Aus dem Tagebuch von Katherine Ap Scorron

26. März, Jahr 99 Interregnum

Rennat-Wald. Später Nachmittag.

 

Ich hatte überlegt, vielleicht an ihrem Grab über Hanna zu schreiben.

Sareth sagt, dass ich dieses Tagebuch überallhin mitnehme, dass ich zu wenig in meinem Leben habe, wenn ich nicht darauf verzichten kann. Wirklich lebende Menschen, meint sie, müssen nicht jeden Moment darüber schreiben; sie sind zu sehr mit dem Leben selbst beschäftigt. Aber Sareth hat die Hohe Burg seit einem Jahr nicht verlassen, und während das Baby die Milch aus ihr saugt, sitze ich bei Ungeheuern im Wald von Rennat.

Es befindet sich ein Oger in der Nähe, mindestens drei Meter groß, mit einem Maul voller spitzer Zähne und mit schlitzförmigen Augen. Zuerst hat er in meine Richtung gesehen, aber jetzt schnitzt er nur das Holz eines umgestürzten Baums, nicht mit einem Messer, sondern mit dem schwarzen Nagel eines Fingers, so dick wie mein Handgelenk.

Das zweite Ungeheuer ist eigentlich nur ein kleiner Junge. Ein dürrer Knabe, aber fast nackt und mit einem roten und schwarzen Fleckenmuster, wie von Flammen. Er huscht von Busch zu Busch, versucht im Verborgenen zu bleiben und beobachtet mich mit großen schwarzen Augen. Wenn er läuft, kann man seine Klauen sehen.

Ich lenke mich ab. Weil ich nicht darüber nachdenken möchte, was Jorg gesagt hat.

Der monströse Junge heißt Gog. Angeblich hat Jorg ihn so genannt, nach den Riesen in der Bibel. Ich habe ihm gesagt, dass es auch einen Magog geben sollte. Daraufhin wirkte er sehr traurig, und auf einmal fühlte sich der Wald sehr heiß an, wie im Hochsommer.

»Und was möchtest du sein, wenn du groß bist, Gog?«, habe ich ihn gefragt, um ihn von dem abzulenken, was ihn verstimmt hatte.

»Ich möchte groß und stark sein«, sagte er. »Damit sich Jorg freut. Und ich möchte mich ebenfalls freuen, und Gorgoth soll nicht mehr traurig sein.« Er sah zum Oger.

»Und was möchtest du für dich?«, fragte ich ihn.

Er sah mich mit seinen großen schwarzen Augen an. »Ich möchte sie retten«, sagte er. »Wie sie mich gerettet haben.«

Jorgs Männer sehen aus, als hätten sie ihr ganzes Leben auf der Straße verbracht. Sie sind Räuber, nicht das Gefolge eines Königs. Sir Makin behauptet von sich, ein echter Ritter zu sein, aber er ist ebenso verdreckt wie die anderen. Getrockneter Schlamm klebt an seiner Rüstung, und er stinkt wie ein Abwassergraben. Aber er hat eine gewisse Art, trotz des Schmutzes, das muss man ihm lassen. Zumindest Sir Makin hat Manieren.

Der Mann namens Roter Kent versucht, höflich zu sein, Mylady hier, Mylady da, und er verbeugt sich dauernd. Es ist ziemlich komisch. Als ich ihm für Wasser dankte, das er mir brachte, errötete er vom Hals bis zum Haaransatz. Vermutlich ist das der Grund für seinen Namen.

Wenn Kent mir nicht zu Diensten ist, verbringt er den größten Teil seiner Zeit mit Schnitzen. Dann sitzt er mit dem Rücken an einem Baum, ein schwarzes Messer in der Hand. Es ist ein Wolf, an dem er arbeitet. Das Tier sieht aus, als käme es aus dem Wald und knurrte die ganze Welt an. Er hat mir gesagt, dass er einmal ein Mann des Waldes war, vor langer Zeit.

Es gibt auch einen Jungen, Sim heißt er. Hat ein sehr fein geschnittenes Gesicht, wie der Schauspieler, der letzte Woche an unserem Hof auftrat. Er sieht freundlich aus, scheint aber sehr schüchtern zu sein. Das Gespräch mit mir vermeidet er, doch er beobachtet mich, wenn er glaubt, dass ich es nicht bemerke. Von ihnen allen ist er am saubersten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er als Krieger viel taugt. Bestimmt ist er zu schwach, um sein Schwert richtig zu schwingen.

