23

Hochzeitstag

Die Reise zurück zur Spukburg brachte uns über neues Gelände, ein neues, gebrochenes Land, übersät von zerfetzten Leichen. Hier und dort hörten wir das Stöhnen oder die Rufe von Überlebenden, unter dem Geröll begraben. Wir setzten den Weg fort, das Grau der Wache vom Staub erneuert, in den Gesichtern der Männer die Blässe von pulverisiertem Gestein und Entsetzen.

Das Heer des Fürsten umgab die Burg: Bogenschützen gingen auf den Anhöhen in Stellung, und Belagerungsmaschinen wurden herangebracht. Alle meine Soldaten hatten sich ins Innere der Burg zurückgezogen, obwohl es dort kaum Platz für sie gab. Außerhalb ihrer Mauern hielt sich niemand mehr auf – im Freien konnte man einem solchen Feind nicht widerstehen.

Ich beobachtete Bogenschützen, die in langen Kolonnen die Hänge herabkamen. Vermutlich waren sie angesichts unseres Vorrückens im Anschluss an das Massaker nach Osten beordert worden. Er lernte schnell, der Fürst. Er rechnete damit, dass ich erneut angriff. Und es war sehr unwahrscheinlich, dass er meine dreihundert Männer diesmal nur für ein unwichtiges Ärgernis halten würde.

»Er hat es bestimmt nicht eilig«, sagte Makin neben mir.

»Er wird zuerst die Mauern beschädigen und unsere Reihen lichten«, sagte Coddin.

»Er braucht nicht hinein, bis der Schnee kommt, der große Schnee«, sagte Hobbs. »Das dürfte sein Ziel sein. Die Burg nehmen, bevor der große Schnee kommt. Den Winter am warmen Feuer verbringen. Und durch die Pässe, wenn der Frühling sie passierbar macht.«

»Er will heute hinein«, erwiderte ich. »Spätestens morgen. Und er will durchs vordere Tor in die Burg.«

»Warum?«, fragte Coddin. Er widersprach nicht, wollte aber verstehen.

»Warum eine gute Burg vergeuden?«, antwortete ich. »Ein entschlossener Vorstoß, der uns zur Kapitulation zwingen soll. Ein bisschen Gnade, und er hat eine neue Feste, eine neue Garnison und nur wenige Reparaturen am Haupttor. Er macht ebenso wenig halbe Sachen wie ich. Energisch angreifen, schnell erledigen, was erledigt werden muss.«

»Ein bisschen Gnade?«, wiederholte Makin. »Glaubst du, die berühmte Gnade des Fürsten von Pfeil hat die jüngsten Ereignisse überlebt?«

»Vielleicht nicht«, sagte ich mit einem grimmigen Lächeln. »Aber ich beabsichtige auch gar nicht, darauf zurückzugreifen. Glaub mir, alter Freund: Diesmal kommt niemand mit dem Leben davon.«

»Roter Jorg.« Makin schlug sich mit der Hand auf die Brust, wie vor Jahren bei Remagen.

»Ein roter Tag.« Ich steckte zwei Finger in etwas, das vor wenigen Stunden gelebt und gelacht hatte, und strich mir eine rote Linie erst auf die rechte Wange und dann auf die linke.

Während wir nach unten ins Tal zurückkehrten, betasteten meine Finger das Kupferkästchen im Lederbeutel an meiner Hüfte. Den ganzen Tag hatte ich gefühlt, wie Sageous am Rand meiner Phantasie entlangkroch, wie er in die halben Träume und Tagträume schlüpfte, in die er Wege fand. Meine eigenen Quellen – ein Spionagenetz nicht annähernd so komplex wie seine Rivalen bei den Hundert – hatten mir mitgeteilt, dass dem Fürsten von Pfeil eine zweite Streitmacht zur Verfügung stand, viel kleiner als die vor meinen Toren, unterwegs nach Ankrath und zur Hohen Burg. Vermutlich sollte sie sicherstellen, dass die Truppen meines Vaters daheim blieben. Dass sich Sageous in meinen Träumen herumtrieb, konnte nur bedeuten, dass er sich auf die Seite des Fürsten gestellt hatte, nachdem die neue Machtverteilung klar geworden war. Vermutlich diente er ihm als Berater, mit der Absicht, ihn unter seine Kontrolle zu bringen.

Andererseits … Es war auch denkbar, dass sich der Traumhexer nach wie vor in der Hohen Burg befand. Vielleicht wollte Sageous meine Pläne in Erfahrung bringen, um sie dem Fürsten anzubieten und mit ihnen für meinen Vater Ankraths Unabhängigkeit zu kaufen. Wie auch immer, ich würde sie ihm nicht zeigen.

