16

Vier Jahre zuvor

Man kann sieben Schattierungen aus einem Mann schneiden. Scharlachrotes Arterienblut, Violett von den Venen, Galle wie frisch geschnittenes Gras, Brauntöne aus den Eingeweiden. Doch getrocknet liegt alles zwischen Rost und Teer. Zeit für den Roten Jorg, zu einem Bach zu gehen und die Männer der Festung von sich abzuwaschen. Ich beobachtete, wie der Schmutz von mir wich, wie ihn das Wasser rosarot forttrug.

»Was sollte das alles?«, fragte Makin und näherte sich mir.

»Sie haben meinen Idioten getötet«, sagte ich.

Makin zögerte. Mir gegenüber zögerte er oft, vielleicht deshalb, weil ich ihn verwirrte. »Wir haben dir gesagt, er sei in Norwood gestorben, und du hast nicht einen Moment für ihn übrig gehabt«, sagte Makin. »Wieso jetzt? Die Wahrheit, Jorg.«

»Was ist Wahrheit?«, erwiderte ich und wusch mir das letzte Blut von den Händen. »Pilatus hat das gesagt, weißt du? ›Was ist Wahrheit?‹«

»Na schön, dann sag es mir nicht«, brummte Makin. »Aber wir müssen die Brücke rasch überqueren, bevor dies bekannt wird.«

Ich richtete mich auf und schüttelte Wasser aus dem Haar. »Ich bin bereit. Reiten wir los.«

Mit den Brüdern im Sattel und auf der Straße stattete ich dem Steingrab einen letzten Besuch ab. Nekromantie pulsierte in meiner Brust, als ich darauf zuging, ein Echo des Schmerzes, den mir das Messer meines Vaters gebracht hatte. Ein Echo all der verschiedenen Arten von Schmerz, die ich in jenem Moment gefühlt hatte, als mich mein eigener Vater niederstach und die Kraft aus mir strömte, rot und warm. Raben stiegen von den Köpfen auf und flogen fort, als ich mich näherte. Stumm stand ich vor dem kleinen Hügel aus trockenen Steinen und Felsen, und wusste nicht recht, wie ich mich fühlte. Ich bemerkte die gelben Flecken von Flechten, eine Quarzader in einem Felsbrocken, dunkle Spritzer aus geronnenem Blut. Die Köpfe schienen mich zu beobachten, als ob ihre von den Raben ausgepickten Augen alle in meine Richtung starrten. Und dann gab es kein »als ob« mehr, als ich langsam um das Steingrab herumging, denn jeder Kopf drehte sich, damit mir sein Blick folgen konnte. Den ersten Mann hatte ich mit einem Pfeil ins Auge getötet. Der Pfeil zitterte, als er versuchte, mich auch mit jenem Auge anzusehen. Ich hielt den Blick des zweiten Auges fest.

»Jorg.« Die Lippen formten meinen Namen.

»Chella?«, fragte ich. Wer konnte es sonst sein? »Ich dachte, ich hätte dich tief genug begraben.« Für einen Moment sah ich, wie sie in den Schacht fiel und den Nubier mit sich zog, nachdem ich sie beide mit der Armbrust erschossen hatte.

Das gleiche Lächeln zeigte sich auch auf den Lippen der anderen Männer.

»Ich werde dich finden, Schlampe«, sagte ich leise. Sie hatte genug Ohren, um mich zu hören.

Das Lächeln der Köpfe wurde größer, sie zeigten ihre Zähne. Lippen bewegten sich und schienen die Worte »Toter König« zu formen.

Ich zuckte die Schultern. »Viel Spaß mit den Raben.« Und ich ging. Welche Macht auch immer hier am Werke war, ich bezweifelte, dass sie Maical unter so vielen Steinen stören konnte.

 

Wir setzten den Weg fort, nachdem wir uns aus der Festung mit neuen Vorräten versorgt hatten, als Ersatz für jene, die vergangene Nacht in Gogs Feuer verbrannt waren. Remagen schmiegte sich an beide Ufer des Reim, eine kleine, von Schutzwällen umgebene Stadt. Rauch stieg aus den Schornsteinen zahlreicher Häuser, die wohlgeordnete Straßen säumten. Meine Aufmerksamkeit galt vor allem der Brücke. Bisher hatte ich Brücken nicht für elegant gehalten, aber diese hing glitzernd zwischen zwei silbernen Türmen, höher als die Spukburg. Sie schien an etwas aufgehängt zu sein, das nach glänzenden Drähten aussah, aber in Wirklichkeit mussten es Kabel so dick wie ein Mann sein.

Eine halbe Stunde später standen wir vor dem Stadttor und warteten hinter Krämern, Händlern mit Wagen und Bauern, die Kühe führten oder Enten und Hühner auf Karren transportierten. Wir verstauten unsere Waffen so an den Pferden, dass man sie nicht auf den ersten Blick sah, aber wir blieben natürlich ein ziemlich rauer Haufen.

