»Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.«

Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers

Am anderen Ende der Stadt, auf dem Zentralfriedhof, war auch Capelli fleißig bei der Arbeit. Sie hatte einen neuen Fall zugeteilt bekommen und beugte sich nun mit einem Skalpell in der einen und einem Diktiergerät in der anderen Hand über den Seziertisch und betrachtete den Körper, der darauf lag. Es handelte sich um eine sogenannte Wohnungsleiche – in diesem Fall um eine alte Frau –, die seit mehreren Tagen unbemerkt in ihrem Apartment gelegen hatte und jetzt alles andere als schön anzusehen oder angenehm zu riechen war.

Es war feucht und kalt im Obduktionscontainer und die schweren Regentropfen, die einen düsteren Trauermarsch auf das Metalldach trommelten, machten die Stimmung auch nicht gerade besser. Nina stand mitten im Dunst von Elend, Zerfall und Einsamkeit. Die alte Frau war mutterseelenallein in ihrem Bett gestorben, und niemand hatte sie vermisst. Erst als der süßliche Gestank des Todes so stark war, dass man ihn nicht mehr ignorieren konnte, hatten die Nachbarn die Polizei gerufen. Die Leiche war zu diesem Zeitpunkt bereits so verfault gewesen, dass man die Todesursache von außen nicht mehr bestimmen konnte – daher wurde sie in die Gerichtsmedizin gebracht.

»In dieser Stadt leben viele Menschen sozial isoliert. Sie haben meist keine Angehörigen und Freunde. Wer soll also merken, dass sie sterben? Es ist nicht das erste Mal, dass ein Toter ein paar Wochen, Monate oder gar Jahre in seiner Wohnung herumliegt«, stellte Kern, der wieder als Capellis Assistent fungierte, trocken fest und griff nach einer Rippenschere.

Capelli nickte und fröstelte. Sie wusste nicht, ob es an dem traurigen Schicksal der alten Dame, der Kälte im Container oder an einer sich anbahnenden Grippe lag –, jedenfalls war ihr kalt, und sie wollte diese Obduktion so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Auf geht’s«, sagte sie und setzte das Skalpell an.

 

Ungefähr zwei Stunden später hatte das Trommelfeuer des Regens nachgelassen und Capelli ihre Fassung wiedererlangt. Die Routine war mit dem ersten Schnitt zurückgekommen, und sie hatte mit ruhiger Hand und sicherem Blick ihre Arbeit getan und eine natürliche Todesursache festgestellt. Jetzt notierte sie sich die letzten Daten für ihren Bericht, während Kern die Organe der Frau wieder zurück in den Körper legte.

»Sie müssen mir noch Ihre Adresse geben, damit ich Sie heute Abend abholen kann«, sagte er und versuchte einen dicken Faden durch das Öhr einer Nadel zu bugsieren.

»Heute Abend?« Capelli schaute ihn fragend an.

»Sagen Sie bitte nicht, dass Sie es vergessen haben. Sie wollten doch heute mit zu einer Party kommen.« Er begann, die klaffende Öffnung, die der Y-Schnitt in der lederartig verhärteten Haut hinterlassen hatte, wieder zuzunähen.

Capelli legte ihre Notizen beiseite und fasste sich an die Stirn. »O je, das habe ich tatsächlich völlig vergessen. Ich habe gerade so viel um die Ohren. Sie wissen schon … der Umzug und so …«

»Geben Sie sich einen Ruck. Sie wirken so, als hätten Sie ein bisschen Aufheiterung dringend nötig, wenn ich das sagen darf.« Er zwinkerte.

Capelli war irritiert. Täuschte sie sich, oder wollte ihr Assistent sie tatsächlich abschleppen? »Ich bin wirklich müde und habe noch unfassbar viel zu tun.« Sie wandte sich wieder ihrem Bericht zu und hoffte, dass die Sache damit erledigt war.

