»Den Gestorbnen ist wohl! Dort sehn ich mich hin!

Sanft ruht sich’s im Grab, im finstren Gemach!«

Euripides, Alkestis

Selten war es Morell so schwergefallen, sich aus dem Bett zu quälen, wie an diesem Morgen. Nachdem er gestern endlich eingeschlafen war, hatte ihn sein unterzuckertes Unterbewusstsein direkt in ein Reich voller Einbalsamierungen, Enthauptungen und Höhlenbären katapultiert – kurz gesagt: Morell war von den schlimmsten Albträumen seit langem heimgesucht worden.

Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und seufzte. Es waren nicht nur die Diät und der Job in der Pietät, die ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherten, es gab da noch etwas, was sich in seine Träume geschlichen hatte, nämlich sein Anzug. Er hatte ihn vorsichtshalber eingepackt – man konnte ja nie wissen –, aber nicht damit gerechnet, dass er ihn tatsächlich brauchen würde.

Der Chefinspektor starrte den schwarzen Zweireiher an und überlegte, wann er ihn zuletzt getragen hatte. Bei der Hochzeit seiner Cousine? Bei der Taufe von Benders Nichte? Er holte tief Luft, zog den Bauch ein, sandte ein Stoßgebet gen Himmel und zog die Hose hoch. Keine Chance! Mit dem Sakko hatte er auch kein Glück. Es spannte an den Oberarmen und ließ sich vorne nicht mehr zuknöpfen. »So ein Mist«, murmelte er. Ein Blick auf die Uhr bestätigte die Befürchtung, dass keine Zeit für Selbstmitleid blieb. In weniger als 45 Minuten musste er bei seinem neuen Arbeitgeber sein.

»Kein Gejammer, keine Schwäche«, unterdrückte er einen Anflug von Lamento. »Nicht zurück in die alten Verhaltensmuster fallen!« Er atmete tief ein, schlüpfte in seine normalen Klamotten und holte aus dem Flur die Gelben Seiten. Nach wenigen Minuten hatte er gefunden, wonach er suchte: Ein Bekleidungsgeschäft für Herren, das auf dem Weg zum Bestattungsunternehmen lag.

 

Tatsächlich schaffte es Morell, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Er hatte den neuen Anzug gleich anbehalten und seine andere Kleidung in eine Plastiktüte gesteckt. Für ein Frühstück war keine Zeit mehr geblieben, aber da er ja auf Diät war, war das schon in Ordnung so.

»Ah, da sind Sie ja, Herr Reiter.« Eschener sah auf seine teure Armbanduhr und lächelte. »Pünktlich auf die Minute. Das lob’ ich mir, denn wie heißt es doch so schön: Pünktlichkeit ist der beste Beweis einer guten Erziehung.« Er überlegte kurz. »Am besten fangen Sie hier im Eingangsbereich mit Ihrer Arbeit an. Unsere Ausstellungsstücke müssen dringend wieder einmal auf Hochglanz poliert werden. Ich hole Ihnen gleich ein paar Staubtücher und Möbelpolitur. Danach können Sie dann die Totenhemden neu arrangieren und die Blumen gießen.«

Dem Chefinspektor fiel ein Stein vom Herzen. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, jegliche Arbeit widerstandslos und unaufgeregt zu erledigen, war er doch froh, dass seine erste Aufgabe ihn nicht in den Keller führte und ihn auch nicht in direkten Kontakt mit toten Menschen brachte.

 

Morell polierte gerade einen reichverzierten Eichensarg, als Eschener erneut den Raum betrat.

»Herr Reiter?«

Der Chefinspektor reagierte nicht und putzte munter weiter.

»Herr Reiter?!«

Es dauerte einige Augenblicke, bis Morell realisierte, dass er damit gemeint war. Verflixt, fluchte er innerlich. Er musste aufpassen, dass ihm das nicht öfter passierte. »Entschuldigung, ich war so damit beschäftigt, den Staub aus den Schnitzereien zu wischen, dass ich …«

»Schon in Ordnung, Herr Reiter. Ich habe soeben einen Anruf aus dem Seniorenheim bekommen. Wir sollen einen verstorbenen Insassen abholen. Ich habe allerdings gleich ein Kundengespräch, deshalb müssen Sie unseren Herrn Jedler begleiten. Sie wissen ja, was zu tun ist.«

Noch bevor Morell antworten konnte, tauchte hinter Eschener ein kleiner, pausbäckiger Mann mit wild abstehenden roten Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen auf. Er sah aus wie einer jener irischen Kobolde, die am Ende des Regenbogens Töpfe voller Gold hüteten.