Gorgoth zog viele Blicke auf sich, aber das übliche Gekreische und Weglaufen blieb aus.

»Bestimmt gehört ihr zum Zirkus«, sagte der Bauer mit den Enten in Käfigen aus Flechtwerk. Er nickte, als wollte er die eigenen Worte bestätigen.

»Ja, das stimmt«, sagte ich, bevor Rike etwas brummen konnte. »Ich jongliere«, fügte ich hinzu und schenkte dem Bauern mein Lächeln.

Die Männer am Tor gehörten zur gleichen bunt zusammengewürfelten Truppe wie die Wächter der Festung. Die freie Stadt hatte keine Soldaten, erzählte Row, nur eine lockere Miliz, bestehend aus Leuten, die der Bürgermeister für ein oder zwei Monate zum Dienst verpflichtete, wonach sie ins zivile Leben zurückkehren konnten.

»Dir einen guten Tag.« Ich ergriff einen Mann an den Schultern, der in jeder anständigen Stadt Hauptmann des Tores gewesen wäre, und grinste so, als wären wir seit vielen Jahren die besten Freunde. »Jorg der Rote und seine reisenden Spieler. Wir gehören zum Zirkus. Ich jongliere. Möchtest du sehen?«

»Nein«, sagte der Mann und versuchte, meine Hände abzuschütteln. Es war im Großen und Ganzen eine gute Antwort, da ich nicht jonglieren kann.

»Weiter«, sagte er und wandte sich an den Kesselflicker hinter uns.

Ich trat durch die Lücke zwischen zwei Wächtern – »Soll ich für euch jonglieren? Nein?« – und durchs Tor.

»Zur Brücke geht es dort entlang«, sagte Makin und zeigte den Weg, wie er es auch bei der Abzweigung getan hatte. Als ob die Brücke nicht sechzig Meter hoch gewesen wäre und in der Morgensonne geglitzert hätte.

»In der Tat«, erwiderte ich. »Aber wir gehören zum Zirkus.« Und ich führte die Brüder nach rechts, ohne auf das bunte Zeltdach über den Häusern zu zeigen. »Ich jongliere.«

Wir mussten uns mit den Ellenbogen einen Weg bahnen, bevor wir klare Sicht auf das Zirkuszelt bekamen. Zu Hunderten waren die Bürger von Remagen auf den Beinen und füllten die Straßen in der Nähe des Zirkus’. Sie kamen aus Tavernen und drängten sich an den kleineren Zelten und Buden, die die Hauptattraktion umgaben.

»Es muss Sonntag sein«, sagte Sim und grinste wie ein Junge, was er nach den meisten Berichten auch war.

Rike trat nach vorn, zum Hauptzelt. Wie bei Sim leuchtete Erwartung in seinem Gesicht, jene Art von Licht, die ihm der Anblick des Spielzeugclowns in der Spukburg geschenkt hatte. Ich war nicht der einzige, der sich daran erinnerte.

»Taproot?«, fragte Makin und runzelte die Stirn.

Ich nickte. »Darauf läuft es wohl hinaus.«

»Ausgezeichnet«, sagte Kent. Er hatte sich irgendwo drei Zuckerstangen besorgt und versuchte, sie alle gleichzeitig in den Mund zu bekommen.

Wir erreichten das große Zelt und stellten fest, dass der Haupteingang geschlossen war, ebenso der kleinere Nebeneingang an der Seite. Ein Mann und ein Junge saßen vor der Tür im Staub, über ein hölzernes Spielbrett mit schwarzen und weißen Steinen gebeugt, die in verschiedenen Mulden lagen.

»Die Vorstellung beginnt erst bei Sonnenuntergang«, sagte der Mann, als mein Schatten auf das Spielbrett fiel. Er sah nicht auf.

»Du hast Mancala in drei, wenn du nicht von der Augenmulde spielst, sondern von der Endmulde«, sagte ich.

Darauf hob er den kahlen Kopf, der auf einem ziemlich dicken Hals ruhte. »Beim heiligen Jesus! Es ist der kleine Jorg!«

Er stand auf, packte mich unter den Armen, warf mich einen Meter hoch und fing mich dann wieder auf.

»Ron«, sagte ich. »Früher warst du stark.«

»Sei fair.« Er grinste. »Du bist doppelt so groß.«

Ich zuckte die Schultern. »Die Panzerung wiegt auch noch einiges. Hat mir aber die Rippen bewahrt!« Ich winkte die anderen näher. »Erinnerst du dich an den Kleinen Rikey?«

»Natürlich. Makin, wie schön, dich wiederzusehen. Grumlow.« Ron sah Gorgoth. »Und wer ist der große Bursche?«

»Zeig’s ihm«, sagte Rike und gluckste wie ein Kind. »Zeig’s ihm.«

»Später.« Ron lächelte. »Die Hanteln sind alle verstaut. Außerdem, mir scheint, euer Freund könnte mich aus dem Geschäft drängen.«

Ron, beziehungsweise der erstaunliche Ronaldo, trat beim Zirkus als Kraftmensch und Muskelmann auf. Er hatte Rikes unsterblichen Respekt einfach nur dadurch gewonnen, weil er ein schweres Gewicht heben konnte. Es stimmt, dass die Natur Ron mit bemerkenswert vielen Muskeln ausgestattet hat, aber ich halte den Kleinen Rike trotzdem für den Stärkeren. Bei einer Tavernenschlägerei würde ich ohne zu zögern auf Rike setzen und nicht auf Ron. Aber wenn es um das Heben von Gewichten geht, so muss man richtig zugreifen und seine Kraft in einen Moment konzentrieren. Rike gab dort auf, wo Ron weitermachte.

