»Auf ihn sank Schweigen jetzt und Finsternis und Nacht.

Ein Grabgewölb’ zu dem den Schlüssel man verloren.«

Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen

Am nächsten Morgen war das Wetter immer noch trüb und grau. Während in Landau malerischer Altweibersommer herrschte, hatte sich in Wien grässliches Novemberwetter ein paar Wochen zu früh eingeschlichen. Morell, der auf dem Weg zum Archäologiezentrum war, schauderte. Er konnte dem berühmten morbiden Wiener Charme, von dem so viele Menschen schwärmten, nichts abgewinnen. Viele hielten es für ein Klischee, aber in seinen Augen war Wien tatsächlich eine Stadt, in der das Sterben besungen und dem Tod gehuldigt wurde. Nicht umsonst war eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Zentralfriedhof. Und wo sonst herrschte so reger Leichentourismus wie hier? Leute pilgerten durch die Stadt, um die Überreste der Habsburger zu besichtigen, die in ganz Wien verstreut lagen: die Herzen in der Augustinerkirche, der Rest der Eingeweide im Stephansdom und die einbalsamierten Körper in der Kapuzinerkirche. Menschen bezahlten Geld, um sich die Knochenberge unter der Michaelerkirche anzusehen, und standen Schlange, wenn das Bestattungsmuseum – übrigens das größte auf der ganzen Welt – Probeliegen im Sarg anbot.

 

Das Archäologiezentrum der Universität Wien befand sich nicht im Hauptgebäude am Ring, sondern in einem schönen Altbau am Rand des Währinger Parks. Früher hatte das Gebäude einmal die Hochschule für Welthandel beherbergt, jetzt aber bot es den archäologischen Instituten ein Zuhause.

Morell wollte sich im Institut für Ur- und Frühgeschichte, der Wirkungsstätte von Novak und Lorentz, ein bisschen umsehen. Sehr zu seinem Leidwesen befand sich das Institut im dritten Stock, und der Aufzug war ausschließlich den Uni-Angestellten vorbehalten – er war also wohl oder übel gezwungen, die Treppe zu nehmen.

Oben angekommen, musste er sich schwitzend und keuchend hinsetzen und schwor sich, so bald wie möglich etwas für seine Kondition zu tun.

Als er wieder zu Atem gekommen war, fing er an, sich unauffällig umzusehen: Langsam schlenderte er durch den Flur und kam gleich an einer polizeilich versiegelten Tür vorbei. Das übertrieben große Namensschild daran stellte unmissverständlich klar, dass es sich hierbei um das Büro des ermordeten Professors handelte. Morell hätte sich nur zu gerne den Tatort angesehen, aber selbst wenn er jemanden fand, der den passenden Schlüssel besaß, war immer noch die Versiegelung im Weg. Sie zu brechen, konnte er sich nicht erlauben, denn wenn Weber das erfuhr, würde er mit Freuden ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleiten.

Morells Blick fiel auf die Vitrinen an der gegenüberliegenden Wand, in denen einige Artefakte ausgestellt waren – Scherben, Töpfe und Steingeräte. Der Chefinspektor überlegte gerade, was an diesen Fundstücken wohl so spannend war, dass man ihnen sein gesamtes Berufsleben widmete, als hinter ihm eine Tür ins Schloss fiel. Erschrocken drehte er sich um und blickte direkt in das Gesicht des Weihnachtsmanns.

Morell runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und musterte Santa Claus: Er war ein wenig kleiner als er selbst, hatte einen prallen Kugelbauch, dichtes graues Haar, einen weißen Rauschebart und trug dazu auch noch einen knallroten Strickpulli. Es war schwer zu sagen, wie alt er wohl war. Die Farbe seiner Haare und die wettergegerbte Haut ließen auf einen Mann älteren Jahrgangs schließen. Die wachen, blauen Augen, die seinem Gesicht einen schelmischen Ausdruck verliehen, revidierten diesen Eindruck aber wieder.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Die Stimme des Mannes war von einer Tiefe und Rauheit, wie sie normalerweise nur der jahrzehntelange Konsum von Whiskey und Zigaretten modellieren konnte – oder ein langes Leben im harten, eisigen Klima des Nordpols.

