21

Vier Jahre zuvor

Die Dänen sind hauptsächlich sesshaft gewordene Wikinger. Das Blut der Eroberer hat sich mit dem der Bauern vermischt, die sie erobert haben. Jeder Däne führt seine Abstammung nach Norden zurück, auf einen blutrünstigen Krieger, der von einem Langschiff sprang, aber in Wirklichkeit verachten die wilden Männer des Nordens die Dänen und nennen sie Fitfirar – ein Fehler, durch den sich viele Wikinger am falschen Ende einer Axt wiederfanden.

 

»Hier nützt du mir mehr, Makin.«

»Du willst unbedingt los«, sagte Makin.

»Deshalb sind wir hierhergekommen«, erwiderte ich.

»Jede neue Sache, die ich über diesen Ferrakind höre, ist ein weiterer guter Grund, seine Nähe zu meiden«, sagte Makin.

»Wir sind hier, weil er eine Schwäche für das kleine Monstrum hat«, brummte Row von der Tür. Er war nicht zu unserem Gespräch eingeladen. Das war keiner von den anderen. Aber auf der Straße gilt jede laute Stimme als Einladung für ein Publikum. Obwohl wir genau genommen nicht auf der Straße waren. Wir wohnten als Gäste in einem kleineren Gebäude neben der Feste des Herzogs von Maladon.

»Vielleicht ist jene Schwäche eine Stärke.« Mit einem scheußlichen Grinsen duckte sich Rike durch die Tür. Seit ich das Kupferkästchen hatte, schien er zu glauben, jederzeit dazwischenquatschen zu können.

Ich wandte mich dem Eingang zu. »Es gibt da zwei Dinge, an die ihr euch erinnern solltet, Brüder.«

Die Gesichter von Grumlow, Sim und Kent erschienen hinter Rike.

»Erstens: Wenn ihr wegen dieser Sache frech werdet, so schwöre ich euch, dass niemand von euch dieses Gebäude lebend verlässt. Zweitens: Vielleicht erinnert ihr euch an eine Zeit, als eure verstorbenen und beklagten Brüder außerhalb der Spukburg starben. Und während die Fußsoldaten des Grafen von Renar euch töteten, während sie Elban, Lügner und den Dicken Burlow umbrachten … Da hat Gog die ganze persönliche Garde des Grafen zurückgehalten, mehr als siebzig ausgewählte Männer. Er hielt sie zurück, indem er sie in Fackeln verwandelte oder ihnen einen solchen Schrecken einjagte, dass sie sich nicht mehr rühren konnten. Und er war sieben. Die Frage, zu welchem Mann er jetzt heranwächst, und ob er überhaupt erwachsen wird, hat für mich weitaus größere Bedeutung als die, ob ihr den morgigen Tag erlebt. Es gibt sogar viele Fragen, die wichtiger für mich sind als die, ob ihr einen Tag älter werdet oder nicht, aber die gerade erwähnte steht ganz oben auf der Liste.«

»Du brauchst mich noch«, sagte Makin. Er hatte zu viele Jahre über mich gewacht. Dadurch war Pflicht zur Angewohnheit geworden, zu einer Notwendigkeit.

»Wenn alles gut läuft, werde ich dich nicht mehr brauchen«, sagte ich. »Und wenn es schlecht läuft … Ich glaube, dann bewirkt das eine oder andere zusätzliche Schwert keinen Unterschied. Ihm steht ein kleines Heer von Trollen zur Verfügung, und er kann Menschen in Flammen aufgehen lassen, indem er nur daran denkt. Ich glaube, ein Schwert hilft dagegen nicht sehr viel.«

Ich ließ Makin zurück, ungeachtet seiner weiteren Einwände, und auch die Brüder, die wie getretene Hunde umherschlichen, sie alle, mit Ausnahme des Roten Kent. Er hatte seine neue Axt. Nicht eine wirklich neue, um ganz ehrlich zu sein, aber eine sehr gute, im hohen Norden geschmiedet und von den Langschiffen vor Karlswasser eingetauscht. Als ich ging, hob Kent seine Axt für mich und nickte, sagte aber nichts.

