13

Hochzeitstag

Der erste Mann, den ich in meinem achtzehnten Jahr tötete, hatte den größten Teil der Arbeit selbst erledigt. Es ist schwere Arbeit, in einer Rüstung zweihundert Meter weit über einen steilen Felshang nach oben zu laufen. Der Soldat schien kurz davor zu sein, einfach umzufallen, wie die Alte auf dem Markt, die nie wieder aufstand, als sie Gorgoth zum ersten und letzten Mal sah. Ich ließ ihn in mein Schwert laufen, und damit hatte es sich.

Beim nächsten Mann verhielt es sich ähnlich, mit dem einen Unterschied, dass ich etwas schneller sein und zustoßen musste, anstatt einfach nur zuzusehen, wie er sich selbst aufspießte. Im Kampf bringt das Zustoßen einen saubereren Tod als ein Schnitt. Es sei denn natürlich, man kriegt die Klinge in die Gedärme; dann hat man eine schwere Zeit vor sich, bevor einige Tage später die Fäulnis beginnt und einen schreiend ins Grab trägt.

Der dritte Mann, groß und bärtig, verstand die beiden Leichen vor mir als warnenden Hinweis und wurde langsamer, als er mich erreichte. Er hätte auf seine Freunde weiter unten am Hang warten sollen, aber stattdessen schwang er noch immer schnaufend und nach Atem ringend sein Breitschwert. Ich trat zurück, um der Klinge auszuweichen, schlug dann mit meiner eigenen zu und zerschnitt ihm die Kehle. Er drehte sich und spritzte Blut auf die Freunde, deren Eintreffen er besser hätte abwarten sollen, kippte dann und fiel zwischen die Felsen. Wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, glaubt man kaum, wie weit Blut aus dem richtigen Schnitt spritzen kann. Es ist ein Wunder, dass wir diesen Druck nicht die ganze Zeit in uns spüren, dass wir nicht einfach explodieren.

An dieser Stelle hätte ich loslaufen sollen. Das sah der Plan schließlich vor. Mein Plan. Und die Männer der Wache hatten hinter mir bereits mit dem Rückzug begonnen. Stattdessen trat ich nach vorn, zwischen die beiden blutbespritzten Soldaten, die zur Seite gesprungen waren, als der Bärtige fiel. Ich schwang meine Klinge im Acht-Muster, von einer Seite zur anderen, und sie fielen beide, mit zerrissenen Kettenhemden, ein gebrochenes Schlüsselbein auf der rechten Seite und aufgerissene Muskeln auf der linken. Der Hieb hätte sie nicht beide zu Boden schicken sollen, doch genau das hatte er getan, und ich gelangte zu dem Schluss, dass vier Jahre anstrengendes Üben mit dem Schwert nicht völlig umsonst gewesen waren.

Beide Männer wälzten sich auf dem Boden und klagten über ihre Wunden, als ich den sechsten zu Boden schickte, einen weiteren Taumelnden, vom Laufen erschöpft. Erst dann wandte ich mich zur Flucht, ließ die Verfolger hinter mir zurück und gab mir alle Mühe, zur Wache aufzuschließen.

Die Männer von Pfeil hatten keine Möglichkeit, uns einzuholen, aber sie konnten auch nicht einfach stehenbleiben und uns Gelegenheit geben, zu ihnen zurückzukehren und sie mit weiteren Pfeilen zu beglücken. Deshalb setzten sie die Verfolgung fort. Ihre Offiziere trafen unter den besonderen Umständen die richtige Entscheidung, aber es wäre besser gewesen, wenn sie sich mit ihren Soldaten zur Hauptstreitmacht zurückgezogen und darauf vertraut hätten, dass der Kommandeur so vernünftig war, seine Bogenschützen als Verteidigung gegen uns einzusetzen. Aber vielleicht hatte der Fürst von Pfeil nichts dagegen, einige Tausend Männer höher in die Berge zu schicken, um die Gefahr zurückzuhalten und dem Gros seines Heeres Gelegenheit zu geben, auf die Burg konzentriert zu bleiben.

