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Vier Jahre zuvor

In den heißen und endlosen Sümpfen von Cantanlona sind viele Dinge verloren, Geheimnisse verschlungen und Leben von Schwärze aufgesaugt. Und manchmal bringen langsame Strömungen zurück, was besser verborgen geblieben wäre.

 

Es ist nie eine gute Idee, in einem Sumpf zu laufen. Langsame Schritte sind gefragt, wenn es überall kleine Tümpel gibt, in denen man versinken kann, Morast, der einen festhält und langsam verschlingt, und im Gras verborgene Löcher, bestens dazu geeignet, einem den Fuß zu brechen. Aber manchmal sind schlechte Ideen die einzigen, die man hat.

»Folgt mir!«, rief ich und lief zwischen den Tümpeln und den Grasbüscheln zu meiner Linken. Chella ließ sich in den Schlamm sinken, und der Nubier versuchte, mir den Weg zu versperren.

Welche Nekromantie auch immer ich von Chellas Bruder bekommen hatte, sie konnte nur ein Tropfen sein im Vergleich mit dem Ozean von Chellas Macht. Doch auch Geheimnisse haben Macht. Das Geheimnis, an das ich dachte, war von Dr. Taproots Lippen geschlüpft, und er hätte mir diese Information nicht kostenlos gegeben, wenn er davon überzeugt gewesen wäre, dass sie noch irgendeinen Wert besaß.

»Ich gebe dich frei, Kaschta!« Ich drückte die Hand auf die Wunde in seiner Brust, ohne auf die zugreifenden Pranken des Nubiers zu achten.

Wenn ein Name geheimgehalten wird, bekommt er ein Vielfaches seiner Macht. Der Nubier fiel sofort, und ich gewann den Eindruck, dass er nie wieder aufstehen würde. Als er fiel, wuchs mein Zorn.

Ich lief weiter, gefolgt von den lebenden Brüdern hinter mir und den toten hinter ihnen. Rechts hinter mir trat der Dicke Burlow Rike in den Weg. Ich blieb nicht stehen, erreichte eine kleine Anhöhe mit festerem Untergrund, drehte mich dort um und beobachtete, wie Rikes Breitschwert durch Burlows Arm schnitt. Burlow packte ihn mit der anderen Hand, aber Makin hackte ihm auch die ab, und beide Männer eilten weiter, wurden jedoch langsamer, als weicherer Boden sie zum Waten zwang. Makin verlor einen Stiefel an den saugenden Morast, schaffte es aber an meine Seite. Unsere in Panik geratenen Pferde liefen in alle Richtungen. Einige folgten uns, unter ihnen Brath, doch ich sah, wie zwei von ihnen im Schlamm steckenblieben und zu sinken begannen. Sie bäumten sich auf und versuchten, sich aus der tödlichen Umklammerung zu befreien.

Einige Meter entfernt begann es in einem Tümpel zu brodeln. Leiche auf Leiche kam daraus hervor, als steckten sie viele Klafter tief im Boden, ganz dicht beieinander.

Ich führte die Brüder weiter. Den Untoten mangelte es zwar an Furcht, und man musste sie regelrecht in Stücke schlagen, damit sie aufhörten, uns nach dem Leben zu trachten, aber wenigstens waren sie langsam. In offenem Gelände hätten wir sie innerhalb kurzer Zeit weit hinter uns gelassen, doch im Sumpf kamen wir kaum schneller voran als sie. Eine Aura des Todes durchdringt den Schlamm der Cantanlona-Sümpfe. Der Morast selbst scheint halb lebendig zu sein, oder halb tot – es hing vom jeweiligen Blickwinkel ab. Er half den Untoten, würgte sie nach oben und bewahrte sie davor, im Morast zu versinken.

Die Leichen aus dem Tümpel stellten sich uns entgegen, als der feste Boden nach links führte.

»Bleibt in Bewegung!«, rief ich.

Makin zog einem Gegner die Klinge über die Brust, genug, um einen Lebenden aufzuhalten, aber nicht einen Toten. Das Geschöpf achtete gar nicht darauf und streckte ihm schlammbedeckte Arme entgegen. Rike hielt sich nicht mit seinem Schwert auf. Er trat einem Leichenmann mit solcher Wucht in den Bauch, dass er meterweit flog und einen anderen Toten von den Beinen riss. Wie sich herausstellte, eignete sich der Rote Kent von allen Brüdern am besten für diesen Kampf. Seine nordische Axt schlug Körperteile ab und ließ ein Durcheinander aus Händen, Armen und Köpfen im Morast zurück.

