33

Vier Jahre zuvor

Das Meer fügte dem Gestank der Cantanlona-Sümpfe lediglich einen Salzgeruch hinzu.

Ich sah jetzt die weite Wasserfläche vor uns, noch immer Meilen entfernt.

»Wenigstens sind sie langsam«, sagte Kent. Er platschte neben mir, mit der Axt in der Hand, und riskierte einen Blick über die Schulter. Mit einer scharfen Axt durch einen Sumpf zu laufen und dabei nach hinten zu sehen, ist nicht ratsam, andererseits: Nichts von dem, was wir seit zwei Tagen machten, war sonderlich ratsam.

Die Meeresbrise trug uns ein leises Stöhnen entgegen. Ich versuchte, mir deshalb keine Sorgen zu machen.

Wir liefen weiter und hielten es nach unseren jüngsten Erfahrungen für besser, keine Pause einzulegen. Vier Pferde folgten uns – Rows hatte sich bei einem Tritt in ein Schlammloch das Bein gebrochen. Ich wies Kent an, ihm die Beine abzuschneiden, nachdem Row das Tier getötet hatte. »Chella soll keine Gelegenheit erhalten, das Tier auferstehen und die Toten darauf reiten zu lassen.«

Das Meer wurde immer größer. Bald würde der Sumpf in eine Salzmarsch übergehen.

»Jesus, bitte hilf uns.« Row blieb vor mir stehen. Von allen Brüdern erwartete man von ihm als letzten, dass er himmlischen Beistand erflehte.

Ich verharrte neben ihm. Das Moor, in dem wir unterwegs gewesen waren, endete plötzlich, und vor uns erstreckte sich ein Watt, das nach etwa zweihundert Metern in Rohr überging. Es war nicht der Schlick des Watts, der Row veranlasst hatte, stehenzubleiben. Es waren die Köpfe.

Alle fünf Meter, wie Kohl auf einem Feld, ragte ein Kopf aus dem Schlamm. Die nächsten von ihnen hörten auf zu stöhnen, drehten die Augen und sahen uns an.

Der Kopf vor Row – er hatte leichte Hängebacken und gehörte offenbar einer Frau in mittleren Jahren – bemühte sich, unsere Gesichter zu erkennen. »Bei Gott, errettet mich«, sagte sie. »Errettet mich.«

»Lebst du?« Ich sank vor ihr auf ein Knie. Der Schlick war so fest wie nasser Ton.

»Errettet mich!«, heulte sie.

»Sie sind unter uns.« Diese Worte kamen von einem Mann weiter links. In Makins Alter mochte er sein und hatte einen schwarzen Bart. Nur am unteren Teil des Bartes klebte Schlamm; Regen schien den oberen saubergewaschen zu haben.

Ich streckte die in meinen Fingerspitzen lauernde Nekromantie aus und spürte in diesem Schlick nicht mehr Tod als im Sumpf hinter uns. Mit Ausnahme dieser Leute. Deutlich fühlte ich, wie das Leben sie verließ und etwas wich, das weniger lebendig war, dafür aber dauerhafter.

»Sie reißen mir die Haut vom Leib!« Aus der Stimme des Mannes wurde ein Kreischen.

Rechts von uns sah ich eine jüngere Frau, mit schwarzem Haar im Schlick. Sie hob uns ihr Gesicht entgegen, die Haut wie meine Brust von dunklen Adern durchzogen, und knurrte. Es war ein tiefes, kehliges Knurren, voller Hunger. Und hinter ihr bemerkte ich eine weitere Frau, die ihre Schwester hätte sein können. »Sie kommen nachts. Tote Kinder. Sie geben uns fauliges Wasser und füttern uns mit schrecklichen Dingen. Mit schrecklichen Dingen.« Sie ließ den Kopf wieder sinken.

»Tötet mich.« Ein Mann weiter draußen im Watt.

»Mich auch.« Noch einer.