Gorgoth und Gog warteten bei den Lagerräumen des Herzogs auf mich, mit einem Sack Proviant und gewachsten Decken für den Fall, dass wir an den Hängen Zuflucht suchen mussten.

An einem sonnigen Frühlingsmorgen brachen wir nach Heimrift auf. Wir gingen zu Fuß. Ich hatte mich an Brath gewöhnt und wollte ihn nicht unbeaufsichtigt am Hang eines Vulkans zurücklassen. Vielleicht wussten Trolle Pferdefleisch zu schätzen; ich mochte es selbst.

Nach einer halben Meile holte uns Sindri auf der Straße ein. Mit wehenden Zöpfen kam er herangeritten.

»Diesmal nicht, Sindri«, sagte ich. »Nur ich und diese hübschen Jungs hier.«

»Du brauchst mich, bis ihr den Wald hinter euch lasst«, erwiderte er.

»Den Wald?«, fragte ich. »Bisher hatten wir damit keine Probleme.«

»Ich habe dich beobachtet.« Sindri lächelte. »Wenn ihr den falschen Weg genommen hättet, wäre ich sofort bereit gewesen, euch zu führen. Aber ihr hattet Glück.«

»Was sollte ich in diesem Wald fürchten?«, fragte ich. »Grüne Trolle? Kobolde? Grendell höchstpersönlich? Ihr Dänen habt mehr Schreckgespenster als der ganze Rest des Reiches.«

»Baummänner«, sagte Sindri.

»Wie brennen sie?«, fragte ich.

Da lachte er, doch das Lachen fiel schnell wieder von ihm ab. »Es gibt etwas im Wald, das Menschen das Blut nimmt und es mit Baumsaft ersetzt. Sie sterben nicht, diese Menschen, aber sie verändern sich.« Er zeigte auf seine Augen. »Das Weiße wird grün. Sie bluten nicht. Äxte machen ihnen nichts aus.«

Ich schürzte die Lippen. »Du kannst uns führen. Heute bin ich beschäftigt. Diese Baummänner müssen ins Hochland kommen und sich anstellen, wenn sie einen Teil von mir wollen.«

Und so gingen wir weiter. Sindri führte nicht nur uns, sondern auch sein Pferd, über die Waldwege, die er für sicher hielt, und wir beobachteten die Bäume mit neuem Argwohn.

Gegen Mittag lichtete sich der Wald und ging in ein ansteigendes Moorland über. Wir stapften durch hüfthohes Farngestrüpp, vorbei an kratzendem Ginster, und überall gab es Heidekraut, das versuchte, uns zu Fall zu bringen. Wolken aus Blütenstaub umhüllten uns.

Ich musste Sindri nicht auffordern, uns zu verlassen. »Ich warte hier«, sagte er und verharrte im Sonnenschein am Hang. »Viel Glück mit Ferrakind. Wenn du ihn tötest, hast du wenigstens einen Freund im Norden. Wahrscheinlich sogar tausend!«

»Ich bin nicht hier, um ihn zu töten«, erwiderte ich.

»Das ist wahrscheinlich besser so«, sagte Sindri.

Bei diesen Worten zog ich die Stirn kraus. Wenn drei Brüder von mir in Heimrift gestorben wären, hätte ich mit dem Mann, der an diesem Ort herrschte, eine Rechnung zu begleichen. Die Dänen schienen so von Ferrakind zu denken wie auch von den Vulkanen. Sich mit ihm anzulegen … Genauso gut könnte man einen Groll gegen die Klippe hegen, von der ein Freund in den Tod gestürzt ist.