Wir liefen, mit den untoten Kreaturen auf den Fersen, still dazu entschlossen, uns zu erreichen und in Fetzen zu reißen. Die einzigen Geräusche waren ihr Platschen und unser Keuchen. Ein ganzes Heer grauer Untoter stellte uns nach, aber mit jeder Meile blieben sie weiter hinter uns zurück und gerieten schließlich außer Sicht.

Auf einem kleinen Hügel, der sicheren Untergrund und einen weiten Blick über den Sumpf bot, hielt ich schließlich inne. Ein Kreis aus verwitterten Steinen deutete darauf hin, dass es sich um einen Grabhügel handelte – vielleicht hatte hier einmal ein Stammesoberhaupt oder dergleichen geruht – , doch offenbar war das Grab schon vor langer Zeit geleert worden, denn ich fühlte an diesem Ort nicht mehr Tod als im nahen Sumpf. Während der langen Verfolgungsjagd war mir der Zorn ein ständiger Begleiter gewesen. Chella hatte die Leiche des Nubiers mehr als ein halbes Jahr lang als ihr Spielzeug behalten. Ich wusste nicht, ob etwas vom Mann zurückbleibt, wenn Nekromantie den Körper belebt, aber die Möglichkeit, dass der Nubier gelitten hatte, erschien mir schrecklich genug, Rache zu schwören. Nur einmal zuvor hatte ich einen solchen Schwur abgelegt, und auch diesmal schwor ich wortlos und mit der Absicht, die ganze Welt zu zerreißen, wenn es notwendig sein sollte, den Schwur zu erfüllen.

»Ich möchte keine weitere Nacht an diesem Ort verbringen«, sagte Makin.

»Wirklich nicht?«, knurrte Rike, der auf dem größten Stein saß. Ich hatte nie zuvor Sarkasmus von ihm gehört; er schien ihn sich für einen besonderen Anlass aufgespart zu haben.

»Bitte steh auf, Rike«, sagte ich.

Er stand auf. Ich hob die Spitze meines Schwerts zu seiner Seite, stieß mit der Klinge zu und drehte sie. Damit löste ich Burlows Hand und schnitt auch ein Stück von der Jacke ab, an der sich die Hand festgehalten hatte. Ich schwang das Schwert, und die Hand flog, verschwand im Sumpf.

»Es hat uns in die Hölle verschlagen«, sagte Grumlow im Brustton der Überzeugung. »Wir haben uns verirrt, und jetzt sind wir in der Hölle.« Schlamm klebte in seinem Gesicht und Blut in seinem Schnurrbart; rote Spuren führten von der Nase zu den Lippen.

»Die Hölle riecht besser«, sagte ich.

Mit den Pferden bei uns blieb auf dem Erdhügel nicht viel Platz, und außerdem nahmen sie uns die Sicht. Ich drückte die graue Stute beiseite und klopfte ihr aufs Hinterteil. Von den fünf übrig gebliebenen Pferden war nur sie entspannt genug, das kurze Gras zu probieren.

»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte Makin.

Das sollten wir, aber wohin? Der Horizont bot nichts an. Außer vielleicht …

»Ist das das Meer?« Ich deutete nach Osten, wo sich eine vage schwarze oder blaue Linie hinter den fernsten Sümpfen zeigte.

Wenn einer der Brüder Antwort geben wollte, so kam er nicht dazu, weil plötzlich ein Schrei erklang. Ich wirbelte herum. Direkt hinter uns, bis zu den Oberschenkeln im Wasser und bis zur Brust im Schilf, stand Chella und hielt den jungen Sim an Kehle und Kopf. Mir schien, dass sie etwas mit ihm angestellt hatte, vielleicht mit seinem Hals, denn seine Arme hingen schlaff an den Seiten, obwohl er uns aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Wir nannten ihn den jungen Sim, und er mochte sechzehn Jahre alt sein, aber wenn es ums Töten ging, war er ein alter Hase, und ohne guten Grund hätte er nicht auf heftige Gegenwehr verzichtet.