Ich nahm den Erinnerungsfaden, nach dem ich gesucht hatte, und zog daran. Die im Kästchen verstauten vorbereiteten Pläne erschienen mir immer als plötzliche Inspiration, als Momente der Erleuchtung, die bis dahin voneinander unabhängige Dinge in Zusammenhang brachten. Ich zog an dem Faden meiner Pläne, aber diesmal ging etwas schief. Trotz meiner Vorsicht öffnete sich das Kästchen einen Spaltbreit, und mit dem inneren Auge sah ich dunkles Licht unter dem Deckel hervorkommen. Sofort schloss ich das Kästchen wieder – mit einem leisen Schnick schnappte der Deckel zu.

Für einen langen Moment dachte ich, nichts sei daraus entkommen.

Dann trug mich die Erinnerung fort.

 

»Hallo, Jorg«, sagt sie, und meine klugen Worte verlassen mich.

»Hallo, Katherine.«

Und wir stehen zwischen den Gräbern, mit dem steinernen Mädchen und dem steinernen Hund zwischen uns. Blüten wirbeln wie rosarote Schneeflocken, als der Wind auffrischt, und ich denke an eine Glaskugel, vor langer Zeit zerbrochen, und frage mich, wie all dies zur Ruhe kommen wird.

»Du solltest nicht allein hierherkommen«, sage ich. »Es heißt, in diesen Wäldern treiben sich Räuber herum.«

»Du hast meine Vase zerbrochen«, sagt sie, und es freut mich, dass auch ihre Zunge zum Verräter geworden ist.

Ihre Finger kehren zu der Stelle zurück, wo ich sie geschlagen habe, wo die Vase zerbrach und sie fiel.

Ich habe die Menschen ins Grab gebracht, die ihr etwas bedeuteten, und sie spricht von einer Vase. Manchmal ist ein Schmerz so groß, dass wir uns an seinem Rand bewegen und nach einem Weg hinein suchen.

»Um ganz ehrlich zu sein, du hast versucht, mich zu töten«, sage ich.

Daraufhin runzelt sie die Stirn.

»Ich habe hier meinen Hund begraben«, sage ich. Sie bringt mich bereits dazu, dumme Dinge zu sagen und ihr Geheimnisse zu verraten, von denen sie eigentlich gar nichts wissen sollte. Katherine ist wie der Schlag an den Kopf, den ich von Orrin von Pfeil bekommen habe. Sie stiehlt mir die Vernunft.

»Hanna ist hier bestattet.« Sie zeigt auf ein Grab. Ihre Hand ist sehr weiß und zittert nicht.

»Hanna?«, frage ich.

Ein Schatten fällt auf ihr Gesicht, und die grünen Augen blitzen.

»Die Alte, die versucht hat, mich zu erdrosseln?«, frage ich und erinnere mich an ein violettes Gesicht, von grauem Haar umrahmt, meine Hände unter ihrem Kinn.

»Das. Hat. Sie. Nicht!«, sagt Katherine, aber jedes Wort ist leiser als das vorhergehende. Die Überzeugung verlässt sie. »So etwas würde sie nicht tun.«

Aber sie hat es getan, und das weiß Katherine.

»Du hast Galen getötet«, sagt sie, noch immer mit dem Blitzen in den Augen.

»Das stimmt«, räume ich ein. »Aber er war kurz davor, mir sein Schwert in den Rücken zu bohren.«

Das kann sie nicht leugnen. »Zum Teufel mit dir«, sagt sie.

»Du hast mich also vermisst?« Ich lächele, denn ich freue mich, sie wiederzusehen, die gleiche Luft zu atmen wie sie.

»Nein.« Aber ihre Lippen zucken, und ich weiß, dass sie an mich gedacht hat. Ich weiß es und bin absurd glücklich darüber.

Sie wirft den Kopf zurück, dreht sich um und geht langsam, wie auf der Suche nach ihren Gedanken. Ich beobachte die Wölbung ihres Halses. Sie trägt Reitkleidung aus Leder und Samt, in gedämpftem Braun und Grün. Der Sonnenschein findet hundert Rottöne in ihrem gewickelten Haar. »Ich hasse dich«, sagt Katherine.

Besser als Gleichgültigkeit. Ich folge ihr, komme näher.

»Himmel, du stinkst«, sagt sie.

»Das hast du auch bei unserer ersten Begegnung gesagt«, erwidere ich. »Wenigstens ist es ein ehrlicher Gestank von der Straße. Pferd und Schweiß. Ein besserer Geruch als der von Hofintrigen. Wenigstens für meine Nase.«

Sie riecht nach Frühling. Ich bin ihr jetzt nahe, und sie geht nicht mehr von mir fort. Ich bin ihr nahe, und es gibt eine Kraft zwischen uns, sie prickelt auf meiner Haut, unter den Wangenknochen, sie juckt mir in den Fingern. Das Atmen fällt mir schwer. Ich will sie.

