5

Sanela betrat die Baracke durch einen engen Flur. Rechter Hand befand sich der Aufenthaltsraum der Mitarbeiter. Es bot sich ein ähnliches Bild wie in der Tierklinik: rau verputzte Wände, blättriger Anstrich, roher Estrich auf dem Boden. Auf dem Tisch eine Wachsdecke, der Spülstein – das sagte man wohl zu diesen tiefen Keramikbecken – gesprungen. Die letzte Renovierung war vermutlich noch in DDR-Mark bezahlt worden. Charlotte Rubin wühlte sich durch ein Hängebord, in dem Marmeladegläser, Stifte, Teepäckchen und angebrochene Kekspackungen standen. Schließlich fand sie ein Glas Pulverkaffee. Sie öffnete den Deckel und stocherte mit einem Löffel in dem steinharten Inhalt herum.

»Ich trinke eigentlich nur Tee. Das hier hat die Urlaubsvertretung letztes Jahr dagelassen.« Ein paar braune Klumpen lösten sich. »Ich weiß nicht, kann man das anbieten?«

Gehring immer. »Natürlich. Danke, dass Sie sich so eine Mühe machen.«

»Kein Problem.« Die Rattenzüchterin holte zwei Becher aus einem offenen Regal und schaltete einen Wasserkocher ein.

»Milch? Zucker?«

»Schwarz.«

Die Polizistin blieb in der offenen Tür stehen.

»Schauen Sie sich ruhig um.«

Im Raum zur Linken standen große Kisten. In ihnen wimmelten Ratten – Dutzende, Hunderte. Vom winzigen Baby bis zum ausgewachsenen Bock. Sanela blieb vor einer Kiste mit Muttertieren stehen. Sie hatten gerade geworfen. Winzige rosige Fleischwürmchen drängten sich an die Zitzen, kletterten übereinander, fielen herab, wühlten und wanden sich durch das Knäuel ihrer Artgenossen. Charlie trat ein, stellte sich neben sie, holte einen der Winzlinge heraus und legte ihn auf die flache Hand. Er krümmte sich zusammen, zu mehr Gegenwehr war er noch nicht fähig. Etwas an ihm erinnerte sie an Fotos von menschlichen Föten im Mutterleib.

»Zwei Tage sind sie alt. Die Augen sind noch geschlossen. Und hier …« Sie wendete das Jungtier auf den Rücken. Es krümmte sich zusammen, doch der Zeigefinger der Rattenzüchterin streichelte fast zärtlich den kleinen Bauch. »Die Leber. Das Herz. Sehen Sie es schlagen? Die Haut ist noch durchsichtig.«

»Ja.« Fast andächtig beugte sich Sanela über das rosige Ding, kaum halb so groß wie ihr kleiner Finger. »Was ist dieser weiße Fleck?«

»Die Muttermilch, die sie gerade getrunken haben. Da. Nehmen Sie.«

Charlie legte ihr die neugeborene Ratte vorsichtig auf die Handfläche. Sanela spürte die Wärme und die Bewegung des winzigen blinden Tieres. Der weiße Fleck rührte sie. Die Beinchen, der nackte, längliche Kopf – wie der eines großen Wurms.

Sanela beugte sich vor. Die Ratten vergaßen für einen Moment das Wühlen im Futter und reckten ihre Hälse neugierig nach oben.

»Die Babys setzen wir nach einer Woche ab. In dieser Größe sind sie die ideale Brautgabe des Rennkuckucks. Die Schlangenfarm hätte sie am liebsten schon früher.«

Sanela ließ die Ratte zurück in ihre Kiste gleiten. Das Tier tauchte unter in einem rosigen Gewühl sich windender kleiner Leiber.

»Wissen sie es?«, fragte Sanela.

Charlotte Rubin verließ den Raum, Sanela folgte ihr. Sie bog links in den Flur und öffnete eine weitere Tür. Ein säuerlicher Geruch schlug ihr entgegen. An den Wänden standen Käfige mit weißen Mäusen. Allesamt Muttertiere mit Würfen zwischen zehn und fünfzehn Nachkommen.

»Wissen sie es?«, wiederholte Sanela ihre Frage.

Die Rattenzüchterin warf einen Blick in den nächststehenden Käfig. Die Jungtiere waren noch kleiner als die Ratten. Nackte, blinde Würmchen.

