»Nun genügt ein Grab ihm, dem die ganze Welt nicht genug war.«

Epitaph an einer Gedenkstätte für Alexander den Großen

Den ganzen Tag schon war er ruhelos und ungeduldig gewesen und hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht das ganze Tagebuch in einem Zug zu verschlingen. Doch er hatte es geschafft, sich zu beherrschen und auf den richtigen Augenblick zu warten – den Augenblick, der jetzt gekommen war und in dem er die nötige Ruhe und Muße hatte, jedes Wort ganz genau zu lesen, kein Detail zu übersehen und auch das wahrzunehmen, was zwischen den Zeilen stand. Alles war wichtig! Jedes Komma, jeder Punkt, jeder noch so kleine Buchstabe verdiente seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Er befühlte die derbe Struktur des ledernen Einbands und ließ noch einmal die letzten Einträge vor seinem inneren Auge Revue passieren: Novak hatte mehr als zwei Jahre lang versucht, Alulims Grab in der antiken Stadt Eridu, die sich im heutigen Irak befand, zu lokalisieren, weil sich laut der Legende dort der Palast des mythischen Königs und der Haupttempel des Gottes Enki befunden haben sollen – aber er hatte keinen Erfolg gehabt. Doch wenn sich das Grab nicht in Eridu befand, wo war es dann? Er würde es hoffentlich gleich erfahren.

Wien, 14. Oktober 1977

So viel Zeit habe ich damit verschwendet, genau denselben Fehler zu machen wie all die anderen Archäologen, Abenteurer und Grabjäger, die auf der Suche nach Alulims letzter Ruhestätte sind. Glücklicherweise hat das Schicksal mir einen Artikel von Prof. David Oates aus Cambridge in die Hände gespielt, in dem es um den Fund eines Massengrabs am nordwestlichen Rand des Tell Brak geht – und plötzlich war mir alles klar: TELL BRAK. Natürlich. Wie konnte ich denn nur so dumm sein und den berühmten Augentempel außer Acht lassen? (Unter dem schützenden Blick von Enkis eintausend Augen …)

Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass ich das Rätsel gelöst habe. Die Sumerer praktizierten nämlich den Ritus des Menschenopfers und wenn einer ihrer Könige starb, wurde meist der ganze Hofstaat getötet und in seiner Nähe begraben – der Fund dieser Massenbestattung passt also ganz genau ins Bild (… von seinen Treuen begleitet …).

Eine glückliche Fügung hat ergeben, dass Dr. Gustaf Harr vom Österreichischen Archäologischen Institut im kommenden Frühjahr mit einer Gruppe von Experten nach Tell Brak reisen wird. Ich werde mich dem Team als Hilfskraft anschließen und hoffe, dass ich eine Möglichkeit finden werde, unbemerkt ein paar eigene Nachforschungen anstellen zu können. Bis dahin bange und bete ich, dass Alulims Grab unentdeckt und unangetastet bleibt.

So war das also, dachte er: Ein kleiner, unscheinbarer Artikel hatte den Stein ins Rollen gebracht und damit all das Unheil ausgelöst. Angespannt blätterte er um – er musste unbedingt wissen, wer außer Novak ihn noch betrogen hatte, damit er endlich für Gerechtigkeit sorgen konnte.

Was Novak anging, so hatte er ihn seiner angemessenen Strafe zugeführt. Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie er Novaks Kopf im Arkadenhof platziert hatte. Für Ruhm und Ehre war Novak über Leichen gegangen. Alles, was er wollte, war, seinen Kopf posthum im Arkadenhof zu wissen. »Und diesen Wunsch habe ich dir erfüllt«, sagte er leise.