Ich brachte uns nach Halradra zurück, über die Wege und Hänge, die wir bereits kannten. Als wir höher kamen, wurde der Wind stärker und nahm uns den Schweiß. Die Sonne blieb hell, und es schien ein guter Tag zu sein. Wenn er unser letzter sein sollte, so war er wenigstens angenehm. Wir wanderten durch ein langes Tal mit schwarzer Asche und gebrochenen Lavaströmen – die alten Strömungslinien zeichneten sich deutlich im erstarrten Gestein ab. Weit über uns stand die Hütte eines einsamen Hirten, winzig vor dem Hintergrund der gewaltigen Masse des Berges. Sie musste aus einer Zeit stammen, als es in dieser Höhe noch Gras gegeben hatte. Eine kleine Wolke am Himmel schob sich vor die Sonne, und ihr Schatten strich über die stillen felsigen Höhen, die von Osten nach Westen reichten. Ein dumpfes Grollen kam aus den Tiefen von Gorgoths Kehle. Das gefiel mir beim Reisen mit Gorgoth. Er hortete seine Worte, sodass man nichts von seinen Gedanken wusste, aber er verpasst nie etwas, nicht einmal die seltenen Momente, wenn die Myriaden Teile unserer schmutzigen, abgenutzten Welt sich auf eine Weise ordnen, die so schön ist, dass der Anblick fast schmerzt.

Gorgoth schwieg meistens, und ebenso oft schwatzte Gog genug für zwei. Meistens ließ ich es einfach über mich ergehen. Kinder plappern. Es liegt in ihrer Natur, und ich hielt es für meine Pflicht, es dabei bewenden zu lassen. Doch als wir den Berg Halradra zum zweiten Mal erkletterten, gab Gog keinen Ton von sich. Nach so vielen Wochen von »Warum haben Pferde vier Beine, Bruder Jorg?« und »Aus welcher Farbe besteht Grün, Bruder Jorg?« und »Warum ist der Baum dort größer als der andere, Bruder Jorg?« sollte man meinen, dass ich in dieser Hinsicht eine Verschnaufpause zu schätzen wusste, aber seltsamerweise wurde sein Schweigen zu einer Last.

»Heute keine Fragen, Gog?«, fragte ich.

»Nein.« Er warf mir einen Blick zu und sah dann zur Seite.

»Nichts?«, fragte ich.

Wortlos setzten wir den Weg über den Gang fort. Ich wusste, dass es nicht Furcht war, die Gog so still sein ließ. Als Kind ist es schrecklich, zu erfahren, dass jenen, die man liebt und zu denen man aufsieht, Grenzen gesetzt sind. Wenn man herausfindet, dass einen die eigene Mutter nicht schützen kann, der Lehrer einen Fehler macht oder der falsche Weg eingeschlagen werden muss, weil die Erwachsenen nicht die Kraft haben, den richtigen zu nehmen … Jeder dieser Momente stiehlt ein Stück von der Kindheit. Jeder ist ein Schlag, der ein Stück von dem Kind tötet, das man gewesen ist, und ein weiteres Stück von dem Mann enthüllt, von einem neuen Wesen, das stärker ist, aber auch voller Bitterkeit und Enttäuschung.

Gog verzichtete darauf, seine Fragen zu stellen, weil er mich nicht lügen hören wollte.

Wir kamen zu den Höhlen, die ich bei unserem ersten Besuch so spät gesehen hatte, rümpften die Nase, als wir den Troll-Gestank wahrnahmen, und stapften durch Dunkelheit.

»Ein bisschen Licht, Gog, wenn du so gut sein willst«, sagte ich.

Er öffnete die Hand, und Feuer erblühte darin, als hätte er es die ganze Zeit in der Faust gehalten.

Ich ging voraus, durch den großen Saal der Eingangshöhle, durch den Tunnel mit den glatten Wänden, der etwa fünfzig Meter nach oben führte, zur fast runden Kathedralenhöhle mit den Löchern im Boden und den wie geschliffenen Wänden.

Diesmal kamen die Trolle schnell, ein halbes Dutzend von ihnen – sie schlichen durch die Schatten am Rand von Gogs Feuerschein. Gorgoth stand bereit, um sich mit denen zu messen, die an seiner Kraft zweifelten, aber die Trolle duckten sich und beobachteten uns – vor allem Gorgoth –, ohne anzugreifen.

»Warum sind wir hier?«, fragte Gorgoth schließlich. Ich hatte mich schon gefragt, ob er sein Schweigen nie brechen würde.