»Ho-Ho-Ho«, nuschelte Morell und schielte zu der Tür, aus der der Mann soeben gekommen war. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie gleich wieder aufgegangen wäre und ein paar grünstrumpfige, spitzohrige Weihnachtselfen herausgehüpft kämen.

»Was meinten Sie?«

»Ach, nichts. Ich habe mir nur gerade diese Scherben angeschaut.« Morell deutete auf die Vitrine.

»O ja.« Die Weihnachtsmann-Augen begannen zu leuchten. »Diese neolithischen Artefakte sind hochinteressant, nicht wahr?«

Morell, der nicht die geringste Ahnung hatte, was ein neolithisches Artefakt war, wollte sich keine Blöße geben und nickte darum. »Arbeiten Sie hier am Institut?«, fragte er.

»Ja, ich bin Professor Ernst Payer. Ich unterrichte hier. Und Sie? Sind Sie ein neuer Seniorstudent?«

Morell verneinte lächelnd. »Ich bin Polizeibeamter und ermittle im Fall Novak.«

»Verstehe.« Payer nickte andächtig und streichelte seinen Rauschebart. »Eine schreckliche Sache. Die gesamte archäologische Fachwelt ist erschüttert über das, was geschehen ist.«

»Wirklich? Ich habe gehört, dass Herr Novak mit sehr vielen seiner Kollegen im Streit lag.«

»Streit?« Payer winkte ab. »Wir wollen mal nicht übertreiben. Kleine akademische Dispute kommen in jeder Forschungseinrichtung vor. Eine Schande, dass Dr. Lorentz deswegen so durchgedreht ist. Er war ein sehr vielversprechender junger Kollege.« Er schüttelte den Kopf und kratzte sich am Kinn.

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Lorentz derjenige war, der Professor Novak getötet hat.«

»Nein?« Payer legte seinen Kopf schief und zog die rechte Augenbraue hoch. »Ihr Kollege, der mich gestern befragt hat, schien davon aber überzeugt zu sein.«

Morell rollte mit den Augen. Weber, dieser Einfaltspinsel! »Diese Meinung hat sich aber nicht durchgesetzt«, grummelte er. »Wer außer Lorentz hatte denn noch solche – wie nannten Sie sie doch gleich? Solche ›kleinen akademischen Dispute‹ mit dem Opfer?«

»Da fragen Sie leider den Falschen. Professor Novak und Dr. Lorentz haben im Bereich Frühgeschichte geforscht. Ich dagegen bin ein waschechter Urgeschichtler.«

»Interessant«, log der Chefinspektor.

Payer überlegte. »Ihr Dialekt klingt nicht wienerisch. Darf ich fragen, woher Sie kommen, Herr …?«

»Oh, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Otto Morell.« Der Chefinspektor streckte dem Archäologen seine Hand hin.

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Payers Händedruck war schwielig und kräftig. »Also, wo kommen Sie her, Herr Morell?«

»Ich komme aus Landau, einem kleinen Ort in den Tiroler Bergen.«

Payer nickte euphorisch. »Ich dachte mir schon so etwas. Tirol – was für ein wunderbarer Zufall. Ich habe nämlich gerade eine sehr interessante Publikation über die Speerspitzen aus Höhlenbärenknochen aus der Tischofer Höhle gelesen. Ich glaube, dass die Erforschung von Höhlenbärenjagdkulturen im Alpenraum – vor allem im Bereich Tirol – bisher viel zu sehr vernachlässigt wurde. Was meinen Sie?«

Morell zuckte mit den Schultern. »Höhlenbären sind nicht wirklich mein Gebiet.«

»Wissen Sie was? Es ist doch ziemlich ungemütlich, hier im Gang herumzustehen. Warum kommen Sie nicht auf einen Sprung mit in mein Büro – dort können wir uns in Ruhe unterhalten«, schlug Payer vor.

»Warum nicht.« Morell hatte zwar nicht das geringste Interesse daran, etwas über Speerspitzen oder ausgestorbene Tiere zu lernen, aber vielleicht konnte er dem Professor unter diesem Vorwand doch noch die eine oder andere nützliche Information entlocken. Also folgte er dem bärtigen Archäologen in dessen Büro, das direkt neben dem des Ermordeten lag.