»Du willst mich nicht, Jorg«, sagt Katherine, als hätte ich die Worte gesprochen. »Und ich will dich nicht. Du bist nur ein Junge, und ein böser obendrein.« Sie presst die Lippen zusammen, aber sie bleiben voll, werden nicht zu einer dünnen Linie.

Ich sehe die Kurven ihres Körpers und begehre sie mehr, als ich jemals etwas begehrt habe – und es gibt viele Dinge, nach denen es mich verlangt. Ich kann nicht sprechen. Meine Hände streben ihr entgegen, und ich muss sie zwingen, zu verharren.

»Warum solltest du überhaupt an der Schwester einer ›Scorron-Hure‹ interessiert sein?«, fragt Katherine, und die Falten kehren in ihre Stirn zurück.

Das entlockt mir ein Lächeln, und ich kann wieder sprechen. »Was? Ich muss jetzt vernünftig sein? Ist das der Preis dafür, erwachsen zu werden? Er ist zu hoch. Wenn ich die Frau, die meine Mutter ersetzt hat, nicht abscheulich finden darf, wenn mir kindische Schmähungen verboten sind … Dann, so muss ich sagen, ist mir der Preis zu hoch.«

Erneut zucken ihre Lippen in der Andeutung eines Lächelns. »Ist meine Schwester eine Hure?«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Hinweise, die dafür oder dagegen sprechen«, sage ich.

Katherine lächelt ein kurzes, knappes Lächeln, wischt sich die Hände an ihrem Gewand ab und sieht zu den Bäumen, wie auf der Suche nach Freunden oder Feinden.

»Vernünftig würdest du mich nicht wollen«, sage ich.

»Ich will dich überhaupt nicht«, sagt sie.

»Es sind nicht die Vernünftigen, die der Welt Form geben«, füge ich hinzu. »Die Welt ist ein Dieb, ein Betrüger, ein Mörder. Um in ihr zu bestehen, muss man sie übertreffen.«

»Ich sollte dich wegen Hanna hassen«, sagt Katherine.

»Sie hat versucht, mich zu töten.« Ich gehe zu dem Grab, auf das Katherine gezeigt hat. »Soll ich mich bei ihr entschuldigen? Ich kann mit den Toten sprechen, weißt du.«

Ich bücke mich und pflücke eine Glockenblume, eine Blume für Hannas Grab, aber der Stängel verwelkt in meiner Hand, und aus dem Blau wird Schwarz.

»Du solltest tot sein«, sagt Katherine. »Ich habe die Wunde gesehen.«

Ich ziehe das Hemd hoch und zeige es ihr. Die dunkle Linie dort, wo sich mir die Klinge meines Vaters in den Leib gebohrt hat, die finsteren Wurzeln, die von jener Stelle ausgehen und mein Fleisch durchdringen, bis zum Herz reichen.

Katherine bekreuzigt sich, ein schneller Schutz. »Es steckt Böses in dir, Jorg«, sagt sie.

»Vielleicht«, sage ich. »Es steckt Böses in vielen Menschen, in Männern wie Frauen. Ich zeige es nur deutlicher als andere.«

Aber ich werde nachdenklich. Erst Corion, dann das Herz des Nekromanten. Ich könnte ihnen meine Exzesse zur Last legen, aber etwas sagt mir, dass ich für meine Fehler selbst verantwortlich bin.

Sie beißt sich auf die Lippe, weicht zurück, strafft dann die Schultern. »Jedenfalls, ich habe mein Herz einem guten Mann geöffnet.«

So klug und gerissen ich auch sein mag, daran habe ich nicht gedacht. Ich habe nicht daran gedacht, dass Katherine Augen für einen anderen Mann haben könnte.

»Wen meinst du?«, frage ich hilflos.

»Prinz Orrin«, sagt Katherine. »Den Fürsten von Pfeil.«

Und ich falle.

 

Fluchend prallte ich auf den steinigen Boden und schürfte mir die Hand auf; wenigstens blieb mein Gesicht verschont. Makin zog mich wieder auf die Beine. »Könige fallen auf dem Schlachtfeld, nicht auf dem Weg dorthin«, sagte er.

Ich brauchte einen Moment, um die Erinnerung abzuschütteln. Nun, es gibt kaum etwas Besseres als eine harte Begegnung mit dem Boden und Blut an den Händen, um einen Mann in die Gegenwart zurückzuholen. Die Berge, bevorstehender Schnee und eine aus vielen Tausend Soldaten bestehende feindliche Streitmacht – echte Probleme, keine unangenehmen Erinnerungen, die besser vergessen bleiben sollten.

»Es ist alles in Ordnung mit mir.« Ich klopfte auf den Lederbeutel an meiner Hütte. Das Kästchen war noch da. »Lasst uns diesen Pfeil brechen.«