»Den Ort, wo sich die geliebten Toten befinden, weiß ich nicht;

den, wo sie sich nicht befinden, weiß ich: das Grab.«

Christian Friedrich Hebbel

In Landau herrschte im Gegensatz zu Wien prächtiges Wetter. Kein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, die Sonne strahlte so kräftig, als gäbe es kein Morgen, und eine laue Brise entlockte den bunten Blättern in den Bäumen ein vergnügtes Rascheln.

Während der Großteil der Bevölkerung die Gelegenheit nutzte, um zu wandern, im Garten zu arbeiten oder einfach nur im Freien zu sitzen und den schönen Tag zu genießen, saß Robert Bender bei geschlossenen Fenstern und zugezogenen Jalousien im Büro und bekam von der wunderbaren spätsommerlichen Stimmung nichts mit. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit richtete sich einzig und allein auf das Wiederfinden von Fred.

Nachdem seine großangelegte Suchaktion und das Hinzuziehen des Försters keinen Erfolg gehabt hatten, brachte er nun eine unkonventionellere Methode zum Einsatz – nämlich Pendeln. Er ließ den kleinen Kristall, den er in einem Esoterikladen in Innsbruck gekauft hatte, über dem Ortsplan von Landau hin und her schwingen und kam sich unheimlich blöd dabei vor. »Egal«, wischte er seine Skrupel beiseite – erstens wusste ja keiner, was er hier tat, und zweitens war alles besser, als Morell erklären zu müssen, dass sein geliebtes Fellmonster verschwunden war. Er atmete also tief ein, schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.

Während das Pendel über der Karte kreiste, war es in der Polizeiinspektion, abgesehen von dem leisen Blubbern der Kaffeemaschine, mucksmäuschenstill. Schon seit Tagen herrschte hier tote Hose: Es gab keine Einbrüche, keine Diebstähle, keine Ruhestörungen – nicht einmal eine kleine Schlägerei. Anscheinend genossen die Einwohner von Landau die letzten spätsommerlichen Tage und sparten sich sämtliche kriminellen Energien für später auf. Umso besser, dachte Bender. So hatte er mehr Zeit, den Kater wiederzufinden.

Als plötzlich das Telefon mit einem schrillen Läuten die Stille durchschnitt, erschrak Bender so sehr, dass er das Pendel fallen ließ. »Herrjeh«, stöhnte er und griff sich ans Herz. Ausgerechnet jetzt musste irgendjemand anrufen – das war ja klar.

»Polizeiinspektion Landau. Inspektor Bender am Apparat«, meldete er sich und bekam den zweiten Schreck, als er hörte, wer am anderen Ende war.

»Hallo Robert, hier spricht Morell. Na, wie läuft’s bei dir?«

»Wunderbar.« Bender versuchte angestrengt, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich habe alles im Griff. Sie können ohne weiteres noch in Wien bleiben und sich um den armen Leander Lorentz kümmern.«

»Genau darum rufe ich an. Ich brauche für meine Ermittlungen die Aufenthaltsorte von ein paar Personen und wäre froh, wenn du sie für mich herausfinden könntest.«

»Klar, Chef, kein Problem. Einen kleinen Moment – ich hole mir nur schnell was zum Schreiben.« Er schnappte sich einen Bleistift und ein Blatt Papier. »Ich bin bereit, schießen Sie los!«

Morell diktierte ihm die fünf Namen: Gustaf Harr, Ludwig Nagy, Friedrich Zuckermann, Johannes Meinrad und Wilfried Uhl.

»Alles klar, ich werde versuchen, ihre aktuellen Adressen herauszufinden, und melde mich wieder bei Ihnen, sobald ich etwas habe.«

»Danke, Robert. Und was macht Fre…«

»Also dann, bis später.« Bender legte einfach auf, bevor Morell sich nach seinem Kater erkundigen konnte.

Nach dem aufwühlenden Telefonat fiel es Bender schwer, sich erneut zu konzentrieren. Er versuchte es trotzdem, und tatsächlich fing das Pendel an sich zu bewegen: Es beschrieb einen weiträumigen Kreis, der vom Hotel Adler im Westen bis zum Badesee im Süden, hin zum Wald im Osten und der Burg im Norden von Landau reichte. Trotz mehrerer Versuche wollte es seinen Radius nicht einschränken.

»Na wunderbar«, murmelte Bender entnervt. »Fred befindet sich also irgendwo hier in Landau. Wie gut zu wissen, dass das blöde Mistvieh nicht nach Brasilien ausgewandert ist.«

Er warf das 36 Euro teure Pendel in den Papierkorb, holte sich eine Tasse Kaffee und machte sich daran, Morells Adressen zu recherchieren.