 

Es gab nur ein Wort, mit dem man Payers Arbeitszimmer beschreiben konnte: Bücher. Noch nie in seinem Leben hatte Morell so viele Druckwerke auf so kleinem Raum gesehen. Sie waren einfach überall. Da die deckenhohen Regale, die die kompletten Wandflächen einnahmen und sogar über dem Rahmen einer Seitentür entlangliefen, aus allen Nähten platzten, lagen und standen die Bücher auch stapelweise auf dem Tisch, den Stühlen, den Fensterbänken und dem Boden. Morell musste wie ein Storch über mehrere Bücherhaufen steigen, bis er den ihm angebotenen Hocker erreichte.

»Ich bin ein ziemlicher Bücherwurm«, sagte Payer und öffnete eine Schreibtischschublade.

»Was Sie nicht sagen.« Dem Chefinspektor wurde beinahe schwindelig, als er sich vorzustellen versuchte, wie viele Milliarden von Buchstaben sich wohl in diesem Raum befanden.

Payer zog zwei Schnapsgläser und eine Flasche ohne Etikett aus der Schublade und stellte sie feierlich auf den Tisch. »Marillenschnaps«, sagte er und lächelte verschwörerisch. »Selbst gebrannt. So was Feines gibt’s nirgends zu kaufen.«

Morell schielte auf seine Uhr. Es war noch nicht einmal zehn. »Ich sollte lieber nicht …«, setzte er an, aber Payer hatte schon eingeschenkt.

»Auf den alten Vitus Novak. Gott hab ihn selig.« Der Archäologe hob sein Glas und sah den Chefinspektor erwartungsvoll an.

Morell wollte ihn nicht beleidigen und griff zum Schnapsglas. Ein kleiner Schluck Alkohol würde ihn schon nicht umbringen – immerhin hatte er ausgiebig gefrühstückt und darum eine gute Unterlage. »Auf Herrn Novak«, sagte er also, stieß an, kippte den Schnaps hinunter und erstarrte: Erst zogen sich sämtliche Poren seines Körpers zusammen, dann stellten sich alle Haare auf, und schließlich raste eine Hitzewelle wie eine Feuerwalze durch seinen Leib und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er konnte förmlich spüren, wie wichtige Gehirnzellen abstarben und sich sein IQ gerade um einige Punkte senkte. »Brrrrr.« Er schüttelte sich. »Der hat es aber in sich.«

Payer nickte und strahlte. »Ich wusste, dass ein gestandenes Mannsbild wie Sie meinen Marillenen zu schätzen weiß.« Er griff nach der Flasche, und bevor Morell reagieren konnte, schenkte er nach. »Auf Dr. Lorentz – möge seine Unschuld bald bewiesen werden.« Er hob erneut das Glas.

Morell schauderte und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, damit er nicht noch einen Schluck von diesem Gebräu trinken musste. »Höhlenbären also«, lenkte er ab.

»Ja.« Der Archäologe lächelte selig. »Die Urgeschichte ist ein wirklich spannendes Forschungsgebiet. Ein Skandal, dass die Politiker hier in Österreich das nicht erkennen. Dieses Jahr wurden meine Mittel schon wieder gekürzt. Eine Schande ist das. Die Bonzen fahren fette Autos, tragen teure Anzüge und gehen auf schicke Veranstaltungen. Aber wenn es um Kultur und Geschichte geht, ist plötzlich kein Geld mehr da.« Er hielt das Schnapsglas immer noch hoch. »Auf dass die Politik endlich lernt, die wahrhaft wichtigen Dinge zu würdigen.«

Morell machte keinerlei Anstalten, das Glas zu ergreifen, sondern starrte stattdessen auf mehrere mannshohe Bücherstapel, hinter denen eine gepolsterte Seitentür zu sehen war. »… die wichtigen Dinge zu würdigen«, wiederholte er Payers Worte gedankenversunken. »Sagen Sie, Herr Professor, wo führt denn diese Tür da hin?«

»Welche Tür? Ach so, die führt zu Professor Novaks Büro, unsere Räume sind quasi miteinander verbunden. Schreckliche Vorstellung, dass Novak gleich hier nebenan getötet wurde.« Payer verzog den Mund.

