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Lebt hier denn gar keiner mehr?«

Wütend ließ Gehring das Gartentor hinter sich zufallen und trat wieder hinaus auf die Straße. Prahm war schon am nächsten Grundstück, drehte sich zu ihm um und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Acht Häuser sollen noch bewohnt sein«, sagte Gehring. Seit einer Viertelstunde kämmten sie das Dorf ab auf der Suche nach einer menschlichen Seele. Bei einigen Gebäuden war sich Gehring nicht ganz sicher gewesen, ob nicht doch noch Leben in ihnen war. Aber niemand öffnete, keiner zeigte sich. Fensterläden waren geschlossen, Rollläden hingen schief in ihren verrosteten Schienen, Treppenstufen zerbröckelten unter seinen Schuhen.

»Wenn ich rauskriege, wer uns hier nicht aufmacht …«

»Da«, sagte Prahm und deutete auf ein völlig zugewachsenes niedriges Gebäude. »Das sind Hortensien. Die blühen noch, also muss sie jemand gießen.«

Gehring wunderte sich nicht mehr über Prahms Kenntnisse von Flora und Fauna, er nahm sie einfach nur noch dankbar zur Kenntnis.

Das Gartentor quietschte, als er es öffnete und sich durch die wuchernden Büsche in Richtung Haustür schob. Auf der Klingel stand in verblichenen Kugelschreiberbuchstaben der Name Berger. Gehring erinnerte sich, den Namen auf einer von Schwabs Listen gesehen zu haben. Aber auf welcher? Der Eingang war breit, der Windfang größer als allgemein üblich. In diesem Haus hatte es einmal ein Ladengeschäft gegeben. Die Bäckerei, fiel ihm ein. Der Mann, der in seinem Brotteig erstickte. Er drückte auf den Knopf, aber es war kein Klingeln zu hören. Er klopfte.

»Aufmachen, Polizei!«

Prahm schob sich mit einem Kopfschütteln neben ihn. »Ist jemand zuhause?«

Er ging die Stufen wieder hinunter, legte den Kopf in den Nacken und sah die Fassade hoch.

»Was wollen Sie?« Eine heisere, unfreundliche Stimme.

Gehring und Prahm sahen sich an. Der Polizist griff nach dem Schlagstock an seinem Gürtel und schob die Zweige eines heruntergekommenen Goldregens zur Seite. Auf der Bank saß eine uralte Frau. Ihre knotigen Finger huschten über den Knauf eines Gehstocks, als würden sie sich an eine vergilbte Partitur erinnern. Ihr Gesicht ließ Gehring an eine Indianer-Squaw denken. Faltig, wettergegerbt, mit vielen Pigmentflecken und einer schmalen, scharfen Nase, die das Alter besonders hervorhob.

Esther, die Dorfälteste.

»Tach auch«, sagte Prahm und stellte sich, leicht auf den Füßen wippend, vor sie. »Revierposten Jüterbog. Wir suchen eine verschwundene Frau, Mitte zwanzig, zuletzt hier in Wendisch Bruch gesehen.«

Esther blinzelte ihn an. »Nicht von mir. Ich bin fast blind.«

»Dann sagen Sie uns doch mal, wo der Schafstall vom Aussiedlerhof ist.«

»Da bin ich überfragt, junger Mann.«

»Och, gute Frau.« Prahm gab sich jovial. »Sie wollen doch auf Ihre alten Tage nicht noch einen Ausflug in die schöne Kreisstadt machen? Wir können Sie auch gleich ins Revier mitnehmen. Der Schafstall von den Rubins. So schwer kann das doch nicht sein.«

Die alte Frau zuckte mit den mageren Schultern. »Den gibt es wahrscheinlich gar nicht mehr. Da müssten Sie in den alten Bebauungsplänen nachsehen.«

»Wo war er denn?«, schaltete sich Gehring ein. Diese Frau war die Einzige, die sie in Wendisch Bruch auftreiben konnten. Da Prahm von sich aus schon den bad guy spielte, entschied Gehring sich für das Gegenteil. »Vielleicht können Sie uns ja die ungefähre Richtung angeben?«

Aber Esther sagte nun gar nichts mehr. Gehring schob den Goldregen zur Seite und machte eine Geste, dass Prahm ihm folgen sollte.

»Wie lange braucht der erste Suchtrupp?«, fragte er, als er glaubte, außer Hörweite zu sein.