»Darf ich vorstellen«, sagte Eschener. »Das ist Thomas Reiter, er ist vormittags zur Aushilfe hier, und das hier ist Sebastian Jedler, unser Thanatopraktiker.«

»Freut mich«, sagte Jedler und streckte Morell seine sommersprossige Hand entgegen. »Dann wollen wir mal.«

Der Chefinspektor folgte Jedler hinaus auf den Parkplatz, wo der Leichenwagen stand. Mit einem mulmigen Gefühl nahm er auf dem Beifahrersitz Platz.

Jedler drehte den Zündschlüssel um und legte einen Kavalierstart hin. »Sie können übrigens ruhig Basti zu mir sagen. Ich bin mit der anderen Kollegin auch per Du, nur der Eschener ist so steif und besteht aufs Siezen.«

»Ist gut, Basti. Ich heiße … äh … Thomas.«

Morell war unwohl. Schon bald würde nur wenige Zentimeter hinter ihm eine Leiche liegen. Zumindest verspürte er deshalb noch immer keinen Appetit. Er kurbelte das Fenster ein Stück herunter, ließ etwas frische Luft hereinwehen und begann mit Jedler über das Bestattungswesen zu plaudern.

»Sag mal, sagt dir der Name Benedikt Horsky etwas?«, fragte er irgendwann so beiläufig wie möglich.

Jedler grübelte. »Nein. Wer soll das sein?«

»Ach, nicht so wichtig«, winkte Morell ab. »Ein Bekannter von mir, auch ein Bestattungsunternehmer. Hätte ja sein können, dass du ihn kennst. Ich habe ihn schon lang nicht mehr gesehen, und jetzt, wo ich auch wieder im Bestattungswesen tätig bin, musste ich mehrfach an ihn denken und habe mich gefragt, was wohl aus ihm geworden ist.«

Jedler zuckte mit den Schultern. »Nö, einen Horsky kenn ich nicht.« Er raste um eine Kurve und zündete sich dann eine Zigarette an.

Kurz darauf erreichten sie das Altersheim, das direkt an einer stark befahrenen Straße lag. Die Fassade war von den Abgasen der Autos grau und schmutzig gefärbt. Überhaupt machte das ganze Gebäude auf Morell keinen guten Eindruck. Der große, schmucklose Klotz hatte Fenster, die schon seit Monaten kein Putzzeug mehr gesehen hatten, und obwohl es helllichter Tag war, waren einige der fleckigen grauweißen Jalousien noch nicht hochgezogen. Über dem Eingang, einer breiten Schiebetür, prangte in schmuddeligen roten Lettern der Schriftzug ›Seniorenresidenz Sonnblick‹. Morell schüttelte den Kopf – das war ja wohl der Euphemismus des Jahres. Wenn er mit seinem ersten Eindruck richtig lag, dann wäre der Begriff ›Altenbunker Trübseligkeit‹ wohl treffender. Sogar das Gefängnis, in dem Lorentz derzeit unschuldigerweise vor sich hinschmorte, versprühte mehr Charme als diese abgetakelte Einrichtung.

Jedler legte eine Vollbremsung hin und klatschte in die Hände. »Auf geht’s«, rief er, drückte seine Zigarette aus und sprang aus dem Wagen.

Morell, dessen Elan sich angesichts der bevorstehenden Aufgabe schwer in Grenzen hielt, wuchtete sich aus dem Sitz. Es nutzte nichts, er musste hier jetzt einfach mitmachen. Er half Jedler, eine Trage und einen Leichensack aus dem hinteren Teil des Autos zu nehmen, und folgte dem kleinen Kerl. Wie die beiden so hintereinander hergingen, wirkten sie wie frisch aus einem Märchenbuch: Ein fröhlicher Kobold, gefolgt von einem sanften Riesen.

 

Zurück in der Pietät, brachten sie als Erstes den Leichnam in den Aufbahrungsraum im Keller und gingen dann hoch in den Empfangsbereich, wo eindeutig Hektik in der Luft hing. Eschener rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn herum und rief einer Frau, die der Chefinspektor bisher noch nicht gesehen hatte, aufgeregt irgendwelche Anweisungen zu.

»Wie gut, dass Sie da sind, Herr Reiter. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Darf ich Ihnen Frau Summer vorstellen. Sie kümmert sich um sämtliche administrativen Belange und ist auch häufig beratend tätig. Frau Summer, das ist Thomas Reiter, unser neuer Helfer.«

»Freut mich.« Morell, der noch immer vom Transport des Toten mitgenommen war, war froh, in ein fröhliches, lebendiges Gesicht zu blicken. Frau Summer war etwa sechzig Jahre alt, klein, rund und rotbackig, mit Grübchen in den Wangen und wuscheligen, weißen Haaren. Sie trug ein wallendes Kleid mit aufgedruckten Blumen und eine dicke Brille, die ihre Augen auf die doppelte Größe anwachsen ließ.