Morell dagegen lächelte. Hatte er also richtig vermutet. Hier tat sich gerade die einmalige Gelegenheit auf, sich doch noch unauffällig am Tatort umzusehen, denn diese Tür war nicht versiegelt. Weber war sich seiner Sache anscheinend so sicher, dass er begann, schlampig zu arbeiten. »Glauben Sie, es wäre möglich, durch diese Tür einen kurzen Blick in das Büro von Professor Novak zu werfen?«, fragte er.

»Warum denn das? Da müssten wir ja erst die ganzen Bücher beiseiteräumen.« Payer deutete auf die Stapel. »Können Sie denn nicht einfach den Vordereingang nehmen?«

»Der ist leider versiegelt.«

»Aber Sie als Polizist können das Siegel doch ohne weiteres aufbrechen, oder?«

Der Chefinspektor überlegte. Wie konnte er sich da nur rausreden, ohne dass Payer erfuhr, dass er hier völlig unautorisiert und auf eigene Faust herumschnüffelte? Je länger der bärtige Archäologe ihn fragend anschaute, desto mehr kam er ins Schwitzen. Er hasste es zu lügen. Bisher hatte er sich ja recht gut aus der Affäre ziehen können: Dass er Polizeibeamter war und im Fall Novak ermittelte, entsprach völlig der Wahrheit. Nun ja, er hatte ein paar Fakten weggelassen, was aber nicht halb so schlimm war, wie jemandem bewusst ins Gesicht zu lügen. Um Zeit zu gewinnen und letzte Skrupel zu beseitigen, griff er nach seinem Schnaps.

»Auf die wirklich wichtigen Dinge.« Er lächelte gequält und kippte das Gebräu hinunter. »Zu Ihrer Frage …«, setzte er an, nachdem es ihn ordentlich durchgeschüttelt hatte, »Sie haben natürlich recht, aber … ähm … Sie als Beamter wissen ja, wie es in Österreich ist … mit der Bürokratie und so … all der Papierkram, den ich da ausfüllen müsste … es würde mir viel Zeit und Arbeit sparen …« Der Chefinspektor merkte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er war und blieb eine totale Niete, wenn es ums Lügen ging. »Uff«, sagte er verlegen. »Der Schnaps hat’s aber wirklich in sich.«

Payer grinste. »Das ist halt noch richtiger Sprit. Freut mich, dass Sie den guten Tropfen zu schätzen wissen.« Er schaute auf die Tür und kratzte sich am Kopf. »Ja, ja, die Bürokratie – wem sagen Sie das. Hier an der Uni kann man nicht einmal einen fahren lassen, wenn man vorher keinen Antrag ausgefüllt hat. Glauben Sie mir, selbst wenn morgen Forschung und Lehre eingestellt werden würden, könnte der ganze Betrieb noch jahrzehntelang weiterbestehen, indem er sich einfach selbst verwaltet.« Dabei nickte er und strich über seinen Bart. »Warten Sie kurz – ich suche nur schnell nach dem Schlüssel. Fangen Sie doch schon mal an, die Bücher beiseitezuräumen.«

 

Morell hatte eigentlich erwartet, in eine dunkle, unordentliche, mit Büchern vollgestopfte Kammer – kurz: in ein Arbeitszimmer wie das von Payer – geführt zu werden, aber er hatte sich getäuscht. Novaks Büro war mindestens doppelt so groß wie das seines Kollegen, wurde durch zwei riesige Fenster mit Tageslicht geflutet und war außerdem mit dicken, weichen Teppichen ausgelegt, die jeden Schritt dämpften und eine flauschige, heimelige Atmosphäre verbreiteten. Die wenigen, geschmackvoll arrangierten Möbel wirkten teuer und waren offenbar mit Bedacht ausgewählt worden. In einem großen Regal standen – sauber geordnet – einige edle, ledergebundene Bücher, und ein antiker Glasschrank beherbergte exotische Mitbringsel aus aller Welt: geschnitzte Holzmasken, einen glänzenden Jadeelefanten, mehrere Bronzefigürchen und ein kleines, verschrumpeltes Etwas, das sich bei näherer Betrachtung, sehr zu Morells Entsetzen, als Schrumpfkopf entpuppte. In dem Raum gab es außerdem noch mehrere gerahmte Urkunden und Landkarten, eine Vielzahl von Fotos und einen kleinen Aktenschrank. Das Herzstück des Zimmers war aber der imposante Schreibtisch, der aus dunklem Edelholz gefertigt und mit wunderschönen Schnitzereien und Intarsien verziert war. Das hier war ein Büro für teuren Singlemalt und jahrelang gereiften Cognac – keines für selbstgebrannten Fusel.