»Zwanzig Minuten. Halbe Stunde.«

»Nehmen Sie Torsten, und fahren Sie die Feldwege um Wendisch Bruch ab. Irgendwo muss der Schuppen ja sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas finden. Ich komme sofort. Wenn nicht, treffen wir uns in einer Viertelstunde am Aussiedlerhof. Vielleicht bekomme ich noch etwas aus ihr heraus.« Er dachte an den toten Hund. »Unternehmen Sie nichts, bevor das SEK hier ist.«

Prahm nickte. Es gefiel ihm nicht, wie Gehring den Boss heraushängen ließ. Fast widerwillig nahm er Gehrings Visitenkarte an.

»Wir suchen nicht nur meine Kollegin, sondern auch die Leichen von mehreren ehemaligen Dorfbewohnern.«

»Was?«, entfuhr es dem Polizisten.

»Und einen Mörder, der irgendwo hier frei herumläuft.«

Prahm strich sich über den Schnurrbart, sagte aber nichts.

»Vergessen Sie das nicht. Seien Sie nicht mutig, seien Sie vorsichtig.«

Prahm nickte und ging zur Straße zurück.

Esther saß immer noch wie versteinert auf der Bank. Gehring setzte sich neben sie und beobachtete, wie ihre gekrümmten Finger wieder die Takte zu einer stummen Melodie anschlugen.

»Walburga«, begann er. Esther hörte auf zu spielen. »Walburga Wahl hat mir einiges über den Hof erzählt. Esther, Ihr Mann war Bäcker. Der erste Tote. Wie kommt es, dass die Polizei nicht ermittelt hat?«

»Hätte sie das tun sollen?«

»Im Nachhinein betrachtet ja. Damals war es sicher nur ein schrecklicher Unfall. Wann ist Ihnen klar geworden, dass es der Beginn einer Serie war?«

»Welche Serie?«

»Der Nächste war der Schreiner.«

»Der ist ertrunken. Das kommt vor, wenn man betrunken in die Wende fällt.«

»Dann verschwanden Gisela und Walter Weber. Wir vermuten, dass sie in Westdeutschland getötet und ihre Leichen an unterschiedlichen Orten abgelegt wurden. Damit sie weder identifiziert noch in Zusammenhang gebracht werden konnten.«

»Sie leben an der Costa Blanca.«

»Das tun sie nicht. Sie sind tot.«

Ein kleiner Akkord, schnell, wahrscheinlich eine schrille Dissonanz, wenn Esther Klavier spielen würde.

»Vennloh. Wo werden wir ihn finden?«

»Amerika.«

»Er ist nie dort angekommen. Ich habe noch mehr Namen auf meiner Liste stehen. Namen von Männern, die alle nicht mehr nach Hause gekommen sind. Erich Wahl zum Beispiel.«

»Bin ich meines Nachbarn Hüter?«

»Sie sind die Älteste hier. Sie haben beobachtet, was geschehen ist. Wie ein Haus nach dem anderen verwaiste, wie Ehemänner verschwanden und die Frauen in Todesangst zurückblieben. Sie werden sich getroffen und miteinander geredet haben. Vielleicht wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Meiner ist weg. Deiner auch?«

»Geschwätz interessiert mich nicht.«

»Ich glaube, alle sind tot. Was glauben Sie?«

Largo. Dunkel, tief, grabschwer.

»Alle hatten etwas gemeinsam: Sie haben Margot Rubin vergewaltigt. Nicht nur einmal. Immer wieder, über Jahre hinweg. Wahrscheinlich wurde es irgendwann zu einer Gewohnheit wie die Sportschau oder das Bier zum Feierabend. Was haben Sie gemacht, wenn er bei ihr war? Klavier gespielt?«

Sie schwieg und zog ihre Lippen nach innen über den zahnlosen Unterkiefer.

»Esther, haben die Frauen von Wendisch Bruch ihre Männer getötet? Wo werden wir ihre Überreste finden? Im Schafstall? In einem Abflussrohr? Auf dem Dörrboden?«

Adagio. Immer noch ruhig und leise.