Ich überholte Soldaten der Wache, die weniger Kraft in den Beinen hatten als ich an jenem Tag, und einige Minuten später erreichte ich Makin. Hobbs, Kommandeur der Wache, lief neben ihm, zusammen mit seinen Hauptleuten Harold, Stodd und dem alten Keppen, der vor Jahren bei der Rulow-Kaskade eine kluge Entscheidung getroffen und sich geweigert hatte, für den früheren Befehlshaber der Wache in den Tod zu springen. Ich spreche von »laufen«, aber »flottes Gehen« trifft es eigentlich besser.

»Vier Gruppen zu den Anhöhen dort«, sagte ich. »Sie sollen dem Feind weitere Pfeile schicken.«

»Und wenn er sie erreicht?«, fragte Hobbs.

»Dann wird es Zeit für sie, erneut zu laufen«, antwortete ich.

»Wenigstens können sie ein bisschen ausruhen«, sagte Keppen und spuckte Schleim.

»Das könnt Ihr auch bald.« Ich lächelte. »Es sind Eure Gruppen, an die ich gedacht habe.«

»Ich hätte damals springen sollen«, brummte er. Dann schüttelte er den Kopf und hob seinen Kurzbogen, an dem ein rotes Signalband im Wind flatterte. Seine Männer kamen hinter ihm zusammen, als er in Richtung der Anhöhen davontrottete.

»Laufen ist ja gut und schön«, sagte Hobbs und stapfte weiter. »Aber irgendwann gehen uns die Hänge aus, oder der Gegner jagt uns ganz aus dem Hochland.«

»Was gar nicht so schlecht zu sein scheint …« Makin keuchte. »… wenn man sich’s genau überlegt.« Er wirkte noch erschöpfter als die anderen. Über zu viele Jahre hinweg hatte er Pferden das Laufen überlassen. Er kletterte auf einen großen Felsen und blickte ins Tal hinab. »Es müssen dreitausend von den Mistkerlen sein, die hinter uns her sind. Vielleicht sogar viertausend.«

»Scheint großen Wert auf zahlenmäßige Überlegenheit zu legen, der Fürst«, sagte Hobbs. Er kratzte sich dort am Kopf, wo das Haar grauer war als an anderen Stellen und dünn wurde. »Ich hoffe, Ihr habt einen verdammt guten Plan, König Jorg.«

Das hoffte ich ebenfalls. Ohne Norwood und Gelleth wären die Männer der Wache schon vor langer Zeit geflohen. Wie schnell sich Fakten in Fiktion verwandeln, und wie seltsam: Wenn Fakten zu Legenden werden, scheinen die Leute eher bereit zu sein, daran zu glauben. Und vielleicht war es richtig, dass sie diesen Glauben hatten, denn es stimmt, ich habe den Herrn von Gelleth, seine mächtige Burg und all seine Soldaten in Staub verwandelt. Vielleicht hatten sie recht und ich nicht, denn mir fiel es schwer, an die Tricks zu glauben, die möglicherweise in einem Kästchen aus Kupfer lagen.

Ob ich daran glaubte oder nicht, ich hatte nur das Kästchen. Und so drückte ich es mir an die Stirn, als könnte ich die benötigte Erinnerung durch den Knochen pressen. Es fühlte sich an wie ein vergessener Name, der plötzlich auf der Zunge erscheint, von einem Moment zum anderen, dazu bereit, ausgesprochen zu werden. Doch in diesem Fall handelte es sich nicht um ein einzelnes Wort, sondern um viele, zusammen mit Bildern und Dingen, die man berührt und geschmeckt hat. Es war ein Teil des Lebens, der plötzlich zurückkehrte.

 

Die Erinnerungen durchfluteten mich, trugen mich von den kalten Berghängen durch die Jahre zurück. Fort waren plötzlich die Männer der Wache, fort die Rufe und Schreie.

Ich sprang zum nächsten Griff, warf den Körper Arm und Hand hinterher und ließ den letzten Griff in dem Moment los, als die Finger den nächsten erreichten. Das Klettern ist eine Form des Glaubens, es gibt kein Zurückhalten, keine Reserve. Ich rammte die Finger in die Spalte, deren scharfe Ränder mir die Haut aufrissen. Die Zehen kratzten über rauen Fels, und das weiche Leder fand Haftung, als ich zu rutschen begann.

