»…, so mag ich doch eben heute über den Alten,

der lange im Grabe ruht, nicht lachen!«

E. T. A. Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murr

Als Morell Capelli die Proben vorbeibrachte, war die Gerichtsmedizinerin sehr hektisch und getrieben. »Danke«, sagte sie und nahm die Döschen an sich. »Du musst schnell wieder von hier verschwinden. Weber will gleich vorbeikommen, um die Obduktionsergebnisse von Meinrad zu besprechen.« Sie lotste Morell durch eine Vielzahl von Gängen und brachte ihn zum Hinterausgang. »Drück mir die Daumen, dass ich ihm nicht die Augen auskratze! Wir sehn uns heute Abend«, flüsterte sie und verschwand wieder nach drinnen.

Morell, der in keiner Weise darauf erpicht war, mit seinem Exlollegen zusammenzutreffen, schlich so unauffällig wie möglich zur nächsten Straßenbahnhaltestelle und fuhr heim.

Zu Hause gönnte er sich erst eine heiße Dusche und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, sich mit Hilfe von Google Maps alle Orte in der Nähe des Tell Brak herauszusuchen – von Al Hasakah bis Tall Tamir. Irgendwie musste dieser Harr doch zu finden sein. Anschließend machte er sich im Internet auf die Suche nach einem syrischen Telefonbuch und fand heraus, dass in Syrien kein richtiges Meldewesen existierte. Ohne Angabe der exakten arabischen Schreibweise des Namens und möglichst auch der Namen der Eltern war eine Personensuche so gut wie sinnlos.

Frustriert gab Morell auf und widmete sich dem Abendessen: gefüllten Lauchröllchen und Mohrrüben-Soufflé, mit garantiert nicht mehr als 300 Kalorien pro Portion.

 

Capelli kam kurz darauf nach Hause und hatte einige Überraschungen im Gepäck.

»Hast du die Auswertungen der Proben?« Morell legte die Karotte, die er gerade geschält hatte, zur Seite.

»Ja. Ich habe meinen ganzen Charme eingesetzt, um die Jungs im Labor zu becircen.« Sie schnupperte. »Als du noch nicht auf Diät warst, war es mir fast lieber«, sagte sie. »Da gab es abends immer ein leckeres Gourmetessen und jetzt …« Skeptisch schaute sie das Gemüse an.

»Jetzt gibt es kalorienarmes Gourmetessen.« Morell wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Also, was hat die Analyse gebracht?«

Capelli setzte sich an den Tisch und griff nach ihrem Rucksack. »Was wollen wir als Erstes in Angriff nehmen?«, fragte sie und legte zunächst eine dünne Mappe und dann das kleine Holzkästchen aus Meinrads Wohnung auf den Tisch.

»Was ist das?« Morell nahm das Kästchen und betrachtete es von allen Seiten.

»Ähm … nun ja«, setzte Capelli verlegen an. »Versprich mir erst, dass du nicht schimpfst.«

Morell verdrehte die Augen und setzte einen Topf mit Wasser auf. »Wo hast du es geklaut?«

»Bei Meinrad. Als ich erkannt habe, dass er wahrscheinlich einer der Männer auf dem Foto ist, habe ich ein bisschen in seiner Wohnung herumgeschnüffelt. Ich musste die Gunst der Stunde nutzen«, sagte Capelli, als Morell sie mit einem tadelnden Blick bedachte. »Die Chance war einmalig.«

»Ich werde es mir nächstes Mal genau überlegen, ob ich dich zu mir nach Hause einlade.« Morell warf die geschälten Karotten in den Topf. »Mir scheint, du hast leichte kleptomanische Züge entwickelt und kannst keine fremde Wohnung mehr verlassen, ohne ein kleines Souvenir einzustecken.«

»Ha, ha.« Capelli konnte dem Zynismus des Chefinspektors nichts abgewinnen. »Vielleicht liegt in dem Kästchen ja irgendetwas, das uns weiterhelfen kann.«

»Du hast also noch nicht hineingeschaut?«

»Es ist abgeschlossen.« Sie zeigte auf das silberne Schloss. »Und der Schlüssel war in der Eile nicht aufzutreiben.«

»Wenn du nicht weißt, was drinnen ist – wie kommst du dann darauf, dass es uns weiterhelfen kann?«