Kern ließ sich davon aber nicht beirren. »Ich werde die Feier nicht genießen können, wenn ich mir ständig vorstellen muss, dass Sie einsam und allein zu Hause sitzen.« Er schielte auf die tote, alte Frau.

»Und ich könnte die Feier nicht genießen, wenn ich mir ständig vorstellen muss, dass in meiner Wohnung ein Berg unerledigter Arbeit auf mich wartet.« Capelli beendete den Bericht und zog demonstrativ ihren Autoschlüssel aus der Tasche.

 

Als sie in ihr Auto stieg, spürte Capelli, dass sie keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Sie brauchte dringend etwas Abstand und Ruhe, um ihre Gedanken zu sortieren. Vor ein paar Tagen war ihr Leben noch völlig in Ordnung gewesen – und jetzt? Jetzt saß ihr Freund unschuldig im Gefängnis, sie lebte in einer wildfremden Stadt, weit weg von all ihren Freunden, hatte ihren Job aufs Spiel gesetzt, indem sie eine rechtswidrige Obduktion durchgeführt hatte, und musste nun auch noch die Annäherungsversuche ihres Assistenten abwehren. Sie unterdrückte ein lautes Fluchen und gab Gas. Der monotone Singsang der Scheibenwischer und das ruhige, gleichmäßige Dahingleiten der Reifen auf dem Asphalt beruhigten ihre Nerven. Autofahren hatte in ihren Augen etwas Entspannendes, beinahe schon Meditatives. Das gemächliche Fließen des Verkehrs, das Vorbeiziehen der Landschaft und das Gefühl, in Bewegung zu sein, ließen sie zur Ruhe kommen. Durch die Konzentration auf die Straße und das Durchführen automatisierter Handgriffe schaffte sie es, ihr Bewusstsein für kurze Zeit auszuklinken und sich einfach nur treiben zu lassen.

Sie kurvte völlig ziellos eine halbe Stunde lang in der Gegend herum und fand sich plötzlich vor der Kirche zur heiligen Margareta wieder. Da hatte wohl ihr Unterbewusstsein das Steuer übernommen, Pfarrer Stimpfl ging ihr nämlich seit gestern nicht mehr aus dem Kopf: Mann Gottes hin oder her – irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Sie stellte sich schräg gegenüber vom Pfarrhaus auf einen freien Parkplatz und schielte zur Windschutzscheibe hinaus. Anscheinend war Stimpfl nicht daheim. Im Gegensatz zur Villa der Novaks, die hell erleuchtet war, blieben die Fenster seines Hauses dunkel. Capelli beschloss, in Ruhe eine zu rauchen und dann wieder von hier zu verschwinden. Sie kurbelte das Fenster einen Spaltbreit hinunter und griff nach ihrem Feuerzeug.

Von draußen drang der Duft von feuchtem Laub und nassem Gras zu ihr ins Auto. Das war der Geruch von Herbst, wie sie ihn aus ihrer Kindheit kannte. Sie sog gerade diese schöne Erinnerung ein und versuchte, beim Ausatmen den Gestank der vereinsamten Wohnungsleiche aus ihrer Lunge und ihrer Seele zu pusten, als ein Vorhang in einem der Fenster des Pfarrhauses sich bewegte. Reflexartig rutschte sie in ihrem Sitz nach unten. Was war das gewesen? Sie rückte ihre Brille zurecht, kniff die Augen zusammen und starrte auf die Gardine. Tatsächlich konnte sie dahinter die Silhouette eines Mannes erkennen, der zum Fenster hinausblickte. Was tat er denn da nur? Warum stand er in der Dunkelheit und starrte nach draußen? Beobachtete er sie etwa? Nein. Der Mann, bei dem es sich wahrscheinlich um Stimpfl handelte, sah überhaupt nicht in ihre Richtung, sondern starrte auf das Haus der Novaks.

»Sehr ominös«, murmelte sie und wollte sich endlich die Zigarette anzünden, als die Person plötzlich vom Fenster zurücktrat und hastig die Vorhänge zuzog.