In den Matteracks gibt es eine Felsnadel, die so gen Himmel zeigt, als wäre sie Gottes Zeigefinger. Wie sie entstand, wer sie aus dem Leib des Berges meißelte – ich weiß es nicht. Eins meiner Bücher spricht von Wind, Flüssen und Eis, die der Welt vor langer Zeit Form gaben, aber das klingt nach einer Geschichte für Kinder, und nach einer langweiligen obendrein. Besser ist es, von Winddämonen, Flussgöttern und Eisriesen aus Jötunheim zu sprechen. Es klingt weitaus interessanter und nicht weniger plausibel.

Mit schmerzendem Arm verharrte ich, die Beinmuskeln gespannt, den Körper krumm am Fels, und stahl dem kalten Wind genug Luft, um mir die Lunge zu füllen. Es heißt, dass man nicht nach unten sehen soll, aber genau das mache ich gern. Es gefällt mir, kleinen Brocken nachzuschauen und zu beobachten, wie sie in der Tiefe verschwinden. Meine Muskeln brannten, und der Wind raubte mir die Wärme. Ich fühlte mich wie zwischen Eis und Feuer gefangen.

Die Felsspitze erhebt sich in der Nähe eines Bergsporns, einer der Wurzeln des Gebirges, die zwei tiefe Täler trennt. Von den Geröllhängen unten am Sporn bis zum flachen Gipfel, auf dem vielleicht eine kleine Hütte Platz fände, ragt eine Felswand mehr als hundert Meter steil empor, zum größten Teil vertikal, an einigen Stellen mit Überhängen.

Etwa dreißig Meter weiter unten sah ich den Felsvorsprung, auf dem ich der Ziege begegnet war. Die Höhen, die eine Bergziege allein in der Hoffnung auf ein wenig frisches Grün erklimmt, erstaunen mich immer wieder. Die Tiere scheinen über eine besondere Art von Magie zu verfügen, die es ihnen ermöglicht, ohne Finger oder Zehen zurechtzukommen. Ich hatte mich nach oben gezogen, und plötzlich war da die Ziege gewesen, direkt vor mir. Es gibt etwas Fremdes in den Augen einer Ziege, etwas, das man nicht in den Augen von Hund, Pferd oder Vogel sieht. Vermutlich liegt es an der rechteckigen Pupille. Als ob diese Geschöpfe aus der Hölle emporgeklettert oder vom Mond gefallen wären. In gegenseitigem Argwohn saßen wir da, während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und während ich darauf wartete, dass das Leben langsam in meine Gliedmaßen zurückkroch.

Ich entdeckte die Felssäule in meinem ersten Jahr als König von Renar, und in all meiner Zeit auf dem Thron war es vielleicht jener Teil des Berges, der es fast geschafft hätte, mich umzubringen. Mehrmals hatte ich vergeblich versucht, sie zu erklettern, und ich bin kein Mann, der leicht aufgibt.

Coddin fragte mich einmal, warum ich klettere, und ich habe ihm einen Haufen Lügen erzählt. Die Wahrheit zumindest für diesen Tag lautet: Damals, als ich klein war, spielte meine Mutter für William und mich auf einem Instrument, das aus der Schatzkammer der Hohen Burg stammte. Ein Klavier. Ein magisches Objekt, mit vielen weißen und schwarzen Tasten. Wir waren ziemliche Nervensägen, William und ich, das muss gesagt werden. Wir zankten, heckten dauernd irgendetwas aus und stellten immer wieder Unsinn an. Aber wenn unsere Mutter spielte, waren wir still und hörten zu. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Moment, an ihre langen Finger auf den Tasten – sie bewegten sich so schnell, dass sie nur noch schemenhaft zu erkennen waren –, daran, wie sich ihr Oberkörper bewegte, an ihr Haar, das als Zopf zwischen ihren Schulterblättern hing, ans Licht, das aufs Holz des Klaviers fiel. Das alles sehe ich in meiner Erinnerung, aber ich höre nicht einen Ton. Meine Mutter spielt hinter Glas, durch zu viele Jahre von mir getrennt. Ich habe die Töne verloren – und noch viel mehr –, als ich von ihr fortgegangen bin, von der verdammten Kutsche und den Dornen.

Ich sehe, aber ich höre nicht.