»Schön, dass wir ein bisschen Hilfe kriegen – und eine so stattliche gleich dazu.« Sie zwinkerte. »Mein Büro ist neben dem von Herrn Eschener. Wenn Sie mal Hilfe brauchen oder einen guten Kaffee, dann kommen Sie vorbei.«

»Gern.« Morell sah der kleinen Dame nach, wie sie in ihrem Büro verschwand.

»So, jetzt aber ab an die Arbeit.« Eschener klatschte in die Hände. »Helene Novak hat uns mit der Bestattung ihres dahingeschiedenen Mannes beauftragt. Sie haben sicher davon gehört – alle Zeitungen waren voll davon. Sie wird gleich vorbeikommen, um die Details zu besprechen.« Er wedelte aufgeregt in der Luft herum. »Sie will ein pompöses Begräbnis. Alles nur vom Feinsten.«

»A schene Leich, auf gut Wienerisch«, gab Jedler zum Besten. »Ich habe auch schon alles für die Ankunft des guten Herrn Novak vorbereitet.«

»Wunderbar, Herr Jedler, ich gebe Ihnen Bescheid, sobald der Körper von der Gerichtsmedizin freigegeben wird.«

»Ich hoffe doch sehr, dass die uns nicht nur seinen Körper, sondern auch den dazupassenden Kopf überlassen. Sonst wird die Sache mit dem offenen Sarg schwierig. Ich bin zwar gut in meinem Job, aber so gut nun auch wieder nicht.« Der Thanatopraktiker kicherte.

»Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Keine dummen Witze. Lassen Sie Zurückhaltung walten, Herr Jedler – immerhin trägt dieser Betrieb den Namen Pietät. Reißen Sie sich also gefälligst zusammen.« Eschener wandte sich an Morell. »Frau Novak hat ausdrücklich darum gebeten, dass wir ihren verstorbenen Gatten schön herrichten, damit sie ihn noch ein letztes Mal sehen und in Ruhe Abschied von ihm nehmen kann.« Er nestelte hektisch an seinen Manschettenknöpfen herum. »Sie, Herr Jedler, gehen zurück an Ihre Arbeit im Souterrain, und Sie, Herr Reiter, richten schon mal ein paar Vorschläge für Blumenarrangements her. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Der Bestatter richtete sich zum wiederholten Mal die Krawatte. »Eine richtige Prunkbeerdigung«, murmelte er, während er zurück in sein Büro ging. »Wie in der guten, alten Zeit. Das wird einfach wunderbar. Pracht-Classe complet.«

Morell überlegte. Wie sollte er es am besten anstellen, der Witwe auf den Zahn zu fühlen, wenn sie so sehr von Eschener belagert wurde?

»Pracht-Classe complet, wie wunderbar«, äffte Jedler seinen Chef nach.

Morell, der ganz vergessen hatte, dass sich sein Kollege auch noch im Raum befand, drehte sich zu ihm um. »Was ist denn eine Pracht-Classe complet?«

»Der Alte schwelgt in seinen Tagträumen gern im 19. Jahrhundert, als die Leute noch Unsummen für Begräbnisse ausgaben und aus jedem Todesfall einen pompösen Staatsakt machten. Damals waren die Beerdigungen in Klassen eingeteilt, und die Pracht-Classe complet war die teuerste. Sie beinhaltete Fahnenreiter, Fackelträger, geschmückte Pferde und und und. Tu dir einen Gefallen und frag den Chef nie nach diesen Dingen. Er wird sonst freudestrahlend stundenlange Lobpreisungen auf die gute alte Zeit halten, in der ein Bestattungsunternehmer noch ein angesehener Mann war. Heutzutage ist ja alles günstig und zweckmäßig. Die Leute investieren lieber in das Leben als in den Tod. Na, wie auch immer – ich geh zurück zu meinem neuen Kumpel in den Keller.«

Kaum war Jedler verschwunden, wurde die Eingangstür energisch geöffnet und eine kleine, zierliche Dame kam hereinspaziert. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen überdimensionalen Hut, der den größten Teil ihres Gesichts verdeckte. Sie blieb stehen, sah sich kurz um und wandte sich dann an Morell.