»Wie lange …«, begann ich.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte Makin.

»Drei Tage.«

»Zwei Wochen.«

»Neun Tage.«

»Seit einer Ewigkeit!« Das Stöhnen und Knurren wurde immer lauter.

Ich richtete mich auf, mit Kälte in den Gliedern und Elend im Bauch. »Warum?«, fragte ich Makin. Er zuckte die Schultern.

»Ich weiß es«, sagte Rike.

»Du weißt gar nichts, Rike«, erwiderte ich.

Aber er wusste es wirklich. »Die Schnellen und die Toten«, sagte er. »Die Nekromantin macht sie hier. Sie lässt sie schmoren und verwandelt sie langsam, wodurch sie schneller werden. Von dieser Art habe ich gehört.«

Draußen im Watt beobachtete uns ein weiterer Kopf mit neuer Gier und heulte. Mehrere andere stimmten in das Heulen mit ein.

»Gib ihnen, was sie wollen, Kent«, sagte ich.

»Nein! Gnade!« Die Frau zu Rows Füßen flehte. »Ich habe Kinder.«

»Oder wenn sie es nicht wollen … Gib ihnen, was sie brauchen.«

Kent machte sich daran, das Feld zu scheren. Rote Arbeit, und schwer für den Rücken. Die anderen halfen ihm, und Rike zeigte dabei ungewöhnlich viel Enthusiasmus.

Wir liefen weiter, darauf versessen, diesen Ort schnell zu verlassen.

»Es wird nicht das einzige Feld sein«, sagte Makin. Er hatte unterwegs auch den anderen Stiefel verloren und lief jetzt barfuß.

Meine Sorge galt weniger, was Chella wachsen ließ, sondern dem, was sie bereits geerntet hatte.

Wir liefen durch ein grünes Meer, um ein graues zu erreichen. Rohr und Schilf reichten uns bis zur Brust und höher, und der dunkle Schlamm darunter nahm das Bein bis zur Wade auf, bevor man den nächsten Schritt machen konnte. Breite Streifen offenen Schlicks trennten die Rohr-Bänke, jeder mit einem kleinen Bach in der Mitte. Ich hörte die fernen Wellen, als wir eine weitere dieser Trennzonen erreichten.

»Nein.« Grumlow legte mir die Hand auf die Schulter, bevor ich auf den Schlick treten konnte.

Vor uns, in der Mitte des leeren Streifens, wo der Bach ein glitzerndes Band formte, geriet der Schlamm in Bewegung.

Row nahm seinen Bogen. Ich spannte die Armbrust des Nubiers.

Der Schlamm bewegte sich erneut, wölbte sich nach oben und floss dann in widerstrebenden Wellen, als etwas Schwarzes zum Vorschein kam.

»Es ist ein verdammtes Boot«, sagte Rike.

Dies schien Rikes Tag dafür zu sein, recht zu haben. Ein Fischerboot aus schwarzem, verfaulendem Holz kam wie unter einer Monsterwelle hervor. Seine Besatzung erhob sich an Deck und schüttelte Schlick und tote Fische ab, als sie sich aufrichtete. Ich dachte an den dicken Kapitän des Kahns, der immer wieder den Reim überquerte. Vielleicht war es eine kluge Entscheidung von ihm, bei einer vertrauten Route zu bleiben.

»Zurück!« Ich führte die Brüder wieder zum Schilf.

Wir liefen und bahnten uns einen Weg durch Rohr, das über meinen Kopf hinwegragte. Rohrkolben schlugen uns immer wieder ins Gesicht.

»Etwas kommt!«, rief Rike. Er konnte noch immer übers Grün hinwegsehen.

»Vom Boot?«, erwiderte ich.

»Nein, von der anderen Seite.«

Wir änderten den Kurs und liefen noch schneller.

Ich hörte sie, wie sie durchs Schilf kamen und zu uns aufschlossen.

»Was ist es?«, rief ich.