Wenn ich klettere, und nur dann, wenn ich mich am Rand von allem befinde … Dann dringt der eine oder andere Ton an meine Ohren. Wie Worte, ohne Bedeutung am Rand der Hörweite. Die Musik erreicht mich … fast. Und dafür fordere ich jede Höhe heraus.

Den achten Versuch, die Felsnadel zu erklettern, unternahm ich zu Beginn des Sommers, in dem der Fürst von Pfeil die Grenze meines Königreichs überschritt, mit seinem Heer, das bereits in Normardie und Orlanth geplündert hatte und Beute mit sich schleppte. Beute und auch Rekruten, wie leider gesagt werden muss, denn die Herren jener Länder waren nicht sehr beliebt, und der Fürst hatte die Herzen der Bevölkerung gewonnen, noch bevor alle Toten begraben waren.

Beim Klettern geht es um Hingabe. An der Säule aus Fels gibt es Stellen, wo man einen Griff ganz aufgeben muss, bevor man den nächsten erreichen kann. Und manchmal kann man ihn nur erreichen, indem man sich nach oben wirft, an einer Felswand, die keinen Halt bietet. In solchen Momenten fällt man, wenn auch nach oben, und wenn man den nächsten Griff nicht zu fassen bekommt, geht der Fall weiter, nach unten, bis ganz nach unten. Bei solchen Aufstiegen gibt es keine halben Sachen: Bei jeder Entscheidung setzt man alles auf eine Karte. Man kann auf diese Weise leben, obwohl ich das nicht empfehle. Letztendlich stirbt jeder, aber nicht jeder lebt. Der Kletterer mag jung sterben, aber er kann gewiss sein, gelebt zu haben.

Beim Erklettern von Gottes Finger lernte ich viel darüber, wie man sich allein mit den Fingerspitzen festhält. Als ich mich schließlich schwach und zitternd auf die Spitze der Felsnadel zog, offenbarte sich mir die Erkenntnis, dass ich mich mein ganzes Leben lang an den Fingerspitzen festgehalten hatte.

Auf dem Rücken lag ich. Ich lag auf dem Felsen, mit nichts zwischen mir und dem endlosen blauen Himmel. Ich hatte nichts Unnötiges mitgenommen, und auf dem kleinen Gipfel gab es für nichts anderes Platz, weder für Geister noch für lebende Personen, weder für Katherine noch für William oder Vater und Mutter. Das alles lag mehr als hundert Meter unter mir, zu weit entfernt, um meine Stimme zu hören. Nicht einmal der Schatten eines Kindes oder die Erinnerung an ein Kupferkästchen begleiteten mich auf dem Gipfel. Es ist nicht die Gefahr oder die Herausforderung, die mich klettern lassen, sondern Reinheit und Konzentration. Wenn man nur einen fünf Sekunden langen Sturz davon entfernt ist, ein Haufen aus zerfetzten Eingeweiden und zerschmetterten Knochen zu sein, wenn das ganze Gewicht an acht Fingern hängt, dann sieben, dann fünf, so sind alle Entscheidungen schwarz oder weiß und werden vom Instinkt getroffen, ohne irgendwelchen Ballast.

Wenn man angestrengt klettert und einen schwierigen Gipfel oder Vorsprung erreicht, so erringt man eine neue Perspektive, man sieht die Welt anders. Es ist nicht nur der Blickwinkel, der sich verändert. Die Veränderung betrifft auch einen selbst. Es heißt, dass es kein Zurück gibt, und diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich nach vier Jahren auf der Straße zur Hohen Burg zurückgekehrt bin. Durch die gleichen Flure bin ich gegangen, und ich habe mit den gleichen Leuten gesprochen, aber ich war nicht wirklich zurückgekehrt. Ich befand mich in einer neuen Burg, sah sie mit anderen Augen. So etwas geschieht auch, wenn man hoch genug klettert, doch beim Klettern muss man nicht jahrelang fort gewesen sein. Wer einen Berg erklettert und die Welt von seiner höchsten Stelle sieht, wird am nächsten Tag, wenn er hinabklettert, eine etwas andere Welt erblicken.