»Grüß Gott. Mein Name ist Helene Novak.« Sie streckte Morell ihre Hand entgegen. Für so eine kleine, zarte Person hatte die Witwe eine außerordentlich tiefe Stimme und einen enorm festen Händedruck.

»Thomas Reiter. Mein herzliches Beileid.«

Sie nahm den Hut ab und gab den Blick auf ein braungebranntes Gesicht frei, das, obwohl es vom Alter – Morell schätzte sie auf Mitte sechzig – und von der Trauer gezeichnet war, immer noch gut aussah. Helene Novak war ganz offenbar eine resolute, gestandene Frau, der man nichts vormachen konnte.

Der Chefinspektor überlegte fieberhaft, wie er es anstellen konnte, die Witwe so taktvoll und diskret wie möglich über den Mord auszuhorchen, als Eschener den Raum betrat und mit professionell betretener Miene auf die Kundin zueilte. »Frau Novak«, rief er. »Die Umstände sind nicht schön, aber es ist mir eine Freude, Sie hier zu begrüßen. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wasser? Kaffee?«

»Kaffee wäre nett.«

Eschener wandte sich an Morell. »Herr Reiter, seien Sie doch bitte so gut.«

 

Als Morell mit dem Kaffee zurückkam, diskutierten Eschener und Frau Novak gerade über Grabsteine. Der Bestatter war dabei so sehr in seinem Element, dass er die plötzliche Anwesenheit des Chefinspektors gar nicht zu bemerken schien. »Ich dachte an dunkelgrauen Marmor mit goldenen Buchstaben.« Er breitete mehrere Beispielfotos vor der Witwe auf dem Tisch aus.

Frau Novak nickte. »Diese Idee finde ich gut. Wir nehmen den größtmöglichen Stein und die größtmögliche Schrift.«

Eschener notierte mit geröteten Wangen alles auf einem Blatt Papier. »Wenn der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch«, zitierte er Friedrich Schiller.

»Es geht mir eher darum, Pfarrer Stimpfl zu ärgern«, stellte die Witwe die Sache klar. »Die ganzen letzten Jahre hat er meinen Mann gepiesackt, und jetzt will er ihn nicht einmal aussegnen. Da geschieht es ihm nur recht, wenn das Grab vom Vitus nicht zu übersehen ist.«

»Woher stammt denn diese Feindseligkeit zwischen dem Pfarrer und Ihrem verstorbenen Mann?«, mischte Morell sich in das Gespräch ein und erntete dafür einen kritischen Blick von Eschener. »Wenn wir den Grund kennen, können wir den Priester vielleicht doch noch überreden, dem Toten seinen Segen zu spenden«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Kein Mensch weiß mehr, wie das alles begonnen hat«, winkte die Witwe ab. »Stimpfl hat eines Tages aus heiterem Himmel damit angefangen, meinen Mann als Gotteslästerer zu beschimpfen. Niemand weiß, warum. Der Vitus hat sich das natürlich nicht gefallen lassen und sich gewehrt.«

Der Chefinspektor grübelte. Komisch, dass anscheinend niemand den Auslöser des jahrelangen Nachbarschaftsstreits zu kennen schien. Er würde der Sache ein wenig auf den Zahn fühlen müssen. »Hatte Ihr Mann sonst noch Streit mit irgendwem?« Morell kassierte einen fragenden Blick von Eschener.

»Es gab Unstimmigkeiten mit diesem Dr. Lorentz, seinem Mörder, aber sonst fällt mir spontan niemand ein.«

»Was die Urne betrifft …«, setzte Eschener an, wurde aber vom Chefinspektor unterbrochen.

»Es gibt Gerüchte, die besagen, dass die Polizei den falschen Mann verhaftet hat. Was halten Sie davon? Würden Sie es Stimpfl oder sonst wem zutrauen?«

»Was sollen diese Fragen, Herr Reiter?« Eschener schüttelte unverständig den Kopf. »Ich glaube, das geht Sie alles nichts an und tut hier außerdem nichts zur Sache. Kommen wir zurück zum Begräbnis.«

Helene Novak brachte den Bestatter mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Was sind das für Gerüchte?«, wollte sie wissen. »Mir wurde versichert, dass der Mörder meines Mannes hinter Schloss und Riegel sitzt.«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass die Justiz einen Irrtum begeht.«

»Woher stammen diese Gerüchte?«, wiederholte die Witwe. »Wer sagt so etwas?«

Morell begann zu schwitzen. »Das stand in einer dieser Gratiszeitungen, die in der U-Bahn verteilt werden«, log er.

