15
Vier Jahre zuvor
Gog hatte in den trockenen Schluchten des Berglands von Kentrow einen schlimmen Traum. So schlimm war er, dass er uns fortjagte, uns über die schwelenden Decken wanken ließ, als um uns herum Flammen züngelten. Wir suchten die Pferde im Dunkeln und stolperten über jeden Stein und jeden Strauch, während das Ende des Tals in blutrote Hitze getaucht war.
»Wir werden ein knuspriges kleines Monstrum finden, wenn wir hierher zurückkehren«, sagte Rike. Der Schein des Feuers verlieh seinem Gesicht dämonische Züge.
»Er hat sich noch nie selbst verbrannt«, brummte Grumlow, der neben Rike winzig wirkte.
Vor uns, dem Feuer näher, als es uns lieb oder auch nur möglich gewesen wäre, stand Gorgoth und wartete auf eine Gelegenheit zur Rückkehr. Seine Silhouette vor dem Lodern hatte etwas beunruhigend Spinnenhaftes – man hätte die offenen Rippen für aus den Seiten ragende Beine halten können.
Der junge Sim kam mit Brath und seinem eigenen Gaul. »Bei einer Reise im Winter wäre er nützlicher.« Er nickte in Richtung der Flammen, zuckte dann die Schultern und brachte die Pferde weg. Damit konnte er gut umgehen, mit Pferden. War einmal der Stalljunge irgendeines Adligen gewesen. Hatte als Kind Zeit in einem Bordell verbracht, wo er kein Geld ausgab, sondern welches verdiente.
Wir schlugen ein neues Lager auf und warteten darauf, zu sehen, was vom alten übrig war.
Als ich mit Gorgoth zurückkehrte, war der Himmel noch immer dunkel. Das Felsgestein knackte beim Abkühlen, und ich fühlte die Hitze durch die Sohlen meiner Stiefel. Maical begleitete uns. Er schien die Leucrota zu mögen.
Wir fanden Gog friedlich schlafend, in einem geschwärzten Bereich, der einem heruntergebrannten Lagerfeuer ähnelte. Ich hielt die einzige Laterne, die uns geblieben war, vors Gesicht des Jungen, woraufhin er die Augen fester zusammenkniff und sich auf die andere Seite rollte. »Tut mir leid, dich zu stören.« Ich schnaubte, ging in die Hocke … und richtete mich sofort wieder auf, mit verbranntem Hintern.
»Er verändert sich«, sagte Gorgoth.
Das hatte ich ebenfalls bemerkt. Aus dem getüpfelten Schwarz und Weiß seiner Haut war ein grimmiger anmutendes Scharlachrot-auf-Grau geworden. Er wirkte insgesamt flammenartiger, als hätte das Feuer irgendwie einen festen Platz in Haut und Gestalt gefunden.
Wir schliefen, die Brüder und ich beim neuen Lagerplatz und Gorgoth und Gog in der Asche des alten. Am Morgen kamen sie zu uns, und Gog lief zum Lagerfeuer, als sei es etwas Neues, das er zum ersten Mal sah. Die Flammen züngelten höher und veränderten die Farbe, als er sich näherte, und das Wasser in Rikes Töpfen begann zu kochen, obwohl er es gerade aus dem Fluss geholt hatte.
»Kannst du sie nicht sehen?«, fragte Gog, als Gorgoth ihn zurückzog.
»Nein«, sagte ich und folgte ihnen fort vom Lager. »Und du solltest ›sie‹ auch nicht sehen. Bald treffen wir uns mit einem Mann, der über solche Dinge Bescheid weiß. Bis dahin bleib … cool.«
Ich setzte mich zu ihnen, ein Stück tiefer in der Schlucht. Wir spielten Steinwurf und Kreuzstäbchen. Mit acht, so scheint es, kann man alles abstreifen, zumindest für eine Weile. Gog lachte, wenn er gewann, und lächelte, wenn er verlor. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ohne den festen Willen zum Sieg gespielt zu haben, aber ich nahm ihm seine Unbekümmertheit nicht übel. Wenn einen der Ehrgeiz fest im Griff hat, fällt es einem schwer, sich einfach nur am Gegenwärtigen zu erfreuen.
»Guter Junge.« Maical gab Gog die Stäbchen zurück, die er eingesammelt hatte, ein kleines Bündel in seiner schwieligen Hand. »Schlechte Träume.«
Ich runzelte die Stirn. Gorgoth grollte leise.
»Wir sind langsam erwacht …«, sagte ich. »Es hätte schlimm enden können.« Ich erinnerte mich an das Gefühl der Hitze, an den Brandgeruch und mein Bemühen, mich aus den eigenen Albträumen zu befreien.