Metaphysik einmal beiseite genommen, von der höchsten Stelle eines Berges kann man viel sehen. Wenn man die Beine über der größten Tiefe auf der ganzen Welt baumeln lässt, während einem der Wind von hinten durchs Haar streicht, und wenn der Schatten so weit fällt, dass er vielleicht nie den Boden berührt … dann bemerkt man neue Dinge.

Auf der Straße haben wir Redensarten. Wir sagen »Pax«, wenn man uns mit den Händen in den Satteltaschen eines anderen Mannes erwischt. Wir sprechen von »die Einheimischen besuchen«, wenn sich ein Bruder nach einem Kampf aufmacht, um dunklen Geschäften nachzugehen. Wo ist Bruder Rike? Er besucht die Einheimischen. Im Hochland von Renar gibt es eine Redensart, die ich zum ersten Mal hörte, als ich zusammen mit Sir Makin ein Dorf namens Gutting erreichte. »Er nahm einen Stein für einen Spaziergang, Euer Gnaden.« Damals achtete ich nicht weiter darauf und hielt es für ein bisschen Lokalkolorit, für einen Streifen Grün im Dung. In den nächsten Jahren hörte ich die Worte einige weitere Male, im Zusammenhang mit jemandem, der in geheimnisvollen Angelegenheiten unterwegs war. Einen Stein für einen Spaziergang nehmen. Wenn man auf eine bestimmte Redensart oder Ausdrucksweise aufmerksam geworden ist, bemerkt man sie plötzlich überall. »Hat seine Herde verloren«, lautete eine andere. Auf dem Paradeplatz hörte ich solche Worte, von den einheimischen Rekruten. »Der John von Bryn nahm sich meine Bogensehnen, während ich Wache hatte.« »Was willst du tun?« »Oh, keine Sorge, ich hab’s bereits getan. Hat seine Herde verloren, hat er.«

An einem hohen Ort, erst recht an einem, der schwer zu erreichen ist, bekommt man eine neue Perspektive. Als ich über die Gipfel und schroffen Hänge schaute, die mir vertraut geworden waren, bemerkte ich etwas Neues. Die Schatten gaben es preis, lockten den Blick zu Orten, wo das Land nicht ganz richtig lag. Man musste eine Zeit lang in die Leere starren, die Beine baumeln und die Gedanken hinter den Augen treiben lassen, bis sich alles setzte, wie der Schnee in der Glaskugel. Daraufhin sah ich die gleiche Szene, aber mit neuen Details.

Hoch an den Seiten fast jeden Tals und aller Schluchten, bis auf die höchsten von ihnen, hatte sich lockeres Felsgestein angesammelt und ein unsicheres Gleichgewicht gefunden. Zuerst lässt sich das Auge täuschen. Es muss eine normale Formation sein, von der Natur so gewollt. So viele Steine zu bewegen … Tausend Leben wären dafür erforderlich, und zu welchem Zweck?

Einen Stein für einen Spaziergang zu nehmen … Es war ein echter Zeitvertreib im Hochland, so tief in den Traditionen verwurzelt, so selbstverständlich, dass es niemand für erforderlich hielt, mehr zu sagen. Über Generationen hinweg haben Männer, die zu den hohen Weiden gingen, um dort die Ziegen zu hüten, Steine mitgenommen, sie von einer Stelle des Hangs zu einer höheren gebracht. Damit leisteten sie ihren Beitrag für die Ansammlungen von Steinen, an denen auch schon ihre Väter und Großväter gearbeitet hatten.

Wenn sich ein Mann von Renar die Freiheit nimmt, seine Ziegen auf der Weide eines anderen Mannes grasen zu lassen, so riskiert er einen plötzlichen Bergsturz, und dann verliert er seine Herde. Und wenn es kein Mann von Renar wäre, könnte er sogar noch mehr verlieren.

 

Es ist schwer, einen Faden zu ziehen, wenn man läuft, und erst recht dann, wenn der Faden ein Plan ist und man seinen Faden aus einem Kästchen mit Erinnerungen zieht, während man von Tausenden Soldaten verfolgt bergauf läuft. Aber selbst unsere Feinde nennen die Ankraths schlau, und ich nenne uns clever. Deshalb zog ich noch ein wenig mehr, und plötzlich sah ich die Hänge, über die wir liefen, aus einem neuen Blickwinkel. Besser gesagt, aus einem alten, den ich vergessen hatte.