»Nicht hier.« Charlie öffnete den Käfig und holte ein Mäusebaby heraus. Auch dieses Wesen hielt sie fast zärtlich in der hohlen Hand. »Wir reden nicht vom Tod in ihrer Gegenwart. Sie öffnen die Augen erst nach zehn Tagen. Im Gegensatz zu den Ratten säugen Mäuse übrigens auch den Wurf anderer Mütter.«

»Was haben Sie damit gemeint: Wir halten sie knapp?«

Charlotte Rubin legte die Maus zurück, verschloss den Käfig und ging voraus in den Aufenthaltsraum. Sie holte einen länglichen Wochenkalender aus dem Regal und legte ihn aufgeschlagen auf den Tisch mit der Wachsdecke. Zahlenkolonnen in Tabellen.

»Das Bestellbuch. Die Reviere ordern, und wir tragen ein, was wir liefern. Greifvögel, Raubtierhaus, Kamele, Vogelaufzucht …« Ihr Zeigefinger glitt die Seite hinunter. »Wir liefern immer zu wenig. Das erhöht die Wertigkeit. Ich komme aus der Landwirtschaft. Wir töten nach Bauernart. Im Park draußen lieben sie jedes einzelne Tier. Der Tod eines Mähnenwolfs letztes Jahr war eine Tragödie. Die Tigerbabys sind ja so süß. Und Knut, der Eisbär aus dem Zoo, hat eine Massenhysterie ausgelöst.«

Aus den Augenwinkeln nahm Sanela eine Bewegung wahr. Eine weiße Maus flitzte die Wand entlang und verschwand unter der Spüle.

»Wenn ein Elefant stirbt, trauert der ganze Park. Aber ist das Kaninchen, das morgen für die Königsgeier zerteilt wird, nicht genauso wichtig? Nicht für die Leute da draußen. Wir sind hier weitab vom Schuss. Wir haben nicht viel Kontakt mit den anderen Revieren. Aber im Grunde tun wir genau das Gleiche wie ein Bauer mit seinem Vieh. Oder der Zoo mit seinen Zebras.«

»Die werden nicht verfüttert.«

»Glauben Sie das wirklich?«

Sanela dachte an den ausgewaideten Antilopenbock. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass manche Restaurants ihre Spezialitäten nicht umständlich aus dem Ausland einführten.

Die Maus traute ihrem Versteck nicht. Sie rannte zur Tür, hielt inne, zitterte. Links, dachte Sanela, und für einen irrwitzigen Moment schoss eine heiße Freude in ihr hoch. Links, und du hast es geschafft, Baby. Links ist die Freiheit. Die Maus rannte nach rechts, zurück in die Zuchträume.

»Wissen sie es?«, fragte Sanela noch einmal.

Charlotte Charlie Rubin klappte das Buch zu und legte es zurück.

»Nur in den letzten Minuten.«

Mit zwei vollen Kaffeebechern überquerte Sanela die Piste. Auf der anderen Seite waren sie zur Hälfte leer und ihre Hände halb verbrüht. Sie drehte sich noch einmal um und sah gerade noch Charlies Gestalt hinter dem Efeu verschwinden, um die nächste Lieferung vergaste Ratten aus der Eisenkiste zu holen.

Sie brachte Gehring und Haussmann den Kaffee in die Klinik. An der Wand aufgereiht lagen die Körper von vier Pekaris, gerade trugen die Pfleger den nächsten Leib herein. Die Tiere atmeten noch, also waren sie nur ruhiggestellt. Sie strömten einen betäubend strengen Geruch aus.

Keiner der beiden Männer bemerkte sie. Sie sprachen leise mit einem dritten, der einen bodenlangen weißen Kittel trug und wahrscheinlich einer der Veterinäre war. Sie suchten Teile des Rückgrats, Oberschenkelknochen. Zerteilt und zermalmt von messerscharfen Zähnen. Der Veterinär hielt das für unwahrscheinlich. Haussmann ging zu einer Bache, hob ihr die Lefzen und strich mit seinem behandschuhten Zeigefinger über die Hauer.

Sanela machte beim Hinausgehen einen weiten Bogen um die Schweine. Sie war froh, dass ihre nächste Aufgabe sie wieder auf das sichere Terrain der schutzpolizeilichen Maßnahmen führen würde.

Der Weg vom Wirtschaftshof zum öffentlichen Teil des Tierparks führte hinter der Klinik am alten Elefantenhaus vorbei. Es roch nach Gülle und Stroh, fast lieblich nach allem, was an diesem Tag in ihre Nase gestiegen war. Sie blieb stehen.

Zu lieblich. Widerlich lieblich. Ekelhaft. Es roch nach verwesendem Fleisch.