»Ich habe meinen Ort gewählt«, sagte ich. »Wenn man gegen einen Löwen antreten muss, so besser nicht in seiner eigenen Höhle.«

»Du hast dir nichts anderes angesehen«, sagte Gorgoth.

»Ich habe hier gefunden, was ich suchte.«

»Und was ist das?«, fragte er.

»Eine schwache Hoffnung.« Ich grinste, ging in die Hocke und sah Gog an. »Wir müssen jemanden treffen, Gog. Dein Problem, diese Feuer, sie werden dir immer mehr zu schaffen machen, und ich kann nichts dagegen tun. Auch Gorgoth kann dir nicht helfen. Du musst damit rechnen, dass es jedes Mal schlimmer wird, und dann noch schlimmer.« Ich machte ihm nichts vor. Er wollte nicht, dass ich ihn belog.

Eine Träne rollte ihm über die Wange und verdampfte mit einem leisen Zischen. Ich nahm seine Hand, klein in meiner, und schloss seine Finger um die gestohlene Rune. »Du und ich, Gog, wir sind gleich. Wir sind Kämpfer, Brüder. Wir gehen zusammen hinein und kommen zusammen heraus.« Wir waren tatsächlich gleich, von allen Lügen abgesehen. Tief unten gab es eine Verbindung, die das Gute in ihm beiseiteschob und das Böse in mir. Ich wollte erleben, dass er gewann. Mit Selbstlosigkeit hatte das nichts zu tun. Wenn Gog überstehen konnte, was ihn innerlich zerfraß, so war vielleicht auch ich dazu imstande. Himmel, ich war nicht durchs halbe Reich geritten, um ein monströses Kind zu retten. Es ging mir um die eigene Rettung.

»Wir rufen Ferrakind zu uns«, sagte ich und sah zu den Trollen. Sie beobachteten mich mit feucht glänzenden schwarzen Augen, ohne auf den Namen Ferrakind zu reagieren. »Verstehen sie, was ich sage?«

»Nein«, antwortete Gorgoth. »Sie überlegen, ob du gut schmeckst.«

»Frag sie, ob es andere Ausgänge gibt, die höher auf den Berg führen.«

Eine Pause. Ich spitzte die Ohren und lauschte, hörte aber nur das leise Knistern von Gogs Flamme.

»Sie können uns zu einem solchen Ausgang bringen«, sagte Gorgoth.

»Sag ihnen, dass Ferrakind kommen wird. Sag ihnen, sie sollen sich verstecken, aber bereit sein, uns zu dem Ausgang zu bringen.«

Ich konnte regelrecht sehen, wie Gorgoths Gedanken die Trolle erreichten. Sofort richteten sie sich auf und öffneten die schwarzen Mäuler zu lautlosem Knurren. Schwarze Zungen strichen über gezackte Zähne. Dann machten sie sich auf und davon und verschwanden noch schneller in der Dunkelheit, als sie gekommen waren.

»Also gut, wir rufen Ferrakind. Ich werde ihn darum bitten, dir zu helfen.« Ich lenkte Gogs Gesicht vom Eingang weg und zu mir. »Wenn es gefährlich wird … Dann möchte ich, dass du den Trick anwendest, den wir im Saal des Herzogs gesehen haben. Wenn Ferrakind versucht, uns zu verbrennen, so möchte ich, dass du das Feuer nimmst und zu einem Ort bringst, den ich dir zeigen werde.«

»Ich versuch’s«, sagte Gog.

»Gib dir alle Mühe.« Ich habe mein ganzes Leben eine Riesenangst vor dem Verbrennen gehabt, seit dem Schürhaken. Vielleicht war die Angst sogar noch älter. Ich dachte an den Hund Gerechtigkeit, wie er heulte, als er gefesselt verbrannte. Bittere Kotze blubberte tief in meiner Kehle. Ich konnte einfach gehen, sagte ich mir. Ich konnte dieser Sache einfach den Rücken kehren.

»Wie willst du ihn hierherkommen lassen, Bruder Jorg?« Gogs erste Frage an diesem Tag.