»Kann es nicht erkennen.« Rike schnaufte jetzt. »Ich sehe nur, wie sich das Grünzeug bewegt.«

»Anhalten!« Ich befolgte meinen eigenen Befehl, ließ die Armbrust des Nubiers fallen, zog mein Schwert und schnitt damit durchs Schilf. »Schafft eine Lichtung!«, rief ich.

Es hat keinen Sinn, zu laufen, wenn man eingeholt wird.

Drei Tote erreichten die Lichtung, als wir noch damit beschäftigt waren, sie anzulegen. Sie waren ungeheuer schnell und heulten in dem Moment, als sie uns sahen. Ohne zu zögern stürmten sie auf uns zu und streckten die Hände nach unseren Kehlen aus. Row ging zu Boden. Ich spießte den Toten auf, der es auf mich abgesehen hatte. Er schluckte meine Klinge, im wahrsten Sinne des Wortes, seine aufgeschnittenen Wangen glitten zum Heft, während die Spitze nach Lunge und Magen tastete. Thomas vom Zirkus fiel mir ein.

Dass mehr als ein Meter langer scharfer Stahl in seinen lebenswichtigen Organen steckte, schien meinen Widersacher nicht zu schwächen, nur zu erzürnen. Er riss mir fast das Schwert aus der Hand, als er danach trachtete, meine Kehle zu packen. Ich hielt fest, und er stieß mich durchs Schilf zurück. Fast auf allen vieren war er und sprang, als wollte er noch mehr vom Schwert aufnehmen. Wenn er imstande gewesen wäre, den Mund weiter zu öffnen, hätte er sicher auch das Heft und meine Hand verschlungen. Die »lebenswichtigen Organe« schienen ihren Namen zu Unrecht zu tragen.

Der Tote bedrängte mich weiter und gurgelte dunkles Blut, als er mich zwang, zurückzuweichen. Unter mir ging der Schlick ins Wasser eines Tümpels über, der sich sofort anschickte, mich in die Tiefe zu saugen. Ich drehte die Klinge, schnitt Stücke aus Hals, Brust und Bauch des Angreifers. Seine Gedärme quollen hervor, und er fiel in den Tümpel, wobei seine Hände versuchten, mich zu erreichen und Halt an mir zu finden. Ich riss mich los, stieß das Schwert in festeren Boden, zog mich daran unter Aufbietung all meiner Kraft aus dem Tümpel und blieb keuchend auf dem Rücken liegen. Deutlich hörte ich das Heulen und Knurren der anderen Toten, und die Flüche der Brüder, als sie gegen sie kämpften. Um mich herum reichten Schilf und Rohr wie Urwaldriesen in die Höhe und schwankten leicht unter einem blauen Himmel.

Als ich wieder zu Atem gekommen war und zur Lichtung zurückkehrte, war der Kampf vorbei.

»Row ist tot.« Mit einer Handvoll Schilf strich Makin über einige Kratzer in der Wange, was die Verletzung nur schlimmer machte. Aber vielleicht wollte er, dass die Kratzer bluteten.

»Ich habe ihn nie gemocht«, sagte ich. So etwas sagten wir auf der Straße, und in diesem Fall entsprach es der Wahrheit.

»Sorg dafür, dass nichts übrig bleibt, mit dem Chella spielen kann«, wandte ich mich an Kent.

Er machte sich daran, den ersten Angreifer zu köpfen. Jemand hatte ihm bereits die Arme abgeschlagen, und Schlamm füllte seinen Mund. Trotzdem bewegte sich das Geschöpf noch immer und starrte uns an.

Als ich sah, wie sich Makin um seine Wunden kümmerte, klopfte ich mich ab. Manchmal dauert es Stunden, bis man eine Verletzung bemerkt, die man sich im Kampf geholt hat.

»Mist«, sagte ich.

»Was ist?« Makin sah auf.

»Ich habe das Kästchen verloren.« Ich betastete noch einmal meine Hüfte, als könnte ich es beim ersten Mal übersehen haben.