»Wissen tue ich es nicht, aber das Kästchen war ganz hinten in der untersten Schublade von Meinrads Schreibtisch versteckt. Ich hatte es gerade in der Hand, als Weber hereinkam – mir blieb keine Zeit mehr, es zurückzulegen. Ich musste es also einstecken.«

Morell zuckte bei der Erwähnung von Webers Namen zusammen. »Hat er gemerkt, dass du was hast mitgehen lassen?«

»Nein, natürlich nicht. Mittlerweile bin ich im Klauen ja ein echter Profi.«

»Ha, ha.« Diesmal war es Morell, der dem Witz nichts abgewinnen konnte. Er nahm eine Stange Lauch und fing an, sie in Streifen zu schneiden.

»Ich werde mal versuchen, das Schloss zu knacken.« Capelli verschwand aus der Küche und kam kurze Zeit später zurück. In der Hand hielt sie mehrere kleine Metallteile. »Soweit ich weiß, muss ich erst den kleinen Zapfen, der sich im Schloss befindet, nach unten drücken.« Sie steckte eine Haarnadel in das Schloss. »So, und jetzt brauche ich eine Büroklammer und den Clip von einem Kugelschreiber.« Sie fummelte so lange an dem Schloss herum, bis Morell allmählich die Geduld verlor.

»Essen ist gleich fertig«, sagte er und deutete auf das Kästchen. »Warum nehmen wir nicht einfach eine Zange und brechen das Ding auf?«

»Ich glaube, es ist wertvoll.« Capelli sah von ihrer Arbeit auf. »Ich möchte es erst auf die sanfte Art probieren. Wenn das nicht hinhaut, können wir es immer noch kaputt machen.«

»Wie du meinst.« Morell warf einen Blick in den Ofen, um zu sehen, was sein Karottensoufflé machte. »Können wir in der Zwischenzeit über die Ergebnisse der Proben aus der Pietät reden?«

»Gleich … Ja … Wart kurz … HA!« Sie hielt Morell triumphierend das Kästchen entgegen. »Ich hab’s geschafft. Was sagst du jetzt?«

Er nahm die kleine Schatulle entgegen und hob den Deckel hoch. »Du wirst mir langsam unheimlich.«

»Und? Was ist drin?«

Morell griff hinein und holte einen Stapel Fotos und Papiere heraus. »Interessant.« Er drehte eines der Fotos um und versuchte das Datum, das auf der Rückseite vermerkt war, zu entziffern. »Das sind tatsächlich Bilder, die am Tell Brak aufgenommen worden sind.« Er legte ein Gruppenfoto vor Capelli auf den Tisch. »So oder so ähnlich muss das Bild ausgesehen haben, das aus Novaks Büro gestohlen wurde.«

»Was ist sonst noch drin?« Capelli hibbelte nervös herum.

Morell ging die Papiere durch. »Eine Lohnabrechnung, eine Landkarte von Syrien und ein paar Belege«, zählte er auf. »Das hier könnte interessant sein.« Er faltete ein bräunlich verfärbtes DIN-A4-Blatt auseinander. »Scheint ein Brief zu sein. Von einer gewissen Theresia.«

»Theresia wie noch?«

Morell wendete das Blatt und schüttelte den Kopf. »Hier steht kein Absender drauf, und sie hat nur mit ihrem Vornamen unterschrieben.« Er wühlte in den restlichen Sachen. »Kein Umschlag«, sagte er dann und begann laut vorzulesen:

Wien, am 15. Juli 1978

 

Lieber Johannes,

 

ich wende mich heute voller Verzweiflung an Dich, da sowohl Wilfried als auch Vitus sich weigern, mir die Wahrheit über meinen Gustaf zu erzählen.

Ich will und kann es nicht glauben, dass er einfach so, ohne ein Wort des Abschieds oder des Bedauerns in Syrien geblieben ist. Noch weniger kann ich glauben, dass der Grund seines Fortbleibens eine andere Frau sein soll. Gustaf und ich waren sehr glücklich miteinander und haben häufig über unsere gemeinsame Zukunft gesprochen.

Ich kann darum die Geschichte, dass Gustaf sich unsterblich verliebt hat und deshalb nicht zu mir zurückkommt, nicht so einfach akzeptieren und bitte Dich daher, nein, ich flehe Dich sogar an, mir die Wahrheit zu sagen.