Sir Makin kann kämpfen, das weiß ich. Ich erinnere mich, dass er Sir Galen auf die Probe stellte, als Jorgs Vater sie gegeneinander antreten ließ, aber ich glaube, mein Galen hätte ihn besiegt. Vielleicht hat Jorg deshalb SageousBaum umgestoßen. Um Sir Makin zu retten.

Die anderen beiden Männer – jene, auf die der Rote Kent in Jorgs Auftrag achten soll – sind Mörder durch und durch. Man sieht es in ihren Augen. Der eine ist ein Riese namens Rike, fast so groß wie der Oger und so breit wie ein slawischer Ringer. Er scheint die ganze Zeit über zornig zu sein. Und dann ist da noch ein alter Mann, etwa fünfzig, hager und knorpelig, mit grauen Stoppeln am Kinn und das Gesicht so zerknittert wie Hannas. Sie nennen ihn Row, und er hat freundliche Augen, aber etwas an ihm sagt, dass die Augen lügen.

Und ich sitze hier, lasse einen Federkiel über Papier kratzen und ihn von Räubern und Vagabunden berichten, weil meine Hand nicht Jorg folgen will, weil sie sich zu schreiben weigert, was er macht, weil sie sich gegen die Worte sträubt, die mir durch den Kopf hallen.

Ich habe versucht, Jorg zu erstechen, aber es war wie in einem Traum. Ich wusste, was meine Hand tat, und ich wusste es auch nicht. Seinen Schmerz wollte ich nicht hören, sein Blut nicht sehen. Ich erinnere mich nicht daran, das Messer genommen zu haben.

Aufhören, sagte ich zu mir selbst, aber ich hörte nicht auf.

Und jetzt, wenn Friar Glen hier wäre … Ich würde seinen Schmerz hören und sein Blut sehen wollen. Ich würde mir nicht sagen, dass ich aufhören soll. Und doch würde ich aufhören. Denn zum ersten Mal seit langer Zeit ist mein Kopf klar und gehören meine Gedanken allein mir, und ich bin keine Mörderin.

 

27. März, Jahr 99 Interregnum Rennat-Wald. Vormittag. Ein hoher Wind in den Bäumen.

 

Sir Makin geht unruhig auf und ab. Er sagt es nicht, aber er macht sich Sorgen um Jorg. Wir haben eine Patrouille gesehen, die zwischen den Feldern ritt. Bestimmt suchte sie mich. Sir Makin meint, je mehr nach mir suchen, desto weniger muss er sich um Jorg in der Burg sorgen.

Der Große. Der Riese, sollte es besser heißen. Rike. Er sagt immer wieder, dass sie sich auf den Weg machen sollen. Dass Jorg gefangen oder tot ist. Kent sagt, dass Jorg ihnen allen geholfen hat, aus dem Verlies zu entkommen, und wenn er nun in jenem Verlies gefangen ist, so sollten sie aufbrechen und ihn befreien. Selbst Sir Makin hält das für verrückt.

Die Nacht war kalt und laut. Sie gaben mir ihre Mäntel, aber ich friere lieber, statt unten diesen stinkenden, voller Ungeziefer steckenden Stoffen zu liegen. Des Nachts ist im Wald alles in Bewegung; überall knackt und quakt es, und überall raschelt es im Laub. Ich war froh, als der Morgen dämmerte. Als ich erwachte, stand der Junge namens Sim beim Baum neben mir und beobachtete mich.

Das Frühstück bestand aus altem Brot und einigen Stücken Räucherfleisch. Ich aß es, ohne zu fragen, von welchem Tier es stammte. Mir knurrte der Magen, und bestimmt haben sie es gehört.

 

Jorg ist zurückgekehrt, und seine Männer sind jetzt noch verängstigter als vorher, als sie ihn für gefangen oder gar tot hielten. Er sieht wild aus, das Haar zerzaust und voller Blut. Sein Blick ist unstet, richtet sich auf nichts und niemanden, und er kann sich kaum auf den Beinen halten. Er hat auch Blut an den Händen, es reicht ihm bis über die Ellenbogen, und seine Fingernägel sind gerissen. Zwei von ihnen fehlen.

Makin riet ihm, zu schlafen, und Jorg gab dieses furchtbare Geräusch von sich. Ich glaube, ich habe gelacht. Er sagt, dass er nie wieder schlafen wird. Nie wieder. Und ich glaube ihm. Jorg wankt umher, wehrt mit den Händen Bäume ab und stößt gegen alles, was ihm in den Weg gerät. Er sagt, dass er vergiftet wurde.