Payer, der mit Morell in das Büro gegangen war, schien dessen Gedanken gelesen zu haben. »Ja, der gute alte Vitus hatte Geschmack und vor allem Geld«, stellte er fest. »Der musste sich im Gegensatz zu mir nie Sorgen um die Finanzierung seiner Forschungen machen.«

Der Chefinspektor musterte den Professor. Hier hatte er seinen ersten Verdächtigen: Neid war immer ein starkes Motiv und drängte sich in diesem Fall – verglich man die beiden Büros – geradezu auf. Allerdings traute er dem kauzigen Schnapstrinker eine solche Gräueltat nicht wirklich zu. Er ließ seinen Blick weiterwandern, bis dieser an einem dunklen Fleck in der hinteren Ecke des Raumes hängen blieb.

»Da hinten hat der Mörder den armen Vitus niedergeschlagen.« Payer zeigte auf eine eingetrocknete Blutspur, die auf dem hellen Teppich gut zu erkennen war. »Und darüber hat er ihn dann weggeschleift.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Eine schreckliche Sache! Und das alles direkt neben meinem Büro. Apropos – genau dorthin werde ich jetzt wieder verschwinden. Ich habe noch einiges zu erledigen.«

Morell nickte und beneidete Payer, der sich in sein kleines Bücherloch verziehen konnte, während er sich hier mit einem blutigen Tatort beschäftigen musste. Er schloss die Tür leise hinter dem Professor und atmete tief ein. Wieder einmal befand er sich am Schauplatz eines grausigen Verbrechens, und das, obwohl er sich so sehr gewünscht hatte, nie wieder mit Mord oder Totschlag konfrontiert zu werden.

»Augen zu und durch«, versuchte er sich selbst zu motivieren und beschloss, sich als Erstes die vielen Fotos, die an der Wand hingen, anzusehen. Sie zeigten Landschaften, Ausgrabungsstätten, Gruppen von Menschen und einzelne Fundstücke. Ein Mann kam auf fast allen Bildern vor – das musste das Opfer sein. Novak war ein gepflegter älterer Herr gewesen, der auf so gut wie jeder Aufnahme, ganz gleich ob in der Wüste oder im Regenwald, mit einem schicken Hut und einem weißen Leinenanzug bekleidet war – ein richtiger Sir. So in etwa musste Howard Carter ausgesehen haben, als er im Tal der Könige nach dem Grab von Tutanchamun suchte. Morell überlegte – starb Carter nicht eines unnatürlichen Todes, der auf einen Fluch zurückgeführt wurde? Er hatte doch erst kürzlich im Fernsehen eine Doku darüber gesehen. Hatte Novak etwa auch ein Grab zu viel geöffnet? Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. Was für ein dummer Gedanke. Payers Hochprozentiger hatte tatsächlich eine Spur der Verwüstung in seinem Hirn hinterlassen.

Morell durchsuchte die Schränke und Schreibtischschubladen, fand aber nichts außer komplizierten Berichten, unverständlichen Grabungsdokumentationen und Artikel voller Fachchinesisch. Er sah sich die Souvenirs im Glasschrank genauer an, wobei er den abstoßenden Schrumpfkopf so gut wie möglich ignorierte, und blätterte schlussendlich sogar noch die Bücher im Regal durch – NICHTS.