Ich sah mich noch immer wie in einer Vision über den Hang gehen. Ich würde im Sonnenschein vor mich hin pfeifen und lächeln. Schweiß rann mir aus den Achseln, legte sich mir kühl auf die Brust. Wenn Makin hier wäre, hätte er bestimmt darauf hingewiesen, dass er kein gutes Gefühl dabei hatte. Zu Recht.

Ich konnte einfach gehen. Jetzt sofort.

Wenn Coddin bei mir gewesen wäre, hätte er von einem zu großen Risiko gesprochen, ohne sichere Aussicht auf Erfolg. Er würde solche Worte benutzen, die aber eigentlich bedeuteten: »Verschwinde von dort, Jorg, so schnell wie möglich.« Denn er wollte nicht, dass ich verbrannte.

Und wenn mein Vater hier gewesen wäre, wenn er gesehen hätte, wie ich in den Sonnenschein trat und den leichten Weg beschritt … Mit einer Stimme so leise, dass man sie fast überhörte, würde er sagen: »Noch eins, Jorg. Noch eins.« Und bei jeder Abzweigung, zu der mich der Weg meines Lebens später führte, würde ich jedes Mal den leichten Pfad wählen. Und letzten Endes würde das, was ich liebte, trotzdem brennen.

»Mach ein Feuer, Gog«, sagte ich. »Mach das größte verdammte Feuer auf der ganzen Welt.«

Gog sah zu Gorgoth, der nickte und zurücktrat. Für einen langen Moment – lang genug, um mehrmals tief durchzuatmen  – geschah nichts. Dann gerieten die Flammenmuster auf Gogs Rücken in Bewegung, schwach zuerst, sodass man nicht ganz sicher sein konnte, ob sie sich tatsächlich bewegten. Die Farben wurden dunkler. An mehreren Stellen zeigte sich ein Scharlachrot, und die aschgrauen Bereiche wurden heller. Die Hitze erreichte mich, und ich wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Die Schatten waren aus der Höhle geflohen, aber mir blieb keine Zeit festzustellen, was sie enthüllten. Gogs Hitze kam in Schüben, wie die eines Schmieds, wenn er den Blasebalg betätigte und das Feuer heißer brennen ließ. Gorgoth und ich zogen uns in den Tunnel zurück, der hinter der Kathedralenhöhle nach oben führte. Dort standen wir, mit der Hitze von Gogs Feuer im Gesicht und kalter Luft im Nacken.

Die Flammen kamen ohne ein Geräusch, und plötzlich füllte orangefarbenes Lodern die ganze Höhle. Wir wankten zurück und verloren die Kaverne aus den Augen, doch die Hitze folgte uns. Ich atmete stoßweise, als hätten die Flammen den Bestandteil der Luft verbrannt, der mir Kraft gab.

»Wie soll dies helfen?«, fragte Gorgoth.

»Es gibt nur ein Feuer.« Ich schnappte nach der heißen, nutzlosen Luft. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. »Und Ferrakind benutzt es als ein Fenster, durch das er die ganze Welt sieht.«

Gorgoth hielt mich an der Schulter fest, damit ich nicht fiel. Es schien ihm überhaupt keine Mühe zu bereiten, und etwas Ärger regte sich in mir, noch während ich zu einem dunkleren Ort rutschte, wo mir Gorgoths Hand keinen Halt gewähren konnte. Ich hörte nur mein eigenes Keuchen, und das Kratzen, mit denen meine Stiefel über den Boden strichen, als Gorgoth mich durch den Tunnel zog, weiter nach oben. Der größte Teil von mir schien heiß genug zu sein, um von einem Augenblick zum anderen zu brennen, aber meine Füße waren seltsamerweise eiskalt.

Das Feuer war lautlos gekommen, verschwand aber nicht still, sondern mit einem »Wumpf«. Es hörte auf, bevor mir ganz die Sinne schwanden. Jähe Kälte kam wie ein Schock, und mit einem heiseren Fluch war ich wieder wach.