Geh und erforsche Dein Gewissen, und dann melde Dich bei mir! Keine Wahrheit kann so grausam und schrecklich sein wie eine Lüge.

Alles Liebe,

Theresia

»Ha. Ich wusste doch die ganze Zeit, dass an der Harr-Story etwas faul ist. Niemand bleibt einfach so in einem fremden Land und bricht alle Brücken nach daheim ab.« Morell nickte zufrieden und öffnete die Ofentür, um die Soufflés herauszuholen.

Capelli begann den Tisch zu decken. »Und jetzt? Was tun wir nun?«

»Ich werde morgen zu Weber gehen und noch einmal versuchen, mit ihm zu reden.« Morell wurde zwar allein bei dem Gedanken daran, sich mit Weber zu treffen, schon übel, aber in Anbetracht aller Fakten war es wohl das Beste. Weber verfügte über ganz andere Mittel und Wege. Für ihn war es bestimmt leichter, Harr zu finden und eine große Ermittlung in die Wege zu leiten.

Capelli nickte. »Du hast wahrscheinlich recht.«

»Gut, dann hätten wir das abgehakt und können uns jetzt um das nächste Problem kümmern.« Morell stellte das Essen auf den Tisch und griff nach der Mappe mit den Auswertungen der Proben. »Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte er, als er einen ersten Blick darauf geworfen hatte. »Ich glaube, das musst du mir erklären.«

»Lass uns aber erst essen. Es ist zwar Diät-Küche, riecht aber trotzdem phänomenal!«

 

Nach dem Essen griff die Gerichtsmedizinerin sofort nach den Papieren. »Die Proben der Totenhemden, Kremationssärge und Urnen sind in Ordnung«, sagte sie. »Bei denen liegt alles im normalen Bereich. Aber die Probe der Innenausstattung des Sargs, in dem du gelegen hast, und die von einem anderen Sarg sind auffällig.«

»Inwiefern?« Morell machte sich daran, die Teller abzuspülen.

»Es befindet sich eine sehr hohe Konzentration an Formaldehyd in ihnen.«

»Formaldehyd?«

»Das ist eine ziemlich giftige chemische Verbindung. Es ist also kein Wunder, dass du davon Ausschlag bekommen hast.«

»Und ist es normal, dass diese Chemikalie in Stoffen oder Hölzern vorkommt?«

»Nein – zumindest nicht in solchen Mengen.«

Morell fasste sich unbewusst an die Wange und fing an zu reiben. »Und wie kommt das Zeug dann in die Särge?«

Capelli zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Prinzipiell ist Formaldehyd ein Stoff, der in Bestattungsunternehmen häufig gebraucht wird – und zwar um Leichen zu konservieren. Man müsste nun also herausfinden, wie es in die Särge gelangt ist.«

Morell verzog angewidert das Gesicht und legte den Teller, den er gerade abwaschen wollte, beiseite. »Gut, dann werde ich mal eine Tür weiter zu Frau Horsky gehen und fragen, ob sie eine Idee hat.«

Capelli nahm den Teller und machte mit dem Abwasch weiter. »Viel Spaß im Fegefeuer nebenan«, sagte sie zwinkernd.

Morell lächelte. »Ich habe in den letzten Tagen bereits einige Zeit in einem Sarg und in einer Leichen-Kühlkammer verbracht. Glaub mir – ein kleiner Besuch im Fegefeuer ist wie Urlaub dagegen.«

 

Frau Horsky war entzückt über den späten Besuch. »Was für eine Überraschung!«, strahlte sie und winkte Morell herein. »Jetzt habe ich gar nichts Leckeres für Sie zum Essen.«

»Das ist auch besser so«, entgegnete er. »Wie ich Ihnen ja bereits erzählt habe, bin ich auf Diät, und da ist es gut, wenn Sie mich nicht ständig in Versuchung führen.« Er ließ sich auf das Sofa fallen.

»Aber zu einem kleinen Likörchen sagen Sie nicht nein, oder?«

»Ein Wasser wäre mir lieber.«

Frau Horsky verdrehte die Augen und schlurfte in die Küche. »Das ist doch kein Leben so«, murmelte sie und schüttelte den Kopf.