»Wo können wir den guten Doktor Taproot finden?«, fragte ich.

Ronaldo führte uns durch die Seitentür und überließ es dem Jungen – einem Liliputaner, alt genug, um zu ergrauen –, auf unsere Pferde zu achten. Ich nahm die Armbrust des Nubiers. Dem Liliputaner traute ich es nicht unbedingt zu, irgendwelche Diebe zur Strecke zu bringen, und vielleicht wollte ich den einen oder anderen Zirkusclown erschießen. Nur so aus Spaß.

Wir gingen um die Arena in der Mitte, traten über Sägemehl und beobachteten drei Akrobaten bei ihren Saltos dort, wo die Sonne durch eine Öffnung in der hohen Mitte des Zeltes schien. Weiter hinten bildeten Planen Trennwände und schufen mehrere Räume. Dort stank es nach Tieren in Käfigen, und man hörte kehliges Knurren, das die Rufe der Akrobaten untermalte.

Taproot kehrte mir den Rücken zu, als Ron uns zu ihm führte. Zwei Tänzerinnen standen entspannt vor ihm und rollten gelangweilt mit den Augen.

»Schaut an!«, sagte Taproot. »Hüften und Brüste. Das füllt die Plätze. Und gebt euch den Anschein, als hättet ihr Freude darin, um Himmels willen. Schaut an.«

Er sprach mit den Händen, mit langfingrigen Händen, die oft über seinen Kopf flogen.

»Ich schaue dir zu«, sagte ich. Es heißt, Taproot hätte diese Angewohnheit aus seiner Zeit beim Drei-Becher-Spiel. Schaut an! Und dann zog er einem das Geld aus der Tasche.

Er drehte sich um, und seine Hände fuhren durch die Luft. »Wen hast du mir da gebracht, Ronaldo? Einen attraktiven jungen Burschen, o ja, mit Freunden draußen.«

»Jorg der Rote«, stellte ich mich vor. »Ich jongliere.«

»Ach, tatsächlich?« Seine Finger verharrten am Kinn. »Und womit jonglierst du, Jorg der Rote?«

Ich lächelte. »Was hast du?«

»Schau an!« Er holte eine dunkle Flasche aus den Tiefen seines Mantels, der viele Farben zeigte, alle verblasst. »Komm und setz dich. Bring deine Brüder herein, wenn sie hier alle Platz finden.« Mit einem kurzen Wink schickte er die Tänzerinnen fort.

Taproot zog sich hinter einen Schreibtisch in der Ecke zurück und nahm Gläser aus einer Schublade. Ich sank auf den einzigen anderen Stuhl, und hinter mir kamen Makin und die anderen herein.

»Ich schätze, du jonglierst noch immer mit Leben, Jorg«, sagte Taproot. »Heutzutage allerdings in zuträglicheren Umgebungen.« Er schenkte grüne Flüssigkeit in fünf Gläser, mit einer einzigen Bewegung und ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.

»Hast du von den Veränderungen bei mir gehört?« Ich nahm ein Glas entgegen. Der Inhalt sah nach Urin aus, nur etwas grüner.

»Absinth, Ambrosia der Götter«, sagte Taproot. »Schau an.« Und er leerte sein Glas in einem Zug, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Absinth? Ist das nicht das griechische Wort für ›untrinkbar‹?« Ich schnupperte daran.

»Zwei Goldstücke die Flasche«, sagte er. »Bei dem Preis muss es gut sein, oder?«

Ich nippte daran. Die Flüssigkeit hatte jene Art von Bitterkeit, die einem die Zunge abschält. Ich hustete unwillkürlich.

»Du hättest mir sagen sollen, dass du ein Prinz warst, Jorg. Ich wusste, dass dich immer etwas Besonderes umgab.« Mit zwei Fingern deutete er auf seine Augen. »Schau an.«

Meine Brüder kamen herein. Gorgoth duckte sich unter der Zeltplane hinweg, und Gog trippelte vor ihm. Taproot wandte den Blick von mir ab und lehnte sich zurück. »Oh, diese beiden Burschen könnte ich hier gut gebrauchen«, sagte er. »Auch wenn sie nicht jonglieren.« Er deutete auf die drei anderen Gläser. »Bedient euch, meine Herren.«

Es gibt eine Hackordnung auf der Straße, und es hilft, wenn man weiß, wie sie funktioniert. Oberflächlich gesehen mochten Taproots Geschäfte aus Sägemehl, Saltos sowie tanzenden jungen Frauen und Bären bestehen, aber er beschränkte sich nicht nur auf Unterhaltung. Dr. Taproot mochte es, Dinge zu verstehen.