Gorgoth und ich fanden die Antwort im selben Moment, aber er sprach sie vor mir aus: »Sageous.«
Ich nickte und begriff, wie dumm ich gewesen war. Coddin hatte recht: Viele Hände würden versuchen, eine Waffe wie Gog zu ergreifen. Schon zweimal hatte der Traumhexer diese Macht gegen mich benutzt. Es gelang ihm nicht, mich mit meinen eigenen Träumen zu töten, und deshalb benutzte er Gogs.
»Ein Grund mehr, den Weg fortzusetzen.« Ich hätte »Alle guten Dinge sind drei« sagen können, aber es ist dumm, das Schicksal herauszufordern – es sei denn, man hat ein Schwert, das scharf genug ist, es zu töten.
Nach dem Frühstück ritten wir los und näherten uns Remagen. Wenn man das Bergland von Kentrow verlässt und sich dem Fluss nähert, findet man eine kleine Festung auf einer Anhöhe. Von dort aus hat man einen guten Blick auf die Straße zur Stadt. Wir sahen den Reim als glitzerndes Band hinter der Festung, und ich glaubte, in der Ferne die Brückenpfeiler zu erkennen.
Kent und Maical flankierten mich an der Spitze unserer Gruppe, als wir langsam zur Festung ritten. Gog hielt sich an mir fest, und Gorgoth trottete in der Nähe. Makin und Rike befanden sich hinter uns und lachten leise. Makin konnte selbst Rike zum Lachen bringen, wenn er sich Mühe gab. Anschließend kamen Grumlow, dann Sim und Row. Vielleicht erschreckte Gorgoth die Männer in der Festung, obwohl sie aus dieser Entfernung nicht richtig sehen konnten. Wie auch immer, im einen Moment hatte ich Kent rechts von mir und Maical auf der linken Seite, und dann war der Sattel des Grauschimmels plötzlich leer.
Ich drehte Brath und sprang zu Boden, als die anderen verwirrt vorbeiritten. Es musste ein Glückstreffer gewesen sein. Die Distanz zwischen uns und der Festung war so groß, dass ein guter Bogenschütze mit einem Langbogen froh sein konnte, ein Haus zu treffen. Doch da war er, das fedrige Ende am Hals, und das andere mit der Spitze ragte blutig ein ganzes Stück aus der gegenüberliegenden Seite. Als ich neben Maical auf ein Knie sank, richtete er einen überraschend klaren Blick auf mich.
»Zeit zu sterben, Bruder Maical.« Ich wollte ihn nicht belügen und nahm seine Hand.
Er beobachtete mich und sah mir in die Augen, als die anderen ihre Pferde ebenfalls drehten und zu rufen begannen.
»König Jorg«, sagte er, aber lautlos, mit Blut, das ihm aus den Mundwinkeln rann. Er sah seltsam aus mit dem zur Seite gerutschten Helm und mit einem sonderbaren Licht in ihm, als ob der Sturz das, was sein ganzes Leben lang in ihm gebrochen gewesen war, plötzlich in Ordnung gebracht hatte. Er hatte mich noch nie »König« genannt und immer nur »Bruder« geschafft.
»Bruder Maical«, sagte ich. Ich hatte viele Brüder verloren, dabei aber nur wenigen von ihnen in die Augen geschaut. Die Kraft wich aus seiner Hand. Er hustete Blut und starb.
»Was zum Teufel?« Makin sprang von seinem Pferd.
Die glänzende Pfeilspitze hielt meine Aufmerksamkeit fest. Ein Tropfen Blut hing an ihr, und darin zeigte sich das Abbild eines kleinen Kindes, von der Wölbung ein wenig verzerrt. Ich sah ein rotes Messer und Katherine zwischen den Gräbern.
»Hallo, Jorg«, hatte sie gesagt.
»Er tot.« Kent kniete ebenfalls neben Maical. »Wie?« Der Pfeil war deutlich zu sehen, schien die Frage aber nicht zu beantworten.
Ich stand auf, ging an Makins Pferd vorbei und zog den Schild von seinen Satteltaschen. Ich blieb in Bewegung, ging weiter. Eine Kälte kroch durch mich und prickelte auf meinen Wangen. Ich nahm die Armbrust des Nubiers von ihrem Platz auf Braths Rücken und überprüfte sie.
»Jorg?« Kent stand auf.
»Ich gehe hinein«, sagte ich. »Niemand kommt lebend heraus. Ist das klar? Wenn mir jemand folgt, werde ich ihn töten.« Ich stapfte weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
Hundert Meter weit kam ich, bevor der zweite Pfeil fiel und mich weit auf der linken Seite verfehlte. Der Schuss, der Maical getötet hatte, musste wirklich ein Glückstreffer gewesen sein, ohne jede Hoffnung des Schützen, dass der Pfeil sein Ziel erreichte. Ich schlang mir die Armbrust des Nubiers über die Schulter. Dünne Bänder hielten die Bolzen an ihrem Platz.