»Wir haben nichts getan.«

»Ja«, sagte Gehring bitter. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«

»Sie täuschen sich, wenn Sie an Rache glauben. So viel Gefühl bringt keine von uns mehr auf. Wir haben das nicht getan.«

»Wer war es dann?«

»Das ist das Rätsel von Wendisch Bruch. Sie sind ein großer Mann, wenn Sie es lösen.«

Andante. Sie fühlte sich sicher, mit sich im Reinen. Gehring sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, und er hatte immer noch nichts herausgefunden. Nur, dass die Frauen dieses Ortes härter waren als Granit.

»Wurden auch die Mädchen vergewaltigt? Charlotte und Cara?«

»Ich war nicht dabei.«

Und kälter als Eis. Er stand auf, weil er in ihrer Nähe fror. Brock, Professor Gabriel Brock fiel ihm ein. Dieses Dorf musste für jeden Psychoanalytiker die reinste Wundertüte sein. Er dachte an Schwabs letzte SMS und die kryptischen Worte, die sie ihm übermittelt hatte.

»Und Charlies Schwestern?«, fragte er. »Die anderen Kinder?«

Langsam hob Esther den Kopf und sah ihn mit ihren halb blinden, schwimmenden Augen an wie eine Priesterin, die ein unheilvolles Urteil zu verkünden hat.

»Sie sind tot.«

Gehring schnappte nach Luft und versuchte gleichzeitig, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Wie kamen sie ums Leben?«

»Sie haben nie gelebt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von Bruno.«

Gehring suchte in seinem Kopf nach einem Mann dieses Namens, fand aber keinen.

»Bruno?«

»Walburgas Hund.«

Offenbar waren hier alle übergeschnappt. Nun kam also noch ein Hund ins Spiel.

»Kann er sprechen, dieser Hund? Oder wie darf ich das verstehen?«

»Es ist zwei, drei Mal passiert. Damals. Bevor alle verschwanden. Bruno mochte die Mädchen. Kein Kind wollte mit ihnen spielen. Aber zu Tieren, da hatten sie einen Draht. Manchmal ist Bruno nachts auf den Hof. Walburga konnte nichts dagegen tun. Er ist hinten raus, über die Obstwiesen. Man konnte ihn nicht einsperren. Und dann kam die Nacht, in der wir alle ihn gehört haben.«

Sie senkte den Kopf. Ihre Finger wurden wieder langsam. Larghissimo. Strichen über den Knauf, glitten über die Krümmung.

»Es war unheimlich. Grausam. Fast wie ein Wolf. Die anderen Hunde im Dorf wurden wach, sie fielen ein, heulten den Mond an. Niemand hat ein Auge zugetan.«

»Was, glauben Sie, hatte das zu bedeuten?«

»Keine hat es ausgesprochen, aber alle haben es geahnt. Wir haben sie wochenlang nicht gesehen. Sie sei krank, hieß es. Ein Jahr später das Gleiche. Ein Jahr darauf wieder. Erst dick, dann dünn. Wieder dick, wieder dünn.«

»Und was hat das mit dem Hund zu tun?«

»Er hat bis heute nie wieder so geheult.«

Bruno, der Wächter der Kinder, hatte versagt.

»Warum hat niemand etwas gemeldet?«

Sie schnaubte verächtlich, untermalt von einem schnellen, bösen Allegro.

»Was hätte man sagen sollen? Das halbe Dorf vergewaltigt eine geistesschwache Asoziale, die schwanger wird und ihre Kinder umbringt?«

»Erinnern Sie sich an Werner Leyendecker?«

Sie legte ihren Kopf ein wenig schief und dachte angestrengt nach.

»Nein. Das war keiner von hier. Wer soll das sein?«

»Ein Vertreter für Landmaschinen. Vor langer Zeit war er mal Gast im Wirtshaus Zur Linde.«

»Ach ja.« Esther nickte. Ihr Unterkiefer mahlte. »Die sind auch manchmal rüber auf den Hof.«

Gehrings Handy klingelte. Er schlug sich durch das Gebüsch und lief erst auf die Straße, bevor er das Gespräch annahm.

»Ja?«

»Prahm hier. Wir haben den Stall gefunden. Kommen Sie zum Ortsausgang Richtung Baruth. Sie sind doch bewaffnet?«

»Ja. Warum?«

»Wir beobachten den Stall. Vom Hügel aus ist schwer was zu erkennen, aber wir glauben, dass sich drei Personen dort aufhalten. Zwei Männer und eine Frau. Was sollen wir machen?«

»Warten«, antwortete Gehring und lief los.

Das Dorf der Mörder
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