazugehörigen Klingelknopf und wartete.

Als auf sein Läuten niemand reagierte, versuchte er es erneut – wieder ohne Erfolg. Er überlegte, ob er noch ein bisschen hier warten oder lieber heimgehen und morgen einen zweiten Anlauf starten sollte, als sich eine junge Frau ihm näherte. Sie schob einen Kinderwagen mit einem schlafenden Baby vor sich her und war mit einer Vielzahl von Einkaufstüten beladen. Sie blieb vor der Tür stehen, stellte die Tüten auf den Boden, ließ ihre Handtasche von der Schulter gleiten und suchte nach dem Schlüssel. »Zu wem wollen Sie denn?«, fragte sie neugierig.

»Zu Johannes Meinrad, aber wie es scheint, ist er nicht daheim.«

»Wahrscheinlich reist er wieder einmal in der Weltgeschichte herum. Herr Meinrad ist für viele internationale Auktionshäuser als Berater tätig und darum oft im Ausland.« Sie drückte auf die Klingel und wartete kurz. »Ja«, sagte sie. »Da haben Sie wohl Pech.«

»Schade«, ärgerte sich Morell. »Ich muss wirklich dringend mit ihm reden.«

»Ich bin mir sicher, dass er übermorgen wieder in Wien sein wird«, sagte die Frau. »Er hat mir nämlich versprochen, am Montagmorgen eine Stunde auf den Kleinen aufzupassen, während ich in meiner Pilates-Stunde bin.«

»Früher wäre mir zwar lieber gewesen, aber dann werde ich halt bis Montag warten müssen. Trotzdem vielen Dank.« Morell drehte sich um und machte sich auf den Weg in Richtung Untersuchungsgefängnis.

 

Meinrad überlegte fieberhaft, wie er es schaffen konnte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wie viel wusste sein Gegenüber? Sollte er es wagen zu lügen? Oder war sowieso alles egal, da er auf jeden Fall sterben würde? Novaks Mörder hatte sich schließlich nicht die Mühe gemacht, seine Identität zu verbergen.

»Los! Fang an zu erzählen!« Der Mann versetzte ihm einen unsanften Schubser.

»Warte! Es ist so verdammt lange her – ich brauche etwas Zeit, um mich an alles zu erinnern«, log Meinrad, der es noch immer nicht fassen konnte, dass die Vergangenheit ihn nach so vielen Jahren doch noch eingeholt hatte. Er musste Zeit schinden und sich einen Fluchtplan überlegen. »Also«, begann er mit zitternder Stimme, »wir sind damals in einem kleinen Bus nach Syrien gereist. Gestartet sind wir hier in Wien und dann runter nach Italien gefahren, an der Ostküste entlang …«

»Erspar dir den Quatsch! Du weißt genau, dass mich das nicht interessiert. Ich will von der einen Nacht hören. Der Nacht, in der ihr euch aufgemacht habt, um Alulims Grab zu öffnen.« Der Mann stand auf, ging zum Esstisch, nahm sich ein Nougatcroissant und das Käsemesser, schob einen Stuhl vor Meinrad und setzte sich hin. Er nahm einen Bissen von dem Croissant, kaute grinsend und zeigte mit dem Messer auf Meinrads rechtes Auge. »Also los«, sagte er. »Und sollte ich dich beim Lügen erwischen, kannst du deinem Auge auf Wiedersehen sagen.«

Meinrad rang um Fassung. »Novak … kam eines Tages zu mir und behauptete, Alulims Grab gefunden zu haben«, begann er stammelnd. »Er war dabei so überzeugend, dass ich und noch zwei andere ihm glaubten und zusagten, ihm bei der Freilegung zu helfen. Wir warteten bis zum Anbruch der Dunkelheit, damit niemand sonst im Lager etwas von unserer außertourlichen Grabung erfuhr, und machten uns dann auf den Weg zu einem kleinen, bis dahin unerforschten Hügel im Nordwesten des Tells. Novak hatte bereits in den vorherigen Nächten mit den Grabungsarbeiten begonnen und eine riesige Steintafel freigelegt, auf der eine alte Fluchformel geschrieben stand.«

»Aber ihr habt euch davon nicht abschrecken lassen.« Der Mann lehnte sich zurück.