Ein Moment verstrich. Die meisten hätten ihn nicht bemerkt, aber Taproot nahm ihr zur Kenntnis. Der Moment ließ die Brüder wissen, dass Makin nicht interessiert war. Rike nahm das erste Glas, der Rote Kent das nächste und Row das letzte. Row trank sofort und schmatzte genießerisch. Er hätte selbst Säure ohne ein Wort der Klage getrunken.

»Ron, warum nimmst du nicht Rike und Gorgoth und zeigst ihnen das Ding mit dem Fass?«, fragte ich.

Rike leerte sein Glas, schnitt eine Grimasse und folgte Ron nach draußen. Die Leucrota schlossen sich ihm an, und Gog bildete den Abschluss.

»Ihr anderen könnt ebenfalls gehen und euch umsehen. Vielleicht habt ihr Gelegenheit, in der Arena den einen oder anderen neuen Trick zu lernen.« Ich nippte erneut an meinem Glas. »Selbst bei einem Preis von zwanzig Goldstücken pro Flasche würde mir der Geschmack nicht gefallen.«

Die anderen gingen, ließen Taproot und mich allein zurück. Über den Schreibtisch hinweg musterten wir uns im schwachen Licht der durch die Zeltplanen scheinenden Sonne.

»Ein Prinz, Jorg? Schau an!« Taproot lächelte, und eine Sichel aus Zähnen erschien in seinem schmalen Gesicht. »Und jetzt ein König?«

»Ich hätte mir auch dann einen Thron schaffen können, wenn ich dem Schoß einer anderen Frau entschlüpft wäre«, sagte ich. »Als Sohn eines Tischlers, im Stall geboren, hätte ich mir einen aus Holz geschnitzt.«

»Daran zweifle ich nicht.« Wieder das Lächeln, eine Mischung aus Wärme und Berechnung. »Erinnerst du dich an unsere Zeiten, Jorg?«

Ja, ich erinnerte mich daran. Fröhliche Tage sind auf der Straße selten. Und jene Tage, die wir zusammen mit den Leuten vom Zirkus unterwegs gewesen waren, hatten für einen zwölfjährigen Jungen einen goldenen Glanz.

»Der Fürst von Pfeil«, sagte ich. »Erzähl mir von ihm.«

»Ein großer Mann, dem Vernehmen nach«, erwiderte Taproot. Er drückte die Fingerspitzen aneinander und hob sie an die Lippen.

»Und deinem Vernehmen nach?«, fragte ich. »Du bist ihm doch sicher begegnet, oder?«

»Ich bin allen begegnet, Jorg«, sagte Taproot. »Das weißt du. Schau an.«

Ich hatte nicht gewusst, dass ich Taproot mochte.

»Selbst deinen Vater habe ich kennengelernt«, sagte er.

Ich bin, was diese Dinge betrifft, selten unsicher, aber Taproot mit seinem »Schau an« und seinen sprechenden Händen, mit einem ganzen Leben wie eine große Vorstellung und mit seinen Geheimnissen? Es ist schwer, einen Mann zu durchschauen, der so viel durchschaut. »Der Fürst von Pfeil«, sagte ich.

»Er ist ein guter Mann«, antwortete Taproot schließlich. »Er meint, was er sagt, und was er sagt, ist gut.«

»Die Welt verspeist gute Männer zum Frühstück«, sagte ich.

»Vielleicht.« Taproot zuckte die Schultern. »Aber der Fürst ist ein Denker, ein Planer. Und er hat Geld. Die florentinischen Bankclans mögen ihn. Frieden ist gut fürs Geschäft. Er bereitet sich vor. Die Moore fielen an ihn, bevor der Winter kam, und bald werden ihm weitere Throne gehören. Schau an. In einigen Jahren steht er vor unseren Toren, wenn ihn niemand aufhält. Und auch vor den Toren deines Vaters.«

»Soll er sich zuerst Ankrath vornehmen«, sagte ich und überlegte, wie mein Vater auf diesen »guten Mann« reagieren würde. »Sein Bruder«, sagte Taproot. »Egan?«

Taproot wusste Bescheid. Er wollte nur wissen, ob ich es ebenfalls wusste. Ich beobachtete ihn. Wozu er mich immer wieder aufforderte.

»Sein Bruder ist ein Killer. Ein Schwertkämpfer wie aus einer der Legenden, und böse und gemein. Ein Jahr jünger als Orrin, und das wird er immer sein, dem Himmel sei Dank. Noch etwas Absinth?«

»Und wie viel Unterstützung hat der Gute Fürst bei den Hundert?« Ich winkte die Flasche fort. Bei Taproot brauchte man einen klaren Kopf.

