»Glaubt, Graben ist ein adelig Geschäft!

Was Ihr auch Grosses wirkt und Grosses fördert,

Der Euch einst eingräbt, er besiegt doch alles.«

Franz Grillparzer, Weh dem, der lügt!

Er war müde. Müde und ausgelaugt. Die Anspannung, die sich im Laufe der letzten Tage in seinem Körper und seiner Seele breitgemacht hatte, war mittlerweile kaum mehr zu ertragen. Dazu kam, dass die Aussicht auf Gerechtigkeit und Vergeltung ihn um den Schlaf brachte. Wie ein Mondsüchtiger hatte er in den vergangenen Nächten wach gelegen und war nicht zur Ruhe gekommen.

Er atmete tief ein, schloss die Augen und versuchte zu ergründen, ob er bereit war – bereit für die Wahrheit und die damit verbundenen Konsequenzen. »Ja«, sagte er mit zitternder Stimme, griff nach seiner Lesebrille und schlug das Tagebuch auf.

Tell Brak, 15. Mai 1978

Heute Nachmittag habe ich die Ruinen des Augentempels besucht. Von dort aus hat man einen atemberaubenden Blick über die syrische Steppe – eine unendliche Weite, unter der Tausende Mysterien aus vergangenen Zeiten schlummern.

Als ich nach Nordwesten blickte, wo derzeit glücklicherweise keine Ausgrabungen stattfinden, stach mir ganz in der Nähe des Massengrabs eine kleine Erhebung ins Auge, die von den Archäologen bisher noch nicht untersucht worden war. Jede einzelne Faser meines Körpers sagt mir, dass darunter die letzte Ruhestätte des sagenumwobenen Königs Alulim liegt.

Mein Herz macht noch immer so wilde Sprünge, dass ich fürchte, es könnte vor lauter Freude in meiner Brust zerbersten.

Tell Brak, 16. Mai 1978

Eine einzige Hürde steht noch zwischen mir und meinem Triumph, und ich ärgere mich, dass ich sie nicht früher in Betracht gezogen habe: Wie soll ich allein es schaffen, in weniger als fünf Wochen das Grab freizulegen und meinen Fund zu dokumentieren? Noch dazu heimlich und im Verborgenen, damit Harr nicht auf die Idee kommt, dass ihm als Grabungsleiter die Anerkennung für den Fund zusteht. Der Gedanke gefällt mir zwar nicht, aber ich werde mir Hilfe suchen müssen.

Nach reiflicher Überlegung ist meine Wahl auf den Botaniker Friedrich Zuckermann gefallen. Er scheint vertrauenswürdig zu sein und hat – soweit ich das beurteilen kann – kein Interesse an Ruhm und Ehre, sondern nur Augen für seine Pflanzen.

Tell Brak, 17. Mai 1978

Meine Gefühle sind ambivalent, denn ich schwanke zwischen Euphorie und Enttäuschung. Erst schien mein Plan ganz wunderbar zu funktionieren. Es war überhaupt kein Problem, nach Sonnenuntergang wegzuschleichen, da alle Archäologen nach dem anstrengenden und heißen Tag tief und fest in ihren Zelten schliefen. Die Nacht war sternenklar, und der Mond schien so hell, dass nicht einmal eine zusätzliche Beleuchtung nötig war. Zudem lief die Zusammenarbeit mit Zuckermann wie am Schnürchen. Wir schaufelten schnell und effizient und wurden bald für unsere Mühen belohnt. In zirka zwei Metern Tiefe sind wir auf eine wahre Sensation gestoßen: eine riesige Steinplatte, die, wie ich annehme, den Eingang zu einer unterirdischen Grabanlage verschließt.

Es hat uns mehrere Stunden und viel Schweiß gekostet, den kolossalen Felsblock, der ungefähr dreimal drei Meter misst, von jahrtausendealter Erde zu befreien, doch alle Mühen waren schnell vergessen, als er endlich in seiner vollen Pracht vor uns lag: massiv, majestätisch und unendlich geheimnisvoll.

Im Zentrum der Grabplatte waren ähnliche Keilschriftzeichen eingemeißelt wie auf der goldenen Tafel aus Ebla. Da ich mittlerweile sehr geübt in deren Entzifferung bin, las ich sie laut vor:

 

Ich bin der große Magier Adapa.

Ich bin der Geist, der das Grab des Alulim schützt.

Über jeden, der versucht, die Ruhe meines Herrn zu stören,

werde ich Tod und Krankheit bringen,

so dass er verdorben sei,

für jetzt und für alle Zeit.

 

Ich weiß nicht, was in Zuckermann gefahren war – jedenfalls warf er seinen Spaten hin und erklärte mir, dass er nichts mit verwünschten Gräbern am Hut haben wolle. Anschließend ließ er mich einfach stehen und verschwand.

Nun sitze ich hier und überlege, wie ich weiter vorgehen soll. Ich werde sicher noch zwei oder sogar drei Männer benötigen, um die massive Platte wegzurücken. Aber wen? Wen soll ich fragen? Wem kann ich trauen?

Tell Brak, 18. Mai 1978

Ich habe mich entschieden, Zuckermann, diesen abergläubischen Hasenfuß, links liegen zu lassen und statt ihm entweder Wilfried Uhl, Ludwig Nagy oder Johannes Meinrad ins Vertrauen zu ziehen. Ich hoffe, ich habe ihre Interessen und Motivationen richtig gedeutet: Uhl ist so verrückt, dass er für ein Abenteuer seine eigene Großmutter verkaufen würde, Nagy ist sehr an wertvollen Dingen interessiert, und Meinrad ist so versessen auf die sumerische Kultur, dass er wahrscheinlich aus Liebe zur Wissenschaft mitmachen würde. Ich weiß noch nicht, wen von ihnen ich einweihen soll, oder ob ich vielleicht sogar die Hilfe von allen Dreien brauche – ich werde das später entscheiden. Fest steht auf jeden Fall, dass es heute Nacht losgehen wird. Heute Nacht werde ich mir meinen Platz im Olymp der großen Entdecker sichern. Es ist der 18. Mai 1978 – ein Datum, das mein Leben verändern wird.

»Aber leider nicht zum Guten«, murmelte er und legte das Tagebuch beiseite. Er musste sich sammeln, denn gleich würde er erfahren, was in jener Nacht tatsächlich geschehen war.