Frustriert setzte er sich in den üppig gepolsterten Ledersessel hinter dem Schreibtisch und lehnte sich zurück. Was war Novak für ein Mensch gewesen? Wer konnte einen Grund gehabt haben, ihn umzubringen? Je länger er so dasaß und versuchte, den Raum auf sich wirken zu lassen, um auf diese Weise etwas über das Opfer zu erfahren, desto stärker beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas in diesem Zimmer war nicht in Ordnung. Es war wie bei einem dieser Bilderrätsel, bei denen man den Fehler finden musste. Morell setzte sich aufrecht hin und ließ den Blick wandern.

Es dauerte nicht lang, bis er den Störfaktor entdeckte: Es fehlte ganz offensichtlich ein Foto. Zwischen mehreren Bilderrahmen, die auf dem Glasschrank standen, klaffte klar und deutlich eine Lücke. Morells Vermutung wurde durch die Tatsache untermauert, dass an besagter Stelle ein Abdruck, umgeben von einer dünnen Staubschicht, zu sehen war – der Bilderrahmen samt Inhalt musste also erst vor kurzer Zeit entfernt worden sein. Soweit der Chefinspektor sich erinnern konnte, war in der Liste der konfiszierten Beweismittel, die er bei Weber eingesehen hatte, kein Foto vermerkt gewesen. Irgendjemand anderes hatte es also genommen. Aber wer? Und warum? Er stellte sich auf die Zehenspitzen und betrachtete die restlichen Bilder genauer. Es waren mindestens vierzig Stück, und bei allen handelte es sich um Gruppenfotos, die an verschiedenen Orten und in verschiedenen Jahren aufgenommen worden waren. Erinnerungen an Grabungen und Forschungsreisen, an denen Novak teilgenommen hatte. »Interessant«, murmelte Morell. »Sehr interessant.«

 

»Da sind Sie ja wieder.« Payer saß an seinem Schreibtisch und sah Morell dabei zu, wie er die Zwischentüre zuzog und wieder absperrte. »Und? Hat Ihr kleiner Ausflug etwas gebracht?«

»Könnte sein.« Morell setzte sich. »Auf Novaks Schrank stehen mehrere gerahmte Gruppenfotos, und eines davon fehlt ganz offensichtlich.«

»Aha.« Der Archäologe zuckte mit den Schultern, griff nach der Flasche, und bevor der Chefinspektor reagieren konnte, hatte er schon eingeschenkt.

Morell starrte auf das Glas, als wäre Payers selbstgebrannter Schnaps eine der zehn biblischen Plagen. »Wenn Sie sich die Bilder ansehen würden, könnten Sie dann sagen, was auf dem fehlenden Foto zu sehen war?«

»Tut mir leid.« Payer schüttelte den Kopf. »Wie ich bereits erwähnt habe, hatten Novak und ich nur sehr selten miteinander zu tun. Am besten fragen Sie Moritz Langthaler – er war Novaks rechte Hand und kann Ihnen am ehesten weiterhelfen.« Der Professor griff nach seinem Glas.

Morell versuchte, seinen auffordernden Blick zu ignorieren. »Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, das für die Aufklärung des Falls nützlich sein könnte, rufen Sie mich doch bitte auf meinem Handy an. Hier, meine Karte.«

»Natürlich!« Auch der Professor reichte seine Visitenkarte herüber. »Aber jetzt trinken wir noch einen Abschiedsschnaps. Auf dass Sie den Fall lösen.« Payer streckte dem Chefinspektor das Glas entgegen.

Morell seufzte leise. Er hatte so sehr gehofft, Payers Büro verlassen zu können, bevor dieser ihn mit seinem Fusel umbrachte. Dann fiel ihm etwas ein. »Ähm, es wäre mir übrigens sehr lieb, wenn mein kleiner Ausflug in Novaks Büro unter uns bliebe. Sie wissen ja – die Bürokratie.«

»Selbstverständlich! Trinken wir auf die Lösung des Falls und darauf, dass unsere kleine Exkursion unentdeckt bleibt.«

»Auf die Lösung und unser Geheimnis«, ergab der Chefinspektor sich und kippte wacker das Feuerwasser hinunter. Wenn Lorentz und Capelli nur wüssten, was er hier alles auf sich nahm.