»Oh, sie würden ihn alle für einen halben Florin umbringen«, sagte Taproot.

»Natürlich.«

»Aber er ist gnädig, und das kann eine mächtige Sache sein.« Taproot strich sich über die Brust, als erhoffte er sich selbst ein bisschen von dieser Gnade. »Es gibt keinen adligen Herrn dort draußen, der nicht weiß: Wenn er seine Tore für Pfeil öffnet, behält er nicht nur seinen Kopf, sondern auch einen großen Teil dessen, was sich hinter den Toren befindet. Bei der nächsten Kongression könnten seine Freunde dafür stimmen, dass er den Kaiserthron bekommt. Und wenn er so weitermacht wie bisher, bekommt er den Thron bei der übernächsten Kongression.«

»Ein schlauer Plan«, sagte ich. Gnade als Waffe.

»Mehr als das, schau an.« Taproot trank und leckte sich die Zähne. »So ist er. Und er braucht nicht mehr viele Siege, bis mehr Tore für ihn offenstehen als geschlossen bleiben.« Im Anschluss an diese Worte richtete er einen dunklen, durchtriebenen Blick auf mich. »Werden deine Tore offen oder geschlossen sein, Jorg von Ankrath?«

»Wir werden sehen, nicht?« Ich strich mit einem feuchten Finger über den Rand des Glases und ließ es singen. »Ich bin zu jung, um den Ehrgeiz einfach so aufzugeben, oder?« Außerdem bedeutete ein offenes Tor manchmal nur, dass sie gehen sollten. »Was ist mit den anderen?«

»Mit den anderen?« Taproots unschuldiger Blick war ein Kunstwerk, über die Jahre perfektioniert.

Ich beobachtete ihn. Taproot behielt seine Maske der Unschuld auf. Ich kratzte mich am Ohr und wartete, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

»Oh … die anderen.« Er schenkte mir ein knappes Lächeln. »Dort gibt es Unterstützung für Orrin von Pfeil. Er ist vorhergesagt, der Fürst von Pfeil. Es mangelte nicht an Prophezeiungen. Zu viele, als dass der Kluge sie ignorieren könnte. Die Stille Schwester ist natürlich …«

»Still?«, fragte ich.

»Allerdings. Aber andere sind interessiert. Sageous, die Blaue Lady, Luntar von Thar, selbst Skilfar.« Er musterte mich, als er die einzelnen Namen nannte, und erkannte sofort, ob sie mir vertraut waren oder nicht. Mein Gesicht verrät nie sehr viel, aber jemand wie Taproot kann auch im Wenigen viel lesen.

»Skilfar?« Er wusste bereits, dass ich diesen Namen zum ersten Mal hörte.

»Eishexe«, sagte Taproot. »Spielt alle gegeneinander aus. Viele Augen sind auf den Fürsten von Pfeil gerichtet, Jorg. Sein Stern ist noch nicht aufgegangen, aber sei gewiss, dass er aufsteigen wird. Wer weiß, wie hoch er steht und wie hell er strahlt, wenn die Kongression beginnt?«

Wenn es jemand wusste, so der Zirkusmeister vor mir. In Gedanken drehte ich Taproots Worte hin und her. Von der nächsten Kongression trennten uns noch zwei Jahre, und vier weitere waren es bis zur übernächsten. Als Herr von Renar hatte ich dort einen festen Platz mit einer Stimme, und die Goldene Garde würde mir sicheres Geleit nach Vyene gewähren. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Hundert einen Kaiser wählen würden, der über sie herrschen sollte. Nicht einmal Orrin von Pfeil. Wenn ich mich auf den Weg machte, wenn ich mich von der Goldenen Garde fünfhundert Meilen weit bringen ließ, damit ich abstimmte, so würde ich für mich selbst stimmen.

»Das mit Kaschta tut mir leid«, sagte Taproot. Er füllte sein Glas und hob es.

»Wen meinst du?«

Taproot sah auf die Armbrust an meiner Seite. »Den Nubier.«

»Oh.« Taproot wusste Bescheid. Kaschta. Ich ließ mir von ihm noch einmal das Glas füllen, und wir tranken auf den Nubier.

»Ein weiterer guter Mann«, sagte Taproot. »Er gefiel mir.«

»Dir gefallen alle, Taproot«, sagte ich und leckte mir die Lippen. »Aber er war tatsächlich ein guter Mann. Ich bringe die Monstren nach Heimrift. Erzähl mir von dem dortigen Magus.«

»Ferrakind«, sagte Taproot. »Ein gefährlicher Mann, schau an! Ich hatte Pyromanten, die bei ihm geübt haben. Keine Magier, nicht viel mehr als Feuerspucker. Kram, den man auch hiermit und mit einer Kerze machen könnte.« Er hob einmal mehr sein Glas. »Viel Rauch und wenig Flammen. Ich glaube, die guten Leute lässt er nicht gehen. Meine Pyromanten hatten eine Riesenangst vor ihm. Man konnte jeden Streit beenden, indem man einfach nur seinen Namen nannte. Bei ihm steckt mehr dahinter als nur Rauch, so viel steht fest. Er ist flammenverflucht.«

»Flammenverflucht?«

»Das Feuer steckt in ihm. Irgendwann wird es ihn verbrennen. Früher war er ein Spieler. Du weißt, was ich meine: ein Spieler von Menschen und Thronen. Aber das Feuer nahm zu viel von ihm, und heute interessieren wir ihn nicht mehr.«

»Ich brauche seine Hilfe«, sagte ich.