»Eine Frechheit ist das.« Sie schlug auf den Tisch. »Und ich bin die Letzte, die davon erfährt.«

»Es tut mir leid, Frau Novak«, mischte Eschener sich ein. »Es war sicherlich nicht die Absicht von Herrn Reiter, Sie aufzuregen und Salz in Ihre Wunden zu streuen.«

»Nein. Es ist gut, dass Herr Reiter mich informiert hat. Eine schreckliche Vorstellung, dass der Mörder meines Mannes immer noch frei herumlaufen könnte.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. »Hoffen wir, dass dieses Klatschblatt gelogen hat.«

»Würden Sie es Stimpfl zutrauen?«, hakte Morell noch einmal nach.

Helene Novak schüttelte den Kopf. »Dazu hat der Feigling nicht den Mumm. Er würde nie etwas tun, was gegen eines der Zehn Gebote verstößt.«

»Und sonst fällt Ihnen niemand ein, der als Täter in Frage käme?«

»Beim besten Willen nicht. Vitus gingen die Streitereien mit Dr. Lorentz und Pfarrer Stimpfl ein bisschen auf die Nerven, aber ansonsten gab es keinen Unfrieden.«

»Wollen wir uns doch über die Wahl der passenden Urne unterhalten«, versuchte Eschener das Gespräch wieder zurück auf die Bestattung zu bringen. »Wenn Sie bitte einen kurzen Blick auf das Regal da drüben werfen würden. Dort stehen unsere schönsten Modelle.«

Frau Novak nickte, stand auf und ging zu dem besagten Regal.

»Was sollte denn das?«, zischte Eschener. »Wir sind hier in einem Bestattungsunternehmen und nicht bei der Boulevardpresse. Befriedigen Sie Ihre Sensationsgier gefälligst woanders, sonst war das Ihr letzter Tag in der Pietät!«

»Verstanden. Entschuldigung. Wird nie wieder vorkommen.«

»Das will ich auch hoffen!« Eschener rückte seine Krawatte zurecht und eilte zu der Witwe. »Diese da ist eine sehr gute Wahl. Das ist unser Modell SELENE. Sehr edel und klassisch. Oder was halten Sie von dieser hier?« Er zeigte auf eine weiße Urne, die mit goldenen Efeublättern verziert war. »Das ist unser Modell MANDALA

»Was kostet diese dort?« Die Witwe deutete auf eine Urne, die ganz oben auf dem Regal stand. Dabei handelte es sich um ein kitschiges Ungetüm aus weißem Marmor, das die Form eines kleinen Hauses hatte und mit einem Relief aus goldenen Reitern verziert war. Morell war sich sicher, noch nie in seinem Leben so etwas Hässliches gesehen zu haben.

»Das ist das Modell GESEGNET, ein Einzelstück, das leider schon vergeben ist. Aber was halten Sie von dieser hier. Das ist unser Modell CAELIS …«

 

Frau Novak wählte das Modell MANDALA und suchte anschließend Blumengestecke im Wert von über tausend Euro aus. Sie hatte sich von Eschener sogar Silberluster, Friedhofssänger und einen Baldachin für teuer Geld aufschwatzen lassen. Als sie die Pietät verließ, war Eschener so glücklich und so voller Vorfreude auf die Beerdigung, dass er Morells Indiskretion schon wieder völlig vergeben und vergessen hatte.

»Sie können nun gerne Feierabend machen, Herr Reiter«, sagte er und lächelte verklärt. »Wir sehen uns dann morgen um acht.«

 

Morell nahm aus Fitnessgründen nicht die Straßenbahn, sondern machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Er ging zügig die Nussdorfer Straße entlang in Richtung Gürtel und kaufte sich bei einem türkischen Lebensmittelladen einen Apfel. Eigentlich hätte er ja viel lieber eine Topfengolatsche oder einen Punschkrapfen gehabt, aber nun denn.

»An apple a day keeps the doctor away«, sagte er und biss hinein. Er kam nicht dazu, sich den Apfel noch mehr schönzureden, da in diesem Moment sein Handy klingelte.

»Hier spricht Moritz Langthaler. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Anna Wondraschek sehr wahrscheinlich das Geheimnis des fehlenden Fotos gelüftet hat.«

»Das ging ja flott. Wann können wir uns treffen?«

»Von mir aus können Sie gleich vorbeikommen. Dr. Lorentz soll nicht länger als nötig im Gefängnis schmoren.«

»Prima, ich bin ganz in der Nähe und kann in zehn Minuten bei Ihnen sein.« Arbeit war eine weitere gute Waffe im Kampf gegen den Appetit.