Payer begleitete Morell auf den Flur und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. »Kommen Sie gerne mal außerhalb Ihrer Dienstzeit vorbei. Wenn Sie vorher anrufen, bringe ich auch eine Flasche selbstgebrannten Quittenschnaps mit. Der wird Ihnen schmecken … Oh, Sie haben Glück. Sehen Sie den Herrn, der da drüben steht und mit dem blonden Mädel redet?« Der Professor zeigte auf einen großen, schlanken Mann Mitte dreißig, mit kurzen braunen Haaren und sonnengebräunter Haut. »Das ist Moritz Langthaler, von dem ich vorhin gesprochen habe. Fragen Sie ihn doch mal nach dem Foto.«

Morell bedankte sich und ging rasch den Flur hinunter, wobei ihm auffiel, dass er bereits ein wenig torkelte. Er räusperte sich. »Herr Langthaler?«

»Ja?« Novaks Assistent drehte sich um und sah Morell fragend an.

»Mein Name ist Morell. Chefinspektor Otto Morell, um genau zu sein. Ich bin hier, weil es noch einige offene Fragen bezüglich des Mordes an Professor Novak gibt.«

»Tatsächlich?« Langthaler zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Kollege meinte, der Fall wäre so gut wie abgeschlossen.«

Es kostete Morell einiges an Überwindung, keine abfällige Bemerkung über Weber fallenzulassen. »Es sind leider einige Ungereimtheiten aufgetaucht«, sagte er stattdessen.

Noch bevor Langthaler antworten konnte, wandte sich die blonde Studentin, mit der er gerade gesprochen hatte, mit einem strahlenden Lächeln an den Chefinspektor. »Wie wunderbar! Dann ist Dr. Lorentz also doch unschuldig. Ich wusste doch, dass er kein Mörder ist.« Sie streckte Morell ihre Hand entgegen.

Oh, oh, dachte Morell, als er ihren verträumten Blick bemerkte. Da hatte der Charme des attraktiven Leander Lorentz mal wieder gnadenlos zugeschlagen.

»Entschuldigung, dass ich mich einmische, ich heiße Anna Wondraschek. Ich schreibe gerade an meiner Dissertation, und Professor Novak war mein Betreuer.«

»Aha, dann können vielleicht Ssie beide mir bessüglich eines Fotos weiterhelfen.« Verflixt, jetzt hatte er noch nicht mal mehr seine Zunge im Griff. »In Novaks Büro stehen jede Menge Gruppenfotos. Ssoweit ich das beurteilen kann, fehlt eines davon«, fuhr Morell fort, wobei er sich bemühte, einen möglichst großen Abstand zu seinen Gesprächspartnern zu halten, denn seine Fahne musste furchtbar sein. »Sie wissen nicht ssufällig etwas darüber?«

»Hmmm …« Langthaler überlegte. »Sie meinen sicherlich die Bilder auf dem Schrank. Professor Novak hatte die Angewohnheit, bei jeder seiner Ausgrabungen ein Foto des Teams zu machen – als Andenken sozusagen.« Er grübelte weiter. »Er hat im Laufe seiner Karriere an so vielen Projekten mitgearbeitet, dass man nur schwer herausfinden kann, ob eines davon fehlt und wenn ja, welches.«

Anna Wondraschek, die noch immer euphorisch strahlte, schob sich eine blonde Locke hinters Ohr. »Wir könnten versuchen, eine Liste mit allen Ausgrabungen, bei denen Novak mitgearbeitet hat, zu erstellen, und sie dann mit den vorhandenen Fotos abgleichen«, schlug sie vor.

Morell nickte, kramte umständlich zwei Visitenkarten und einen Stift aus seiner Manteltasche und markierte mit zittrigen Fingern seine Handynummer. Sein Kopf brummte, er musste dringend hier raus, bevor ihm noch was Peinliches passierte. »Das ist eine ssehr gute Idee. Machen Ssie bitte diese Liste und rufen Ssie mich an, wenn Ssie sie fertig haben.«

Die beiden nickten. »Werden wir machen«, sagte Wondraschek. »Ich mache mich gleich an die Arbeit.«