»Und dies ist dein Angebot?« Taproot klopfte auf sein Handgelenk. Mir war nicht aufgefallen, dass er meine Armbanduhr gesehen hatte, aber er schien alles darüber zu wissen.

»Vielleicht. Was könnte ihn sonst interessieren?«, fragte ich.

Taproot schürzte die Lippen. »Er mag Rubine. Aber ich glaube, dein Feuerkind wäre ihm lieber. Vielleicht möchte er den Jungen behalten, Jorg.«

»Vielleicht möchte ich ihn selbst behalten«, erwiderte ich.

»Kriegst du im hohen Alter ein weiches Herz, Jorg?«, fragte Taproot. »Schau an! Ich kannte einen Zwölfjährigen, hart wie Stahl und mit einem Verstand so scharf wie das schärfste Messer. Vielleicht solltest du die Ungeheuer bei mir lassen. Im Zelt der Monstrositäten kann man noch immer gutes Geld verdienen.«

Ich stand auf und hob die Armbrust des Nubiers. »Kaschta, wie?«

»Allerdings«, sagte Taproot.

»Ich sollte mich jetzt besser auf den Weg machen, Doktor«, sagte ich. »Es gilt, eine Brücke zu überqueren.«

»Bleib«, sagte er. »Möchtest du Jonglieren lernen?«

»Ich werde noch einmal vorbeikommen, um der alten Zeiten willen«, sagte ich.

Taproot hob die Hände. »Ein König weiß, was er will.«

Und ich ging.

»Gute Jagd.« Er sprach es zu meinem Rücken.

Ich fragte mich, ob er mir genug genommen hatte, um es mit Gewinn zu verkaufen. Ich fragte mich, wie viel manche Menschen zwischen ihren Ohren unterbringen können.

Ich kam an den Tänzerinnen vorbei, die nicht weit gegangen waren.

»Erinnerst du dich an mich, Jorg?« Cherri lächelte. Die andere nahm eine Pose ein. Beide befolgten Taproots Rat. Hüften und Brüste.

»Natürlich erinnere ich mich.« Ich deutete eine Verbeugung an. »Aber leider bin ich nicht zum Tanzen hier, werte Damen.«

An Cherri erinnerte ich mich, geschmeidig und keck, das Haar von Zitronensaft gehellt und jeden Morgen an heißen Stangen gewickelt, eine Stupsnase und sündige Augen. Beide näherten sich, halb spielerisch, halb ernst, mit umherwandernden Händen, warmem Atem und jenem Schwingen im Becken, das von Verlangen kündet. An ihre Freundin – dunkelhaarig, mit bleicher Haut und wundervollen Kurven – erinnerte ich mich nicht, und das bedauerte ich.

»Möchtest du ein bisschen spielen?«, murmelte die Freundin. Sie roch Geld. Aber manchmal spielte der Grund keine Rolle.

Ich verließ sie und schlüpfte durch einen Ausgang in der Rückseite des Zelts. Auf dem offenen Platz weiter links war Thomas gerade damit beschäftigt, ein Schwert zu schlucken, wobei ihm mehrere Zirkuskinder zusahen. Eigentlich brauchte Thomas gar nicht zu üben, aber so war er eben, machte anderen gern eine Freude. Eine seltsame Mischung, Zigeuner und Talent; sie brauchte den Fackelschein der Arena, fühlte sich nur geschminkt lebendig. Einige von ihnen würden nach einer Woche ohne Applaus dahinsiechen und sterben, das schwöre ich.

Ein Knurren von den Käfigen weckte meine Aufmerksamkeit. Es standen einige am östlichen Rand des Lagers, wo der Wind den Gestank forttrug. Der Zirkus hatte noch immer die beiden Bären, an die ich mich erinnerte: Stumpfsinnig stapften sie in engen Kreisen, ihre bronzenen Nasenringe groß genug, den Arm hindurchzustrecken. Die große Schildkröte – Taproot behauptete, sie sei zweihundert Jahre alt – lag völlig still und war so interessant wie ein großer Stein. Sie befand sich nicht in einem Käfig, sondern war an einen Pflock gebunden. Die zweiköpfige Ziege kannte ich noch nicht; sie bot einen traurigen Anblick. Andererseits hätte sie eine Totgeburt sein sollen und war also gesünder, als ihr eigentlich zustand. Gelegentlich sahen sich die beiden Köpfe und erschraken, schienen vom Anblick des jeweils anderen überrascht zu sein.

»Siehst du etwas, das dir gefällt?« Eine weiche Stimme hinter mir.