»Was zum Teufel … ?« Ich lag in einem kleinen Bach aus eisigem Wasser. Zuvor war der Tunnel trocken gewesen, aber jetzt strömte Wasser durch ihn und ließ Kielsteine klacken. Ich rollte mich im kalten Nass von einer Seite zur anderen, stand dann auf und stützte mich an der Wand ab. Wir kehrten zurück, wobei ich mich von Gorgoth durch die Finsternis führen ließ. Er hatte ein Leben in der Dunkelheit unter dem Honasberg verbracht, und mit seinen Katzenaugen sah er selbst dort, wo für mich alles finster blieb. Der kleine Bach folgte uns in die Kathedralenhöhle, wo das kalte Wasser auf dem heißen Stein zischte und dampfte.

Der noch immer glühende Gog wartete dort, wo wir ihn zurückgelassen hatten, und Ferrakind stand in der Öffnung des Tunnels zur Eingangshöhle.

Ich hatte mir einen Mann mit Feuer vorgestellt, aber Ferrakind war mehr wie Feuer, in dem auch etwas von einem Mann steckte. In menschlicher Gestalt stand er da, aber es war eine Gestalt, die nicht aus Fleisch zu bestehen schien, sondern aus geschmolzenem Eisen, wie es in Barrow und Gwangjang aus Bottichen fließt. Jeder Teil von ihm brannte, und ein Flackern wie von Flammen umgab ihn. Als seine Augen, wie glühende weiße Sterne, in meine Richtung sahen, spürte ich die Hitze seines Blicks.

»Zu mir, Gog!« Es tat weh, zu rufen, doch der Dampf vom Schmelzwasser zu meinen Füßen half ein wenig.

»Das Kind gehört mir.« Ferrakind sprach mit dem Knistern seiner Flammen.

Gog trippelte auf uns zu. Ferrakind machte einen Schritt nach vorn.

»Und warum willst du ihn?« Ich konnte nicht näher heran, ohne dass meine Haut verkohlt wäre.

»Das große Feuer verschlingt das kleine«, sagte Ferrakind. »Wir werden uns vereinen, und dadurch wird sich unsere Kraft vervielfachen.«

Ich gewann den Eindruck, dass er mit Erinnerungen an Worte sprach, mit dem Teil des Mannes, der noch nicht ganz verbrannt war.

»Wir sind gekommen, um ihn davor zu bewahren«, sagte ich. »Kannst du ihm das Feuer nehmen und den Jungen zurücklassen?«

Die heißen Augen fanden mich erneut und starrten, als sähen sie mich jetzt zum ersten Mal. »Ich kenne dich.«

Das verschlug mir die Sprache. Meine Lippen waren zu trocken für die dumme Bemerkung, die ich unter anderen Umständen vielleicht von mir gegeben hätte.

»Du hast ein Feuer von alter Art entfacht, wie es seit tausend Jahren nicht gebrannt hat«, sagte Ferrakind.

»Ah, ja«, erwiderte ich. »Das meinst du.«

»Du hast die Sonne auf die Erde gebracht.« In Ferrakinds Stimme knisterte und knackte es nicht mehr so laut wie zuvor  – die Erinnerung an die Erbauer-Waffe schien ihn mit Ehrfurcht zu erfüllen. Schatten huschten über ihn.

Gog erreichte uns. Die Hitze war aus ihm verschwunden und hatte neue Muster hinterlassen, orangefarbene Flammen auf Rücken, Brust und Armen.

»Kannst du ihn verändern? Bist du in der Lage, das Feuer aus ihm zu nehmen, oder genug davon, dass er mit dem Rest leben kann?«, fragte ich. Das Atmen schmerzte noch immer, und der Dampf des Schmelzwassers behinderte meine Sicht. Irgendwo über und hinter uns schmolz die Hitze von Gog und Ferrakind uraltes Eis in Halradras Kern.

Ferrakinds Feuer zischte und brutzelte, strömte über den Höhlenboden. Mir wurde klar, dass er lachte.

