»Es kommt nicht auf den Ort an, die Nachwelt wird mich schon finden.«

Arthur Schopenhauer, auf die Frage, wo er begraben sein möchte.

Chefinspektor Roman Weber hatte seine Bürotür einen Spaltbreit geöffnet, damit die Atmosphäre von hektischer Betriebsamkeit, die im LKA vorherrschte, zu ihm hereinströmen konnte. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, schloss für einen Moment die Augen und genoss die Geräuschkulisse: das Läuten von Telefonen, das Schlagen von Türen, die eiligen Schritte im Flur und das Stimmengewirr in allen möglichen Tonlagen. Er befand sich im Herzen eines Bienenstocks. SEINES Bienenstocks. Er war der Held der Stunde, der siegreiche Retter, die aufstrebende Star-Biene.

Er steckte sich einen Zahnstocher in den Mund, kaute grinsend darauf herum und war äußerst zufrieden mit sich und der Welt. Der spektakuläre und blutrünstige Mord an Vitus Novak war das Beste, was ihm seit langem passiert war. Der Fall beherrschte die Titelblätter sämtlicher Printmedien, und es gab kaum einen TV- oder Radiosender, der nicht darüber berichtet hatte. Dass es ihm gelungen war, den Täter in weniger als 24 Stunden zu verhaften, ließ die negativen Schlagzeilen, für die die österreichische Exekutive in den letzten Jahren gesorgt hatte, endlich in Vergessenheit geraten.

Weber und sein Team wurden von allen Seiten in den höchsten Tönen für ihre effiziente Arbeit gelobt und erhielten endlich die Anerkennung, die ihnen zustand. Sogar der Polizeichef höchstpersönlich war vorhin hier gewesen, um ihm zu gratulieren. »Männer wie Sie sind das Rückgrat unserer Gesellschaft«, hatte er gesagt und dabei wohlwollend genickt. Weber konnte seine Beförderung schon förmlich riechen.

Und damit nicht genug. Gleich würde er ein Exklusivinterview mit einer der größten Tageszeitungen Österreichs führen. »Der Held von Wien – der Mann, der den Uni-Schlächter fasste«, sollte der Artikel heißen.

Weber nahm eine Tube Gel aus einer Schreibtischschublade, verrieb eine haselnussgroße Portion davon zwischen den Handflächen und fuhr sich durch die Haare – wahrscheinlich würden sie ein Foto von ihm machen, und er wollte gut aussehen, wenn er als Held von Wien vom Titelbild lachte. Oder nein, er würde nicht lächeln. Er würde ernst und erhaben dreinschauen. Oder vielleicht doch lieber smart und weltgewandt?

Er kam nicht dazu, sich noch mehr Gedanken bezüglich seiner Mimik zu machen, da das Telefon läutete.

»Herr Weber, hier spricht Helene Novak. Ich rufe an, um Ihnen mitzuteilen, wie sehr ich mich über Ihr unprofessionelles Verhalten ärgere.«

Weber wischte seine Hände an einem Taschentuch ab und überlegte kurz, was er wohl angestellt hatte. »Tut mir leid, Frau Novak, aber ich bin mir keiner Schuld bewusst.«

»Also wirklich! Ich bitte Sie! Lügen Sie mich doch nicht an!«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein.« Frau Novak holte tief Luft. »Erst bauen Sie Mist, und dann tun Sie einfach so, als wüssten Sie von nichts. Stehen Sie wenigstens zu Ihrer Unzulänglichkeit!«

»Wie ich bereits sagte: Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Weber stand auf, strich seine Hose glatt und richtete den Kragen seines Hemdes.

Er hatte keine Ahnung, worüber sich die alte Novak so furchtbar aufregte, und um ehrlich zu sein, war es ihm auch egal. Heute war sein großer Tag, und den würde er sich nicht von einem aufgebrachten Weib verderben lassen. Es war das Los eines jeden Polizisten, sich hie und da von emotionalen Angehörigen, ertappten Verbrechern oder auch einfach nur von frustrierten Bürgern beschimpfen lassen zu müssen. Er hatte daher im Laufe seiner Dienstzeit gelernt, das Hirn auf Durchzug zu schalten und unangebrachte Beschuldigungen einfach zu ignorieren. Er fuhr sich noch einmal mit den Fingern durch die gegelten Haare und richtete seine Krawatte.

»Sie haben keine Ahnung?! Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen! So eine Unverschämtheit!«

»Könnten Sie mir bitte einfach sagen, was los ist?« Weber wurde langsam ungeduldig. Die Leute von der Presse würden sicherlich gleich hier sein, und er wollte vorher noch schnell auf die Toilette gehen, um dort einen Blick in den Spiegel zu werfen.