Capelli blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Hatte er sie etwa entdeckt? Nein! Es war offenbar etwas anderes, das ihn von seinem Aussichtsplatz verscheucht hatte – nämlich Frau Novak, die gerade das Haus verließ. Sie war zwar ganz in Schwarz, aber dennoch sexy gekleidet und kicherte in ihr Handy. Da machte wohl jemand auf lustige Witwe.

Kurz darauf fuhr ein Taxi vor, ließ Frau Novak einsteigen und brauste wieder weg.

Capelli hatte keine Zeit, sich Gedanken über das Verhalten der Witwe zu machen, da die Tür des Pfarrhauses geöffnet wurde und Stimpfl nach draußen trat. Ohne sie zu bemerken, ging er an ihrem Wagen vorbei und steuerte direkt auf das Haus der Novaks zu. Was wollte er bloß dort? Frau Novak war doch gerade weggefahren, und da sie alle Lichter gelöscht hatte, konnte man davon ausgehen, dass auch sonst niemand mehr im Haus war. Stimpfl wollte doch nicht etwa … Capelli starrte hinüber und konnte kaum fassen, was sie da sah: Stimpfl kletterte über den Zaun der Novaks, pirschte durch den Garten, schlich an der Hausmauer entlang und bog schließlich um die Ecke und verschwand damit aus ihrem Sichtfeld.

Völlig überrumpelt riss sie die Tür auf und sprang aus dem Auto. »Verdammt!« Ihre Beine waren nicht auf so viel Enthusiasmus vorbereitet gewesen und knickten ein. Sie unterdrückte ein lautes AUTSCH, ignorierte den stechenden Schmerz im rechten Knie, rappelte sich hoch und humpelte dem Priester hinterher.

Als sie ihren Kopf um die Ecke streckte, hinter der Stimpfl vor ein paar Augenblicken verschwunden war, konnte sie gerade noch erkennen, wie seine Füße durch ein offenes Fenster verschwanden. Der ach so anständige und gottesfürchtige Mann brach also tatsächlich bei seinen Nachbarn ein. Was sollte sie jetzt tun? Ihm hinterhersteigen? Oder sollte sie lieber hier draußen lauern und beobachten, was er stahl? Oder laut schreien und ihn zur Rede stellen?

Sie beschloss, Morell anzurufen – er würde wissen, was am besten zu tun war. Sie versteckte sich hinter einem Rosenbusch, von dem aus sie das Fenster im Auge behalten konnte, und wählte die Nummer des Chefinspektors.

»Hallo Otto, ich bin’s, Nina«, flüsterte sie ins Telefon. »Ich sitze im Garten der Novaks und habe beobachtet, wie Stimpfl in das Haus eingebrochen ist. Was soll ich denn jetzt machen?«

»Du bist WO?! Und hast WAS?!«

»Ich sitze hinter einem Busch in Novaks Garten und habe beobachtet, wie der Pfarrer in das Haus eingestiegen ist. Was soll ich jetzt tun?«

»Wie zur Hölle …?«

»Das erzähle ich dir später. Sag mir einfach, was ich tun soll!«

»Am besten du bleibst, wo du bist, und rührst dich nicht von der Stelle. Sobald du sicher bist, dass die Luft rein ist, haust du ab, und zwar schnell. Achte darauf, dass dich niemand sieht – vor allem nicht Stimpfl. Wenn er tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun hat, dann ist er gefährlich. Hast du verstanden?«

»Ich glaube, er kommt zurück. Ich melde mich wieder.« Capelli beendete das Gespräch und beobachtete, wie Stimpfl mit einer Schachtel in der Hand zum Fenster hinausschlüpfte und wieder in Richtung Pfarrhaus huschte. Was diese Schachtel wohl enthielt? Es musste wohl etwas Wichtiges sein, wenn ein Priester dafür das siebte Gebot, du sollst nicht stehlen, missachtete.

Und wer weiß – vielleicht hatte er deswegen ja sogar gegen das fünfte, du sollst nicht töten, verstoßen.