»Die Erbauer haben versucht, die Barriere zwischen Gedanken und Materie zu durchbrechen«, sagte er. »Sie machten es einfacher, die Welt mit einem Wunsch zu verändern. Sie ließen die Wände zwischen Leben und Tod dünner werden, zwischen Feuer und Nichtfeuer, schnippelten am Unterschied zwischen Dies und Das und sogar zwischen Hier und Dort.«

Vielleicht, dachte ich, hatte Ferrakinds Verstand zu den ersten Dingen gehört, die seinem persönlichen Inferno zum Opfer gefallen waren. »Kannst du dem Jungen helfen?«, fragte ich.

»Es steht in ihm geschrieben. Seine Gedanken berühren Feuer. Feuer berührt seinen Geist. Er ist feuerverflucht. Wir können nicht ändern, wie wir geschrieben sind.« Ferrakind trat auf uns zu. Flammen breiteten sich um ihn aus, wie Flügel bereit zum Flug. »Gib mir den Jungen, und du kannst gehen.«

»Ich habe eine zu weite Reise hinter mir, um mich mit einem Nein abzufinden«, sagte ich.

Feuer ist nicht geduldig. Feuer verhandelt nicht. Das hätte mir klar sein sollen.

Ferrakind streckte uns die Hände entgegen, und Flammen fauchten aus seinen Fingern. Ich hatte mich bis dahin für schnell gehalten, aber Gog war noch schneller, als ich denken konnte, und fing das Feuer mit den Armen. Die Farbe seiner Haut änderte sich, aus Orangerot wurde Weiß, aber es gelang ihm, die Glut von Gorgoth und mir fernzuhalten.

»Hinter uns!«, rief ich. »Schick das Feuer zurück.«

Und Gog gehorchte. Der Tunnel hinter uns füllte sich mit Ferrakinds weißem Feuer, als Gog es mit einer Hand packte und mit der anderen warf. Ich sah den Feuermagier nicht mehr, nur das von ihm ausgehende weiße Lodern, und der Tunnel verwandelte sich in einen weißen Orkan. Schmelzofenhitze umgab uns auf allen Seiten, und nur ein kleiner Junge verhinderte, dass wir zu Asche zerfielen.

Eine Ewigkeit lang sahen wir nichts als sengende Hitze und hörten allein das Donnern der Flammen. Und während ich dachte, dass ich es nicht einen Moment länger aushalten konnte, wurde es noch schlimmer. Gog glühte, erst im hellen Orange von Eisen bereit für den Hammer, dann in einem reinen Weiß, wie Sternenglanz. Immer deutlicher zeichneten sich die Schatten seiner Knochen ab. Das Feuer schien durch ihn zu brennen, Muskeln, Haut und Fett Substanz zu nehmen, ihn spröde und aschfahl zurückzulassen.

Und dann verschwanden Feuer und Flammen, und zum Vorschein kam Ferrakind, weißglühend und geschmolzen, und der am Boden hockende Gog, reglos und bleich wie silbrige Asche.

Eine wahre Flut aus Schmelzwasser erreichte uns, hüfthoch, weiß und donnernd. Sie strömte durch einen Tunnel, der zuvor nicht einen Tropfen enthalten hatte, als wir durch ihn vor dem Feuer geflohen waren. Das Wasser teilte sich vor Gog und dann wieder vor Ferrakind, als sei es nicht imstande, die Essenz des Feuers zu berühren. Gorgoth und ich blieben dicht bei Gog, und das Wasser erreichte uns kaum.

Ferrakind lachte erneut, und neue Flammen wuchsen aus ihm. »Hast du geglaubt, mein Feuer löschen zu können, Jorg von Ankrath?«

Ich zuckte die Schultern. »Das ist die traditionelle Methode. Feuer mit Feuer zu bekämpfen, scheint hier nicht zu funktionieren.« Die Flut um uns herum ließ bereits nach.

»Ein ganzer Ozean wäre nötig!«, sagte Ferrakind. Er sammelte Feuer mit den Händen und ließ es auflodern. »Das Kind ist erledigt. Zeit zu sterben, Jorg von Ankrath.«

Wenn es wirklich Zeit war – gut. Ich hatte eine schwache Hoffnung, aber sie war nie größer gewesen. Wenigstens würde es kein langsames Feuer sein. Ich zog mein Schwert. Ich hatte mir immer vorgestellt, eine Klinge in der Hand zu halten, wenn der Moment kam.