»Du solltest nicht vor mir weglaufen, Jorg«, sagte Chella. Das Wasser hatte den Schlamm fortgewaschen, konnte der Haut in der Farbe von altem Teak aber nicht die Sumpfflecken nehmen. Die keltischen Muster schienen tief darin verwurzelt zu sein und nicht allein aus Farbe zu bestehen, wie ich früher gedacht hatte. Eine Nadel musste die Wirbel und Knoten an ihren Armen und Seiten geschaffen haben.

»Ich will nichts mit dir zu tun haben, Nekromantin.« Noch immer hielt ich die Armbrust des Nubiers in der Hand, obwohl ich sie nicht wieder geladen hatte. Ich zielte damit auf Chella und ging davon aus, dass sie nicht auf die Anzahl der Bolzen achtete. »Welche Kraft auch immer ich aufgenommen habe, sie schwindet. Langsamer, als mir lieb wäre, aber sie wird bald ganz verschwunden sein, und das bedauere ich keineswegs. Ich will nichts mit dir und deinem schmutzigen Geschäft zu tun haben.«

Chella lächelte. »Der Tote König wird dich nicht gehen lassen, Jorg. Er versammelt alle von uns bei sich. Schwarze Schiffe warten darauf, uns zu den Versunkenen Inseln zu bringen.«

Ich gab keine Antwort. Der Zorn war von mir gewichen, als ich geschworen hatte, Chella zu vernichten. Rache ist geduldig, wenn sie es sein muss, und die Nekromantin wollte meine Brüder gegen mich verwenden, mich so in Rage bringen, dass ich ihr in einen der Tümpel folgte und darin versank. Ich ließ sie nicht wissen, dass ihr Trick fast funktioniert hätte.

»Bittest du mich nicht, deinen Bruder freizugeben, Jorg?« Sie zog Sim einen Meter weiter zurück.

Row hatte einen Pfeil auf sie gerichtet, und Grumlow schien diesmal zu einem Messerwurf bereit zu sein. Grumlow mochte Sim; Furcht würde seine Hand nicht daran hindern, sich zu bewegen.

»Du hast also meinen Bruder. Iss sein Herz, und wir sind quitt, wieder am Anfang«, sagte ich. Mir war klar, dass Chella Sim nicht loslassen würde. Sie wollte nur, dass ich sie darum bat.

»Oh, du kannst nicht zurück, Jorg. Das solltest du wissen. Du kannst nie zurück. Nicht einmal dann, wenn die Nekromantie restlos aus dir verschwindet. Sieh nur!« Sie änderte ihren Griff und zog Sims Kopf nach rechts. Viel zu weit nach rechts. Das Knirschen der Knochen ging mir durch Mark und Bein. »Unnnnd …« Sie drehte den Kopf langsam zurück, damit Sims Gesicht wieder uns zugewandt war. »Er ist wieder da. Aber nicht so wie vorher, oder?«

»Schlampe!« Row ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Vielleicht zitterte seine Hand, oder Chella bewegte sich schneller, als ich sehen konnte, ich weiß es nicht. Jedenfalls steckte der Pfeil plötzlich in Sims Auge.

»Sieh nur, was du getan hast.« Chellas roter Mund lächelte, und ihre Augen blickten verführerisch, als sie Sim ins Ohr flüsterte.

Grumlow warf sein Messer, doch Chella fiel bereits. Vielleicht erreichte die Klinge sie, aber das Wasser schloss sich über ihr, bevor ich Gewissheit erlangen konnte.

Sim blieb stehen, trotz des gebrochenen Genicks und des Pfeils im Auge. Und dann trat er einen unsicheren Schritt auf uns zu. Das klare Wasser zwischen dem Schilf trübte sich, als der Schlamm darunter in Bewegung geriet.

»Das Meer!«, rief ich und streckte obendrein die Hand aus. Der Fürst von Pfeil hatte mir geraten, das Meer zu sehen, und vielleicht war dies die letzte Gelegenheit dazu. Ich musste die Brüder nicht extra auffordern. Wir liefen los und hofften, dass Bruder Sim ebenso langsam war wie die anderen Toten, und nicht so schnell, wie wir ihn in Erinnerung hatten.

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Bruder Row kann man trauen. Man kann darauf vertrauen,
dass er lügt, betrügt und vielleicht auch verrät. Am meisten
aber kann man darauf vertrauen, dass er seinem wahren Wesen
gerecht wird: Er ist ein Schleicher, ein Mörder im Dunkeln, sehr
nützlich beim Kampf. Man vertraue darauf, und er wird einen
nicht enttäuschen.