»Ich kriege sie nicht sauber«, sagte er und zeigte mir seine Hände. Sie sehen fast so aus, als hätte er die Haut von ihnen gekratzt.

Ich fragte ihn, was denn nur mit ihm sei, und er sagte: »Ich bin gebrochen und mit Gift gefüllt.«

Er entsetzt seine Männer, und mich ebenfalls. Von uns allen meidet sein Blick vor allem mich. Seine Augen sind vom Weinen gerötet, aber jetzt weint er nicht, er schluchzt nur, trocken, ohne Tränen.

Meine Großtante trug Wahnsinn in sich. Großtante Lucin. Sie muss sechzig gewesen sein, eine kleine Frau, mollig, wir mochten sie alle. Und eines Tages schüttete sie kochendes Wasser über ihre Zofe. Sie schüttete das kochende Wasser und wurde verrückt, faselte Kinderreime und biss sich. Vaters Arzt schickte sie nach Thar. Angeblich gab es dort einen Alchimisten, dessen Elixiere sie heilen konnten. Und für den Fall, dass die Elixiere nicht halfen, kannte er andere Methoden. Der Arzt meinte, dieser Alchimist namens Luntar könne Teile des Verstandes einer Person nehmen, bis nur noch Gesundes übrigbleibt.

Zwei Monate später kehrte meine Großtante Lucin mit einer Kutsche zurück. Sie lächelte und sang und sprach übers Wetter. Sie war nicht mehr meine Großtante, aber sie schien recht nett zu sein, und sie schüttete kein kochendes Wasser auf Zofen.

Ich will nicht, dass so etwas mit Jorg passiert.

 

Jorg hat seine Männer aufgefordert, mich zu töten, und einige von ihnen scheinen bereit zu sein, seiner Aufforderung nachzukommen. Rike wirkt recht eifrig. Aber Sir Makin betonte, Jorg wisse nicht, wovon er rede, und er fügte hinzu, sie sollten mich in Ruhe lassen.

Jorg sagt, dass er auch Sareth töten muss. Angeblich täte er ihr damit einen Gefallen. Er beharrt darauf. Kent und Makin mussten mit ihm ringen und ihn auf den Boden drücken, damit er nicht zur Burg lief und seinen Worten Taten folgen ließ. Jetzt liegt er im Dreck und beobachtet mich. Immer wieder sagt er mir, was sie mit den Männern im Verlies meines Vaters machen. Es kann nicht stimmen, nichts davon. Es macht mich krank, so etwas zu hören. Mir wird übel davon. Jorg hat sich selbst beschmutzt. Die Hälfte der Zeit scheint er um uns herum etwas anderes zu sehen als den Wald. Er starrt ins Leere, beobachtet irgendetwas und schreit plötzlich, oder lacht.

Er hat über unser Kind gesprochen. Ich nenne es noch immer unseres. Es fühlt sich besser an, als zu sagen, dass es Friar Glen war, der mich vergewaltigte. Jorg sagt, dass er das Kind getötet hat, obwohl ich es bin, die diese Sünde trägt, ich werde dafür im Höllenfeuer brennen. Er sagt, dass er das Kind mit seinen eigenen Händen getötet hat. Und jetzt weint er. Er hat noch Tränen. Er heult, mit Rotz und Dreck vom Wald im Gesicht.

»Ich habe das Kind gehalten, Katherine, weich in meinen Händen. So klein und unschuldig. Meine Finger erinnern sich an seine Gestalt.«

Ich ertrage es nicht, ihn davon sprechen zu hören.

Ich habe Sir Makin von Luntar erzählt, und wie man nach Thar gelangt.

 

Dies hat Jorg gesagt, als sie ihn fortzerrten und auf sein Pferd banden:

»Wir sind keine Erinnerungen, Katherine, wir sind Träume. Wir alle. Jeder Teil von uns ist ein Traum, ein Albtraum aus Blut, Kotze, Langeweile und Furcht. Und wenn wir erwachen … Dann sterben wir.«

Als sie sein Pferd fortführten, rief er mir etwas zu, das klarer klang als die anderen Worte.

»Sageous hat uns beide vergiftet, Katherine. Mit Träumen. Er steckt uns die Hände in den Kopf und zieht die Fäden, die uns tanzen lassen, und dann tanzen wir. Nichts davon war wahr. Nichts.«

Ich ging über die Felder zur Straße von Rom und folgte ihr zur Hohen Burg, bis Soldaten mich fanden und zurückbrachten. Zurück, sage ich. Ich spreche nicht davon, dass sie mich nach Hause brachten.