Vier Männer sah ich jetzt auf dem Wehrgang. Noch einmal fünfzig Meter, und mehrere Pfeile kamen von ihnen. Ich hob den Schild. Ein Pfeil traf ihn und zeigte seine Spitze an der Innenseite. Die anderen klapperten um mich herum zwischen den Felsen.
Es war keine große Festung, mehr ein Wachpunkt. Dreißig Soldaten hätten sie Ellenbogen an Ellenbogen gefüllt, und es schien viele Jahre her zu sein, dass es dort eine volle Garnison gegeben hatte.
Als ich in guter Reichweite war, schienen die Männer dort oben ihrer Sache sehr sicher zu sein. Ein einzelner Krieger schlenderte zu den anderen, jemand, der nicht älter als sechzehn zu sein schien, und von der anderen Seite kamen drei weitere. Keine Soldaten, keine Uniformen, ein bunt gemischter Haufen. Weitere Leute blickten durchs Fallgatter.
»Wollt ihr mich nicht hereinlassen?«, rief ich ihnen zu.
»Wie geht es deinem Freund?«, rief ein Dicker vom Wehrgang. Die anderen lachten.
»Es geht ihm gut«, sagte ich. »Etwas hat sein Pferd erschreckt, und er fiel. Aber er wird wieder auf den Beinen sein, sobald er zu Atem gekommen ist.« Ich spähte über den Schild hinweg und zog den Pfeil heraus. »Möchte den jemand zurück?« Ich war vollkommen ruhig und gelassen, und gleichzeitig fühlte ich, wie etwas auf mich zukam, eine Sturmbö, die unter einem dunklen Himmel übers Grasland fauchte.
»Na klar.« Einer von den fünf oder sechs Burschen hinter dem Tor schnaubte und drehte das Rad. Das Fallgatter kam langsam nach oben, während die Kette in ihren Führungen rasselte. Die dicken Muskeln an den Armen des Mannes glänzten weiß durch den Schmutz, als er sich anstrengte.
Ich beobachtete, wie zwei der Männer auf dem Wehrgang einen Blick wechselten. Wahrscheinlich wollten sie mehr von mir als nur den Pfeil. Ich ging langsam los, um das Tor zu erreichen, wenn das Fallgatter hoch genug war, damit ich mich nicht darunter bücken musste. Der Gestank des Ortes nach all den Nächten im Freien trieb mir Tränen in die Augen.
Das Unwetter, das mir aus einer verborgenen Wüste in meinem Geist entgegenraste, erreichte mich in dem Moment, als ich die Festung betrat. Ich bot dem nächsten Mann den Pfeil an, einem dünnen Burschen, der ausgerechnet die Axt eines Scharfrichters in der Hand hielt. Er streckte die Hand nach dem Pfeil aus, und ich rammte ihm das Ding ins Auge.
Ein stiller Moment folgt, wenn so etwas geschieht, wenn der Pfeil aus einem Auge ragt, dessen Besitzer erst noch schreien muss. Männer, die in solchen stillen Momenten handeln, leben länger. Von den Kriegern hinter dem Tor bewegte sich nur einer, bevor der Mann mit dem Pfeil im Auge schrie, aber ich war schneller, packte ihn am Handgelenk und rammte Makins Schild gegen seinen Ellenbogen. Dann drehte ich ihn am ausgestreckten Arm, damit er gegen den nächsten Mann stieß, bevor er an die Mauer prallte. Schnelle Männer leben oft länger, aber manchmal kommen sie dadurch nur als erste an die Reihe.
Ich wich zurück, bis fast zum Fallgatter, das sich zu senken begann, schüttelte die Armbrust des Nubiers von der Schulter und ließ sie mir von ihrem eigenen Gewicht in die Hand gleiten. Dort kam sie nach oben, und ich drückte beide Abzüge, ohne zu zielen. Die beiden Bolzen trafen denselben Mann, was auf Verschwendung hinauslief, aber er war von ihnen allen auch am besten gepanzert, und die Armbrust des Nubiers schuf zwei große Löcher in dieser Panzerung.
Dicht hinter mir knallte das Fallgatter auf den Boden, und die von ihm verdrängte Luft strich mir über den Nacken. Noch vier Männer vor mir. Der Große am Gatterrad wollte sein Schwert ziehen, und ein weiterer, der unverletzt auf dem Boden lag, kam auf die Beine. Sie konnten Brüder sein, beide mit zotteligem Haar und faulenden Zähnen, und beide griffen an. Damit trafen sie die richtige Entscheidung. Wenn man zahlenmäßig überlegen ist, sollte man den Feind packen, bevor er seine Klinge in die Hand bekommt.