Jetzt, wo das Messer sich nicht mehr so nah vor seinem Gesicht befand, entspannte Meinrad sich ein kleines bisschen und fing an zu überlegen. Nachdem er vor ein paar Jahren von einem Schwulenhasser in einer Bar verprügelt worden war, hatte er einen Selbstverteidigungskurs gemacht und wusste daher, wie man einen Gegner außer Gefecht setzen konnte. Er brauchte nur eine Gelegenheit. Novaks Mörder hatte nämlich einen großen Fehler gemacht: Er hatte ihm zwar die Hände gefesselt, aber seine Beine außer Acht gelassen. Wenn er es schaffte aufzuspringen, gelang es ihm vielleicht, sein Gegenüber zu überwältigen und zu fliehen. Die rettende Tür nach draußen war so nah. Alles, was er brauchte, war eine Chance, einen kleinen Moment der Unachtsamkeit …

»Weiter«, wurde er unsanft aus seinen Überlegungen gerissen.

»Wo war ich? Ach ja … bei dem Fluch. Nein, wir haben uns nicht davor gefürchtet.« Hätten wir doch nur, fügte er im Geiste hinzu. So viel Kummer und Gram wären uns erspart geblieben. »Wir waren so voller Tatendrang, dass wir sämtliche Bedenken über Bord geworfen und einfach drauflosgearbeitet haben. Wir waren die halbe Nacht zugange, und nach vielen Rückschlägen haben wir es mit vereinten Kräften irgendwann tatsächlich geschafft, den schweren Stein beiseitezuschieben.« Er dachte zurück an jenen triumphalen Moment, an jenen magischen Augenblick, als sie einen Tunnel freigelegt hatten, der seit so vielen Jahrhunderten von keiner Menschenseele mehr betreten worden war. Wie jung sie damals gewesen waren. Jung und naiv. Sie fühlten sich unsterblich und dachten, die Welt gehöre ihnen.

»Red weiter! Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Wir nahmen unsere Taschenlampen und haben uns darangemacht, den Tunnel zu erkunden. Er war ungefähr einen Meter breit und zwei Meter hoch, führte steil nach unten und endete in einer großen Kammer, vor der sich ein tiefer Graben befand.« Er ruckelte sanft an seinen Fesseln. Sie waren nicht gerade fest gebunden. »Wir haben aus einer Strickleiter und ein paar Ästen einen provisorischen, ziemlich stümperhaften Steg gebastelt und sind darüber in die Kammer gelangt.«

»Und?«

Meinrad konnte sich ein trauriges Lächeln nicht verkneifen. »Nichts.«

»NICHTS? Was soll das bedeuten?«

»›Nichts‹ bedeutet, dass sich weder in dem Tunnel noch in der Kammer oder in der Grube irgendetwas befand – keine Keilschriftzeichen, keine Wandbemalung, keine Opfergaben oder sonstigen Artefakte und schon gar kein Sarkophag oder menschliche Überreste. Nichts. Kein Ruhm, kein Reichtum, keine Abenteuer. Wir haben mit unseren Lampen alles genauestens abgeleuchtet, aber da war nichts. Wie es schien, war die ganze Anlage nur eine Attrappe, die dazu diente, vom wahren Aufenthaltsort des toten Königs abzulenken.«

»Nichts? Gar nichts? Aber …«

Das Läuten der Türglocke erschreckte beide Männer so sehr, dass sie zusammenzuckten.

»Wer ist das? Erwartest du jemanden?«

Meinrad schüttelte den Kopf und zuckte erneut zusammen, als der schrille Klingelton ein zweites Mal den Raum erfüllte. War das etwa die Chance, um die er gebeten hatte? Langsam atmen, sagte er zu sich selbst, während er den Eindringling musterte. Dieser hatte sich neben das Fenster gestellt, den Vorhang vorsichtig zur Seite geschoben und versuchte nun, zu erkennen, wer unten vor der Tür stand. Ein drittes Läuten schrillte durch das Zimmer und dieses Mal wurde Meinrad klar, dass dies womöglich seine einzige und letzte Chance war. Er nahm all seinen Mut zusammen, sprang auf und rannte in Richtung Ausgangstür.

Dann ging alles ganz schnell.