Die Knochentonnen. Einen Moment blieb sie unschlüssig stehen. Sven wartete auf sie. Sie durfte sich keine weiteren Alleingänge erlauben. Sie sollte wieder hineingehen und die heilige Dreifaltigkeit der Spurensicherung informieren. Nein. Sie sollte die Beine in die Hand nehmen und sich beeilen, um ans Absperrband zurückzukehren und Schaulustige, quengelnde Kinder und dreiste Fotografen zurückzudrängen. Nein.

Sie sollte nachsehen.

Die Knochentonnen – blaue Kunststoffcontainer mit Schiebedeckel – standen an der rückwärtigen Ziegelwand der Klinik. Sie waren sorgfältig verschlossen, und trotzdem wurde der Geruch stärker, je näher sie seiner Ursache kam. Sanela wog ab, was sie dieser Alleingang kosten könnte. Die Spurensicherung hatte im Gehege und der Klinik alle Hände voll zu tun. Wer weiß, was Gehrings Ermittlungen noch alles zutage förderten. Vielleicht musste der ganze Tierpark geräumt und abgesucht werden. Und dann kam sie und schrie: Hallo! Guckt euch das mal an! Drei Container Knochen und Fleischabfälle. Wenn ihr das netterweise auch noch durchwühlen könntet?

Aber es fehlten Leichenteile. Die Überreste eines Mannes, der einem Gewaltverbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen war. Wenn die Bäuche der Schweine nicht hergaben, was Haussmann sich erhoffte, suchten sie einen Mörder.

Sie blieb stehen, weil sie glaubte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Plötzlich waren überall Geräusche. Das Rascheln des Windes in trockenen Blättern. Der Verkehr auf der vierspurigen Straße stadteinwärts. Ein Knacken, vielleicht das Brechen eines Zweiges unter schweren Sohlen. Sie tastete nach ihrer Waffe, bereit, sie sofort zu ziehen. Langsam drehte sie sich um, weg von den Containern und der Ziegelwand der Klinik, hin in Richtung altes Elefantenhaus. Und plötzlich sah sie es.

Niedrige Bungalows duckten sich in seinem Schatten. Sie wirkten unbewohnt, wie verlassene Behelfsheime oder Flüchtlingsbaracken, nachdem die Karawane weitergezogen war. Drei, vier kleine Häuser, ebenerdig, mit spitzen Dächern und winzigen Fenstern. Eines stand offen. Eine Gardine hing heraus und bewegte sich sachte im Wind.

Sanela ließ die Hand sinken und atmete durch. Die Phantasie hatte ihr einen Streich gespielt. Vielleicht auch die Nerven. Das mussten die Wohnungen sein, die Charlie gemeint hatte, denn die Lichtenberger Plattenbauten waren viel zu weit entfernt. Diese kleinen Häuser aber standen auf dem Tierparkgelände, in unmittelbarer Nähe der Knochentonnen. Ein offenes Fenster. Unbegreiflich, denn der Geruch lag wie ein unsichtbares Leichentuch in der Luft.

Etwas huschte zwischen ihren Beinen hindurch. Fast hätte sie aufgeschrien. Es war eine weiße Maus. Ob es die Maus war, die der Futtertierbaracke entkommen war, wusste Sanela nicht. Aber sie nahm es zu ihren Gunsten an, und die kleine diebische Freude ließ sie lächeln. Sieh an, dachte sie. So sicher ist der Tod also doch nicht.

Sie zuckte zusammen, als direkt über ihr eine heisere Stimme zu krächzen begann. Andere fielen ein. Ein Schwarm Krähen stob aus einer der Buchen auf, erhob sich in die Luft und umkreiste die freie Fläche zwischen der Klinik und den Wohnhäusern auf der Suche nach Beute. Die Maus war verschwunden. Ihre Chancen lagen schlagartig bei null.

Die Schutzpolizistin ging zu den Containern, holte ein Taschentuch hervor und hielt es sich unter die Nase. Der Deckel ließ sich kaum bewegen. Sie nahm alle Kraft zusammen, schob ihn zurück, und noch bevor sie einen Blick hineinwerfen konnte, fiel ein Schatten auf die Hauswand. Sie begriff zu spät, dass es der Umriss eines Menschen mit erhobenen Armen war. Zu spät, dass er etwas Schweres in den Händen trug und ausholte. Zu spät, um herumzuwirbeln. Noch im Ansatz wurde die Bewegung durch einen furchtbaren Schlag gestoppt. Er war so gewaltig, dass sie noch nicht einmal mehr den Schmerz spürte.

Das Dorf der Mörder
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