 

»Einmal Wasser. Bitte schön«, sagte sie, als sie aus der Küche zurückkam, und stellte ein Glas vor Morell auf den Tisch. »Also, was gibt es Neues?«

»Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich durch den Kontakt mit einem Sarg einen Ausschlag bekommen habe. Es hat sich nun herausgestellt, dass er durch eine Chemikalie namens Formaldehyd verursacht worden ist. Haben Sie eine Erklärung dafür, wie dieses Zeug in den Sarg gekommen sein könnte?«

Frau Horsky wurde blass um die Nase. »Was war das für ein Sarg?«, fragte sie. »Einer von den teuren?«

Morell bejahte. »Ein großer Klappsarg, und außerdem fand sich die Chemikalie auch noch in einem teuren Mahagonisarg.«

»Und an den billigen Kremationssärgen war nichts?«

»Nein, die waren in Ordnung.«

Frau Horsky riss die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund. »Mein Gott«, murmelte sie. »Diese widerlichen Menschen!«

Der Chefinspektor trank einen Schluck Wasser und wartete, dass sie weiterredete.

»Ich dachte immer, dass es das nicht wirklich gibt, zumindest nicht hier in Wien.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf und schenkte sich ein Glas Pfefferminzlikör ein. Die Farbe des Getränks war so unnatürlich giftgrün, dass Morell froh war, nicht auf das Angebot der alten Dame eingegangen zu sein. Nachdem sie einen großen Schluck genommen hatte, fuhr sie fort. »Es gab da mal das Gerücht, dass es in den USA ein paar respektlose Bestatter gegeben haben soll, die auf entsetzliche Art und Weise Geld verdienten: Sie haben teure Särge an die Angehörigen verkauft, die Toten dann in diesen Särgen aufgebahrt, sie aber kurz vor der Bestattung oder Kremation in die billigsten Särge umgebettet. Auf diese Art und Weise haben sie die teuren Särge immer wieder aufs Neue verkauft und einen riesigen Gewinn gemacht.«

Morell fasste sich an die Wange und unterdrückte ein Würgen. »Sie meinen also, dass die Konservierungsflüssigkeit direkt aus einem Toten in den Sarg gesickert ist … und ich … ich …«

»Sie haben sich reingelegt«, vervollständigte Frau Horsky den Satz. »Prost«, sagte sie und nahm noch einen Schluck von dem Likör.

»Kann ich jetzt bitte auch einen bekommen?«

»Aber natürlich.« Die alte Dame stand auf, um ein Glas zu holen. »Diese widerlichen Menschen«, wiederholte sie. »Und das bei uns hier in Wien. Nie im Leben hätte ich mir das gedacht. Kein Wunder, dass es der Pietät immer viel besser ging als Memento. Mein Sohn hat immer ehrlich und anständig gearbeitet. Grausig ist das. Grausig, schlecht und würdelos!«

Morell kippte den picksüßen Likör auf ex hinunter. »Sonst noch irgendwelche Gerüchte aus den USA, die ich kennen sollte?«

»Ja, aber ich will sie gar nicht erzählen – die sind viel zu schlimm.« Frau Horsky fächerte sich mit der Hand Luft zu.

»Wenn ich das Verschwinden Ihres Sohnes aufklären soll, dann muss ich alles wissen. Alles. Verstehen Sie?«

Frau Horsky nickte und nippte an ihrem Likör. »Allein der Gedanke daran verursacht mir Herzrasen. Wenn ich einmal tot bin – was sehr bald sein kann –, dann versprechen Sie mir, dass Sie darauf achtgeben, dass meine sterblichen Überreste in die Hände von anständigen Menschen gelangen.«

Morell schenkte sich nach. »Versprochen. Aber jetzt erzählen Sie bitte.«

»Na gut.« Frau Horsky nippte erneut an der grünen Grauslichkeit. »Es wird gemunkelt, dass es Bestatter gibt, die mit Ärzten gemeinsame Sache machen und ihnen Prämien bezahlen, wenn sie bei alten, reichen Patienten auf Wiederbelebungsmaßnahmen verzichten.« Sie schenkte Morell Likör nach. »Das schlimmste Gerücht ist aber, dass es Bestatter gibt, die den Toten Knochen, Knorpel und Organe entnehmen und diese dann an Krankenhäuser und Pharmafirmen verkaufen.«

Morell schluckte. Er dachte an Jedler und den Thanatopraxieraum und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken rann.