»Jetzt schon.« Ich drehte mich zu ihr um. Sie sah gut aus.

»Jorg«, sagte Serra. »Mein süßer Jorg. Nicht weniger als ein König.«

Ich zuckte die Schultern. »Ich finde nie ein Ende.«

Sie lächelte. »Nein.« Dunkel und wundervoll.

»Ich habe Thomas dort drüben gesehen, wie er eine Schau abzog«, sagte ich.

Serra schmollte, als ich ihren Mann erwähnte. »Es erstaunt mich immer wieder, dass Leute so etwas sehen wollen.«

»Deshalb ist der Zirkus auf Reisen«, erwiderte ich. »Alles wird schnell alt. Das Schlucken von Schwertern, das Spucken von Feuer, die Schönheiten eines Abends oder zwei …«

»Und bin ich schnell genug alt geworden?«, fragte sie. »König Jorg vom Hochland?«

»Nie«, sagte ich. Wenn die Sünden des Fleisches jemals alt werden, so wollte ich nicht genug Jahre für mich, um es zu erfahren. »Ich habe kein Mädchen gefunden, mit dem ich dich vergleichen könnte.«

»Mädchen« stimmte nicht ganz, aber sie war gut zehn Jahre jünger als Thomas, und wer eignete sich besser als die Schlangenfrau eines Zirkus’, um einen Jungen mit der Fleischlichkeit vertraut zu machen?

Serra kam näher, ein vor dem kühlen Wind schützendes Tuch um die Schultern geschlungen. Sie bewegte sich auf die geschmeidige, wie flüssige Art und Weise, die jeden Beobachter darauf hinwies, dass sie die Füße hinter dem Kopf kreuzen konnte. Trotzdem, auf ihren Wangen zeigten sich hier und dort Risse im weißen Puder, und in den Augenwinkeln fand unfreundliches Morgenlicht kleine Falten. Sie trug ihr Haar noch immer in kleinen Zöpfen und Knoten, doch das passte jetzt nicht mehr zu ihr, und an einigen Stellen bemerkte ich silbergraue Strähnen.

»Wie viele Zimmer hat dein Palast, Jorg?« Etwas Raues lag in ihrer Stimme, und hinter dem Lächeln lag fast so etwas wie Verzweiflung.

»Viele«, sagte ich. »Die meisten sind kalt, steinern und feucht.« Ich wollte nicht, dass sie zu betteln begann und damit meine goldenen Erinnerungen beschmutzte. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich das Zirkuslager aufgesucht hatte. Weil ich Taproots Geschichten hören wollte, ja, aber nicht jetzt, nicht hier in dieser vertrackten Realität hinter der Maske der Arena. Ich wusste nicht, warum ich hierhergekommen war, doch gewiss nicht, um zu sehen, wie Serra ihre Jahre und ihre Not zeigte.

Einen Moment herrschte Stille, und dann hörte ich ein Knurren, zu kehlig und tief für einen Bären, wie von einer großen Raspel, die über Holz kratzte.

»Was zum …«

»Ein Löwe«, sagte Serra. Sie drehte sich, ihr Gesicht erstrahlte, und sie nahm meine Hand. »Siehst du?«

Und hinter der Ecke, ganz unten in einem Stapel aus Käfigen, hatte Dr. Taproot tatsächlich einen Löwen. Ich hob die Armbrust des Nubiers und warf einen Blick auf die Schmiedearbeit, die den Abzugbügel umgab. Das Tier im Käfig mochte ein wenig heruntergekommen sein und zu viele Rippen zeigen, aber die schmutzige Mähne ähnelte jener, die die knurrende Schnauze am Bogen des Nubiers umgab.

»Na so was«, sagte ich. Der Nubier hatte mir erzählt, dass er in seiner Jugend durch heiße Savannen gewandert war, wo Löwen in Rudeln jagten. Zwar log der Nubier nie, aber ich hatte ihm nur halb glauben können. »Na so was.« Diesmal fehlten mir die Worte.

»Er heißt Macedon«, sagte Serra und beugte sich zu mir. »Die Leute lieben ihn.«

»Was hat Taproot sonst noch in seinen Käfigen? Bekomme ich gleich einen Greif zu sehen, und dann ein Einhorn und einen Drachen, eine ganze Wappengruppe?«

»Dummerjan«, hauchte sie. Alt oder nicht, ihre besondere Magie blieb nicht ohne Wirkung auf mich. »Es gibt keine Drachen.« Ein Lächeln huschte über ihre geschminkten Lippen, über ihren kleinen, zum Küssen einladenden Mund.