Ich hörte ein Donnern, aber nicht das von Flammen, tiefer und weiter entfernt.

Ein ganzer Ozean wäre nötig.

»Wie wäre es mit einem See?«, fragte ich und blickte an meinem Schwert entlang zum brennenden Magier.

»Ein See?« Ferrakind zögerte.

Da kam das Wasser, eine schwarze Wand, die dem Rinnsal zu unseren Füßen folgte. Ich packte Gog, sprang mit ihm in die Kathedralenhöhle und rollte zur Seite, neben die Tunnelöffnung. Er zerbrach, als bestünde er aus Glas. Er zerbrach wie ein Spielzeug in tausend scharfe, glänzende Stücke. Ich fühlte die plötzliche Hitze. Nadeln aus Feuer stachen mir in die Wange, mit der ich ihn berührt hatte, in Kiefer und Schläfe. Ich lag inmitten der funkelnden Splitter, in Gogs Resten, gelähmt von einer ganzen Welt aus Schmerz. Auf dem steinigen Höhlenboden lag ich, während eine Flut von biblischen Ausmaßen aus dem Tunnel direkt neben mir toste.

In Halradras Krater haben tausendmal tausend Tonnen Eis hundert Jahre geruht. Doch davor, in ferner Vergangenheit, ist Wasser geflossen. Wie sonst konnten die Tunnel so glatt sein, mit Kieselsteinen und altem Schlamm am Boden, so voller Löcher wie ein Flussbett? Mit der Langsamkeit von Gletschern ist Eis dort gekrochen, wo unterirdische Ströme verborgene Kathedralen und lange Tunnel geschaffen haben. Und Halradra hat geschlafen, still unter Eis.

Ich konnte nicht erwarten, dass Feuer genug Eis schmolz, um einen Feuermagier zu ertränken, und noch weniger durfte ich damit rechnen, dass die Flammen des Magiers dieses Werk vollbrachten und er geduldig darauf wartete, von der selbstgeschaffenen Flut erfasst zu werden. Aber ich hatte die Hoffnung, die schwache Hoffnung, dass sein Feuer und Gogs einen Weg durchs Eis schmolzen, dorthin, wohin die Tunnel führten und wo Hitze aufstieg. Ich hatte gehofft, für sie einen Weg nach oben zu schaffen.

In Frühling und Sommer zeigt Halradras Krater ein erstaunliches Blau. Das Blau von einem Meter Schmelzwasser auf vielen Klafter Eis. Ein zwanzig Acker großer See, nur einen Meter tief, auf all dem Eis.

Wenn ein Loch, groß genug, um einen Karren zu verschlingen, durch das Eis geschmolzen wird, kann man feststellen, dass ein Meter Wasser mal zwanzig Acker ziemlich viel ist.

Die eisigen Fluten waren schneller als das schnellste Pferd, erfassten Ferrakind und rissen ihn mit sich.

Als der Magier fort war und die Funken von Gogs Splittern erloschen, kehrte die Dunkelheit zurück. Ich fühlte nur Schmerz und hörte nur das Donnern des Wassers. Die Erkenntnis, dass ich nicht verbrennen, sondern ertrinken würde, interessierte mich nicht. Ich wollte nur, dass es schnell ging.

Irgendwie fanden mich Hände in Dunkelheit und Flut. Trollgestank vermischte sich mit dem Geruch meiner verbrannten Haut, und ich zappelte in den Händen, die mich hielten. Ich verfluchte sie und dachte nur daran, dass die Agonie auf diese Weise noch länger dauern würde. Für einen Moment fragte ich mich, ob die Trolle noch immer überlegten, wie ich schmeckte. Vielleicht mochten sie ihr Essen teilweise gar. Ich biss einen von ihnen und kann sagen, dass Trolle noch schlechter schmecken als riechen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich glaube, ich stieß mit dem Kopf gegen die Wand, als sie versuchten, der Flut zu entkommen.