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Hochzeitstag

»Seid zum Laufen bereit!«, rief ich.

»Ist das dein Plan, Jorg?« Makins Gesicht gab dem Wort Überraschung eine ganz neue Bedeutung. Es lag vor allem an seinen Brauen.

»Seid bereit«, wiederholte ich. Wenn ich einen Plan hatte, so hielt ich nicht mehr als einen Faden davon und zog ihn ganz langsam näher, Zentimeter um Zentimeter. Und dieser Faden flüsterte mir zu: Sei zum Laufen bereit. Sun Tzu lehrt: Weiche dem Feind aus, wenn er dich in jeder Hinsicht übertrifft.

»Wenn das der verdammte Plan ist, hätten wir ihn schon vor zwei Wochen in die Tat umsetzen sollen«, sagte Makin und schulterte seinen Bogen.

Der erste Soldat von Pfeil erreichte mich, das Gesicht fast violett vom anstrengenden Lauf den Hang herauf.

 

Katherine Ap Scorron beherrscht meine Nächte, auf eine ungesunde Weise. Und alle Träume von ihr sind dunkel. Chella wandelt in einigen davon und kommt direkt aus den Räumen des Nekromanten unter dem Honasberg, boshaft und wundervoll. Ihr Lächeln sagt, dass sie mich kennt, bis hin zu meinem faulen Kern, und Katherines Gesicht legt sich auf das von Chella, als festes Fleisch zerfließt und verrottet.

Der tote Knabe erscheint in vielen meiner Träume, in seinen karmesinroten Händen das Kupferkästchen mit dem Dornenmuster. Er hat verschiedene Namen. Meistens heißt er William, obwohl er nicht der Bruder ist, den ich kannte. Aber er folgt Katherine, wann immer ich sie zu meinem Bett rufe. Manchmal ist er gerade getötet worden, und Blut strömt noch aus seinen Wunden; bei anderen Gelegenheiten kommt er grau, als halb verweste Leiche.

Die Deutung von Träumen ist eine langweilige Angelegenheit, aber ganz anders sieht es damit aus, die Träume eines Fremden zum ersten Mal zu erleben. Albträume als Waffen oder Fesseln zu fabrizieren und sie loszuschicken, damit sie Jagd auf ihre Opfer machen … Das könnte recht unterhaltsam sein. Es scheint einen gewissen Traumhexer beschäftigt zu halten.

Mein Vater hielt Sageous für sein Werkzeug. Vielleicht glaubt er, dass er den Hexer weggeschickt hat, nachdem ich in der Hohen Burg seine Macht brach, und vielleicht denkt der Fürst von Pfeil, Sageous sei ihm treu ergeben. Doch wie Corion, die Stille Schwester und andere im Reich sieht sich Sageous als Spieler hinter den Thronen, als jemand, der Könige und Herzöge, Grafen und Fürsten auf einer Art Schachbrett bewegt. Es hat mir nie gefallen, zu etwas gedrängt zu werden. Auch der Fürst von Pfeil erschien mir als ein Mann, bei dem der Traumhexer große Mühe haben könnte, aber wir werden sehen.

Sageous schickte zweimal vergeblich Geschöpfe aus, die mich im Schlaf überwältigen sollten. Ich glaube, jeder Misserfolg nimmt ihm etwas Wichtiges, etwas Vitales. Jedenfalls versuchte er es nicht noch einmal. Der Knabe ist nicht sein Werk. Ich wüsste es, wenn das der Fall wäre.

Aber der Heide beobachtet mich. Still steht er am Rand meiner Träume und hofft, nicht bemerkt zu werden. Ich habe ihn bis zur Grenze des Erwachens gejagt und bin bei dem Versuch aus dem Bett gefallen, das Kopfkissen zu erwürgen. Einmal fand meine Hand im Schlaf einen Dolch, und das Ergebnis bestand aus Federn überall. Er trachtet danach, mich zu steuern, indem er mich nur ganz leicht anstößt. Aber selbst eine sanfte Berührung kann große Wirkung erzielen, wenn sie lange vor dem Zielereignis erfolgt. Sageous versucht, mich zu lenken, uns alle. Seine Finger sind geschwind und agil wie Spinnen, und sie ziehen dünne Fäden, bis ihm die angestrebte Macht wie durch Zufall in den Schoß fällt.

 

Lehrer Lundist sagte, dass ich mich im Krieg von Sun Tzu leiten lassen sollte. Mein Vater mag ihn eine Woche nach meiner Flucht aus der Hohen Burg hingerichtet haben, aber seine Lehren werden länger bei mir sein als alle Lektionen, die Olidan Ankrath seinem Sohn auferlegte.

Jeder Krieg ist Täuschung, sagt mir Sun Tzu auf Papier gelb wie Gelbsucht und trocken wie Sand. Jeder Krieg ist Täuschung, aber wo habe ich Gelegenheit, den Feind zu täuschen? Es gibt Spione in meinen Fluren und Beobachter in meinen Träumen. Das Grab ist ein sehr privater Ort, heißt es, aber ich fürchte, in dieser schweren Zeit kann man auch dort keine Geheimnisse wahren.

Und so mache ich von dem Gebrauch, was ich habe. Von einem Kupferkästchen, das Erinnerungen enthält. Erinnerungen, die so schrecklich sind, dass ich sie nicht in mir behalten konnte. Ich habe das Kästchen und benutze es. Vor langer Zeit habe ich gelernt: Wenn ich es ganz fest an die Stirn drücke, so fest, dass es ein Dornenmuster auf der Haut hinterlässt, nimmt es eine Erinnerung, einen Gedanken, einen Plan, was auch immer in den Gedanken ganz oben schwimmt. Der Plan ist verloren, aber vor Sageous und Seinesgleichen sicher; es bleibt nur die Erinnerung daran, dass man eine gute Idee hatte, und das Wissen um den Ort, wo man sie finden kann, wenn man sie braucht.

Man halte das Kästchen fest in der Hand … Dann fühlt man die dunklen Kanten des Schreckens darin, wie sie schneiden und brennen. Der Schmerz rinnt heraus, seines Zusammenhangs beraubt, rau und kalt, und wenn man es klug anstellt, wenn die Finger des Geistes geschickt genug sind, kann man damit den Faden einer zuvor gesponnenen List von einem Ort jenseits aller Spione ziehen. Und wenn man seinen Feind überraschen kann, so ist es ein geringer Preis dafür, auch sich selbst zu überraschen.