»Ich spreche davon, dass Sie es nicht für nötig halten, mir mitzuteilen, dass es Zweifel an Lorentz’ Schuld gibt.«

Weber hörte auf, an seiner Krawatte herumzufummeln. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Der Herr Reiter aus der Pietät hat es mir gesagt.«

»Nonsens. Da hat dieser Herr Reiter Ihnen aber einen sauberen Blödsinn erzählt.«

»Das glaube ich nicht«, insistierte Frau Novak. »Herr Reiter ist ein ausgesprochen ernsthafter und seriöser Mann.«

»Das ist er auf keinen Fall, wenn er Ihnen so einen Unsinn einredet. Der Mörder Ihres Mannes sitzt nämlich im Gefängnis, und jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner. Punkt.« Weber schaute auf seine Uhr. Er musste Frau Novak so schnell wie möglich abwürgen. »Fragen Sie diesen Herrn Reiter doch einmal, wo er diesen Blödsinn herhat, und rufen Sie später wieder an.«

»Da muss ich nicht extra nachfragen, ich weiß, woher der Herr Reiter diese Information hat – er hat es in der Zeitung gelesen.«

»In der Zeitung?« Endlich gehörte Frau Novak Webers ungeteilte Aufmerksamkeit. »In welcher?«

»Er hat es aus dieser Gratiszeitung, die in der U-Bahn verteilt wird.«

Weber setzte sich. »Bleiben Sie mal kurz dran«, sagte er, legte den Hörer neben das Telefon, griff unter seinen Schreibtisch und zog einen Stapel Zeitungen hervor. Was für ein Glück, dass er die komplette Berichterstattung über seinen Fall akribisch gesammelt hatte. Er suchte das besagte Skandalblatt heraus und griff wieder zum Hörer. »So, Frau Novak«, sagte er. »Ich habe die U-Bahn-Zeitung vor mir liegen, und weder in der Ausgabe von heute noch in der von gestern steht etwas von einer falschen Verhaftung. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann kann ich Ihnen gerne eine Kopie davon schicken.«

Webers nachdrückliche Worte zeigten Wirkung – Frau Novak war verunsichert. »Sie meinen wirklich, dass Herr Reiter mich angeschwindelt haben könnte?«

»Genau das glaube ich.«

»Aber er wirkte doch so vertrauenswürdig.«

»Tja, so ist das eben mit den Menschen – sie sind häufig nicht das, was sie zu sein scheinen. Aber wie auch immer – ich kann Ihnen versichern, dass wir alles im Griff haben. Es gibt also keinen Grund zur Aufregung.«

Frau Novak war peinlich berührt. Hatte sie Weber etwa zu Unrecht beschimpft? »Vielleicht hat dieser dicke, neugierige Kerl mir ja tatsächlich etwas Falsches erzählt«, sagte sie entschuldigend. »Tut mir leid, dass ich so aufbrausend war.«

»Schon in Ordnung. Die letzten Tage waren sicherlich nicht leicht für Sie. Da können die Nerven schon mal blank liegen. Machen Sie sich nichts draus.« Weber wollte schon auflegen, als ein Gedanke sein Hirn durchfuhr. »Halt, Frau Novak!«, rief er. »Warten Sie!«

»Ja?«

»Sie sagten, dieser Herr Reiter sei dick und neugierig gewesen?«

»Ja, er war groß, korpulent und hat viele Fragen gestellt.«

»Hatte er vielleicht einen leichten Tiroler Akzent?« Weber glaubte zwar nicht wirklich daran, dass sein Exkollege die Unverfrorenheit besaß, heimlich in seinem Fall herumzuschnüffeln, aber man konnte ja nie wissen.

»Hmmm …« Frau Novak überlegte. »Es wäre möglich, aber sicher bin ich mir nicht. Ich war so sehr damit beschäftigt, die Bestattung meines Mannes zu organisieren, dass ich nicht darauf geachtet habe. Ist es wichtig? Soll ich noch einmal hinfahren und mit Herrn Reiter sprechen?«

»Nicht nötig. Kümmern Sie sich lieber in Ruhe um die Beerdigung. Ich werde mir diesen Herrn Reiter persönlich vornehmen.« Weber legte auf und suchte im Telefonbuch nach der Adresse der Pietät. Wahrscheinlich war es nur falscher Alarm. Morell würde nie so weit gehen, sich in seine Ermittlung einzumischen, dafür war er viel zu zimperlich – aber Vorsicht war nun einmal besser als Nachsicht, und darum würde er der Sache auf den Grund gehen. Sein neues Image als Held von Wien würde er sich von keinem kaputtmachen lassen – vor allem nicht von Morell.