»Freu dich, dass du es los bist«, sagte Makin.

Ich kehrte dorthin zurück, wo ich gegen den toten Schwertschlucker gekämpft hatte. Unterwegs suchte ich den Boden ab. Nichts. Schließlich erreichte ich den Tümpel.

»Es ist darin versunken«, sagte ich.

»Gut.« Makin war mir gefolgt.

Ich wandte mich ab. Es fühlte sich nicht richtig an, es einfach zu verlieren. Es fühlte sich nach etwas an, das ich behalten sollte, das Teil von mir war.

»Kent!«, rief ich. Er hielt mit hoch erhobener Axt inne, über Rows Leiche gebeugt.

»Lass ihn«, sagte ich.

Ich näherte mich und ging neben Row in die Hocke. Der Tod ist nicht hübsch, aus der Nähe gesehen. Der alte Kerl hatte seinen Darm entleert und stank noch schlimmer als zu Lebzeiten. Die roten und rosaroten Fetzen seiner Kehle hingen übers Schlüsselbein; weißes Knorpelgewebe reichte zum dunklen Loch in seiner Lunge. Rotz und dunkles Blut liefen ihm aus der Nase, und die Augen waren unnatürlich weit nach links gedreht.

»Ich bin noch nicht mit dir fertig, Bruder Row«, sagte ich.

Ich nahm seine Hände. Es ist nicht unbedingt unangenehm, die Hände eines Toten zu berühren, aber mir lief es dabei kalt über den Rücken. Schlaff und reglos lag er da; die Schwielen an den Innenflächen seiner Hände kratzten mir über die Haut.

»Was machst du?«, fragte Grumlow.

»Ich habe eine Aufgabe für dich, Bruder Row«, sagte ich.

Ich suchte nach ihm. Weit konnte er in diesen wenigen Minuten nicht gekommen sein. Ich fühlte das Pulsieren der Nekromantie in meiner unverheilten Brustwunde. Eine dunkle Hand schloss sich um mein Herz, und Kälte umhüllte mich.

Ich wusste, dass ich nur wenig Macht hatte, nur ein kleines Rinnsal, wie die Wasserbände in den breiten Schlickzonen. Aber es steckte noch Wärme in Row. Sein Herz schlug nicht, doch es zitterte und zuckte, und was noch wichtiger war: Ich kannte ihn, durch und durch. Ich hatte ihn nicht gemocht, aber ich kannte ihn.

Um einen Toten gehen zu lassen, muss man seine Haut tragen. Man muss darunterschlüpfen, seinen Herzschlag wie ein Echo im eigenen Leib hören, ihm die eigenen Gedanken geben.

Ich spuckte, wie Row es getan hatte. Ich hob den Kopf und beobachtete die Brüder aus zusammengekniffenen Augen, sah sie mit Rows Gefühlen, mit Sympathie, Ablehnung, Neid, altem Groll und den Erinnerungen an Schulden und Verpflichtungen.

»Bruder Row«, sagte ich.

Ich erhob mich. Wir erhoben uns. Er erhob sich.

Ich stand seiner Leiche direkt gegenüber, und er beobachtete mich von einem fernen Ort durch Augen, die einst ihm gehört hatten. Die Brüder schwiegen, als ich zum Tümpel zurückkehrte und Row mir folgte.

»Such es«, sagte ich.

Ich brauchte nicht zu erklären, was ich meinte. Wir trugen dieselbe Haut.

Row stapfte in den Tümpel und ließ sich von ihm aufsaugen. Ich ging in die Hocke und hielt Ausschau.

Row war ganz versunken, als ich plötzlich Stahl im Nacken fühlte. Ich drehte den Kopf und sah an der Klinge entlang.

»Mach das nie mit mir, auf keinen Fall«, sagte Makin. »Schwöre es.«

»Ich schwöre«, sagte ich.

Er musste mich nicht dazu drängen.