Unterwegs dachte ich an Jorgs Worte, immer und immer wieder, als wäre ein Teil seines Wahns auf mich übergegangen. Ich dachte an die Träume, die ich hatte. Mir scheint, ich habe schon einmal gehört, wie man Sageous Traumhexer nannte, aber es war mir nicht wichtig erschienen. Ich hatte es nicht vergessen, doch die Erinnerung daran war in den Hintergrund gerückt. Ich hatte es nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie das Messer, mit dem ich versuchte, Jorg zu erstechen. Jetzt sehe ich es.

Der Heide ist in meinem Kopf gewesen. Ich weiß es. Er hat dort Geschichten geschrieben, an der Innenseite meines Schädels, hinter meinen Augen, so wie er auf seine eigene Haut geschrieben hat. Ich muss darüber nachdenken. Um es zu enträtseln. Heute Nacht träume ich mir eine Festung und schlafe geschützt von ihren Mauern. Und wehe jedem, der dort nach mir sucht.

 

Die Soldaten brachten mich durchs Tor von Rom in die Untere Stadt, über die Brücke des Wandels – die aufgehende Sonne färbte den Fluss darunter rot. Ich wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ganz Crath City blieb still, als breitete sich in den Gassen der Stadt ein furchtbares Geheimnis aus, wie Gift in Adern. Fensterläden, für den Morgen geöffnet, klappten zu, als wir vorbeikamen.

Oben in der Hohen Burg läutete eine Glocke, immer wieder. Die eiserne Glocke des Dachturms. Ich bin einmal oben gewesen und habe sie gesehen, aber bisher wurde sie nie geläutet. Doch ich wusste, dass nur diese Glocke infrage kam – von keiner anderen erwartete ich einen so scharfen, weithin hallenden Ton. Als Antwort erklang eine einzelne tiefe Stimme von Unserer Lieben Frau.

Ich fragte die Soldaten, aber sie wollten nichts sagen, nicht einmal spekulieren. Diese Männer kannte ich nicht, nur ihre Farben waren mir vertraut. Es waren keine Burgwächter, sondern Soldaten, für die Suche rekrutiert.

»Hat er seinen Vater getötet?«, fragte ich sie. »Hat er ihn getötet?«

»Wir haben die ganze Nacht nach Euch gesucht, Mylady. Von der Burg haben wir nichts gehört.« Der Feldwebel neigte den Kopf und nahm seinen Helm ab. Er war älter, als ich gedacht hatte, und so müde, dass er im Sattel schwankte. »Lasst die Neuigkeit besser warten, bis sie sich selbst erzählen kann.«

Eine kalte Gewissheit packte mich. Jorg hatte Sareth umgebracht. Er hatte sie dafür erwürgt, den Platz seiner Mutter an Olidans Seite eingenommen zu haben. Ich wusste, dass man mich zu ihrer Leiche führen würde, kalt und weiß, aufgebahrt in der Gruft, wo die Ankraths liegen. Ich biss mir auf die Lippe, sagte nichts und überließ es den Pferden, die Entfernung zurückzulegen, die mich davon trennte, Bescheid zu wissen.

Wir kamen durchs Dreifache Tor, und auf dem Pflaster klappernde Hufe kündigten uns an. Stallburschen eilten herbei, nahmen die Zügel und halfen mir beim Absteigen, als wäre ich eine alte Frau. Die ganze Zeit über läutete die eiserne Glocke, so laut, dass wir Kopfschmerzen bekamen und die Zähne zusammenbissen.

Im Hof hatte jemand einen Myrre-Stock angezündet; er steckte in einem Fackelhalter bei der Winde. Wenn Kummer einen Geruch gehabt hätte, so wäre es dieser gewesen. Auch in Scorron verbrennen wir Myrre, für die Toten.

Vom Fensterbogen hoch über dem Balkon der Kapelle hörte ich ein Wehklagen zwischen den einzelnen Glockenschlägen. Die Stimme einer Frau. Noch nie hatte ich solche Laute von meiner Schwester vernommen, aber ich erkannte ihre Stimme, und die Furcht, die mir am Tor von Rom kalte Zähne in den Rücken geschlagen hatte, bohrte sich mir nun in den Bauch. Diese Schreie, wie vom Schmerz einer offenen Wunde, konnten nicht Olidan gelten.