Ich stieß mich vom Fallgatter ab, wodurch ich ein wenig schneller wurde. Die Angreifer hatten beide den Vorteil des Gewichts, aber wenn man sich mit seinem Schild nach vorn wirft, und zwar so, dass die eiserne Kante eine nützliche Stelle trifft, zum Beispiel die Kehle, bekommt man selbst einen Vorteil, ungeachtet des eigenen Gewichts.
Es steckte keine Furcht in mir, nur der Wunsch zu töten. Etwas zitterte und zappelte in mir, ein Etwas, das sich vielleicht mit genug Blut wegspülen ließ.
Einer der beiden hässlichen Burschen ging direkt vor mir zu Boden, bespritzte mich mit Blut, Rotz und Zahnsplittern. Der andere ragte vor uns auf, als ich Grumlows Messer aus dem Stiefel zog.
Messerkampf ist eine rote Angelegenheit, Brüder. Mit dem Messer schneidet man nahes Fleisch, bis auf die Knochen, und man schwimmt in dem, was herausströmt. Die Schreie füllen das Ohr, und der Schmerz zittert in der Klinge. Ich könnte behaupten, dass ich mich an alles erinnere, doch es wäre nicht die Wahrheit. Ein Zorn packte mich, malte die Welt scharlachrot und heulte, während ich tötete. Ich habe eine Version des Moments, als ich das Tor verließ und zum ersten Mal mein Schwert zog, während die Reste der Garnison zwei schmale Treppen links und rechts herabkamen. Die Männer, die mich zuerst erreichten, wollten zurückweichen, aber die anderen versperrten den Weg und schoben von hinten.
Ich habe diese Männer nicht für Maical getötet, oder für die Lust am Gemetzel, auch nicht wegen der stolzen Legende von König Jorg. Wie Gog habe ich ein Feuer, das in mir brennt, und manchmal genügt ein Funke, um es außer Kontrolle geraten zu lassen. Vielleicht war das der wahre Grund, warum ich mich durch fremde Länder auf den Weg gemacht hatte, um diesen Feuermagier für mein kleines Ungeheuer zu finden. Vielleicht wollte ich wissen, ob solche Feuer beherrscht werden können, ob sich irgendwie verhindern lässt, dass sie uns beide verbrennen.
Ich überlebte meine Torheit, doch vierzehn Männer überlebten sie nicht. Halb trunken vor Erschöpfung wankte ich durchs Tor und kehrte nach draußen zurück. Die Brüder verließen ihre Posten vor der Festung und folgten mir zu den Pferden.
»Jorg«, sagte Makin.
Ich drehte mich um, und sie blieben stehen.
»Roter Jorg«, sagte der Rote Kent und schlug sich mit der Hand auf die Brust.
»Roter Jorg«, brummte Rike und stampfte mit dem Fuß.
Gorgoth stampfte ebenfalls, mit einem größeren Fuß. Makin zog sein Schwert und klopfte damit auf seinen Brustharnisch. Die anderen stimmten mit ein, jeder auf seine Weise. Ich sah an mir herab und stellte fest, dass kein Teil von mir ohne Blut war. Von Kopf bis Fuß war ich mit dem Blut anderer bedeckt und so rot wie Kent an jenem Tag, als wir ihn fanden. Und ich begriff plötzlich, warum er nicht darüber reden wollte.
Ich ging zu Maical und nahm seine Axt aus den Gurten des Grauschimmels. »Wir legen ein Steingrab für ihn an«, sagte ich. »Und wir legen die Köpfe der Festungsmänner an seinen Rand, damit sie es bewachen.« Ich warf die Axt Rike zu. Er fing sie und machte sich ohne ein Wort auf den Weg zur Festung. Ich glaube, dieses eine Mal dachte er nicht vor allem an Plünderung und Beute.
Wir legten das Steingrab an. Gorgoth brachte Felsen, die kein einzelner Mann hätte rollen können. Ich weiß nicht, ob es Maicals Wunsch gewesen wäre – oder ob er in dieser Hinsicht überhaupt eine Meinung gehabt hätte –, sein Grab von vierzehn Köpfen bewachen zu lassen, aber wir legten sie trotzdem hin, als Ehrenwache. Ich weiß nicht, was Maical sich gewünscht hätte. Ich war ihm nie nahe gewesen, bis zu seinem letzten Moment. Sein Tod ging mir nahe, und das überraschte mich.