Ich schüttelte es ab – es gab zu viele Ablenkungen im Zirkus. Ablenkungen, die ich mir genau ansehen wollte. Aber Geister folgten mir, und Gog konnte jeden Moment in Flammen aufgehen …

»Er sieht hungrig aus«, sagte ich. »Kann der Zirkus seiner Hauptattraktion nicht genug zu fressen geben?«

»Er will nicht fressen«, sagte Serra. »Taproot rauft sich deshalb die Haare. Er weiß nicht, wie lange Macedon noch überlebt.«

Der Löwe beobachtete uns. Wie eine Sphinx saß er da, die Pranken nach vorn gestreckt. Ich begegnete dem Blick seiner großen bernsteinfarbenen Augen und fragte mich, was sie sahen. Wahrscheinlich einen Fleischbrocken auf zwei Beinen, die nicht fürs Laufen bestimmt waren.

»Er möchte jagen«, sagte ich.

»Wir geben ihm Fleisch«, erwiderte Serra. »Frisches Fleisch von Kühen, noch blutig. Er beschnuppert es kaum.«

»Es sollte ihm nicht gegeben werden«, sagte ich. »Er muss es reißen.«

»Das ist dumm.« Serras Finger strichen über meine und ließen es in mir brennen.

»Es liegt in seiner Natur.« Ich wandte den Blick ab. Wenn es darum ging, wer von uns am längsten starren konnte, hatte ich geringe Aussichten, den Sieg zu erringen.

»Ihr solltet ihn freilassen«, sagte ich.

Serra lachte, und es klang ein wenig zu schrill. »Was würde er dann jagen? Sollen wir ihn Kinder fressen lassen?«

Ein Schrei in der Ferne ersparte mir eine Antwort. Ein Schrei und eine weit emporzüngelnde Flamme. Ein bereits erloschenes Lagerfeuer in der Nähe erwachte zu neuem feurigen Leben. Die Flammen flackerten, und ein Geräusch kam von ihnen, als saugten sie Luft an. Dann verwandelten sie sich in einen kleinen Mann, in einen Homunkulus, nicht größer als ein Huhn. Der Mann sah sich kurz um und lief los, in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Er hinterließ eine schwarze Feuermulde, aus der Rauchfäden kräuselten, und kleine verbrannte Fußabdrücke.

Serra öffnete den Mund, wie um selbst zu schreien, überlegte es sich anders, schloss ihn wieder und folgte dem kleinen Mann.

Mein Blick kehrte zum Löwen zurück, der unberührt schien von der ganzen Aufregung.

»Glaubst du, dass Taproot Gog noch immer für seine Monstrositätenschau möchte?«, fragte ich.

Der Löwe antwortete nicht, beobachtete mich nur mit seinen bernsteinfarbenen Augen.

Der Nubier hatte die Löwen als prächtige Geschöpfe beschrieben, als Herren der großen Savanne. Er verstand, warum Männer, die nie einen gesehen hatten, unter ihrem Bild auf einem Banner kämpften. Wenn er von Löwen sprach, an kalten Abenden an einem Lagerfeuer neben der Straße, war mir, als sähe ich die Savanne vor mir, mit den Rudeln. Ich hatte mir Löwen nicht in Käfigen vorgestellt, räudig, abgemagert und voller Flöhe, in Gesellschaft einer zweiköpfigen Ziege.

Ein einzelner Nagel hielt die Tür des Käfigs zu, mit Draht gesichert.

Vor Jahren, und Welten entfernt, hatte ich einen einzelnen Stift gezogen und den Nubier befreit. Ich zog einen Stift, und er nahm zwei Leben in ebenso vielen Momenten.

Jener Jorg hätte auch diesen Stift gezogen. Jener Jorg hätte ihn gezogen und nicht einen Gedanken an die Kinder beim Schwertschlucker vergeudet, oder an die Tänzerinnen und Akrobaten. Ebenso wenig an die Bewohner der Stadt oder Taproots Rache. Aber ich bin inzwischen ein anderer Jorg. Ich bin anders, weil jeden Tag etwas von uns stirbt, und gleichzeitig wird jeden Tag etwas Neues in uns geboren. Auf diese Weise verwandeln wir uns in andere Menschen, in ältere Menschen in der gleichen Kleidung und mit den gleichen Narben.

Ich vergaß weder die Kinder noch die Tänzerinnen und Akrobaten. Aber ich zog den Stift trotzdem. Denn es liegt in meiner Natur.

»Für Kaschta«, sagte ich.

Ich schwang die Tür auf und ging fort. Es stand dem Löwen frei, im Käfig zu bleiben oder ihn zu verlassen, zu jagen oder zu sterben, was auch immer. Wenigstens hatte er jetzt die Wahl. Was mich betraf … Ich musste eine Brücke überqueren.

Ich folgte Serra, um festzustellen, welchen Schaden Gog angerichtet hatte.

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Bruder Sim gefällt dem Auge, ein bisschen hübsch, ein bisschen
zart, aber mit Schärfe darin. Unter der Färbung ist sein Haar
blond, fast so gelb wie die Sonne, und unter dem Gift sind seine
Augen blau. Ich kenne niemanden unter dem Himmel, der
mehr Zurückhaltung übt, was seine persönlichen Dinge betrifft,
verschwiegener bei seinen Gedanken und Meinungen, und
tödlicher in einem stillen Moment.