10

Drei Tage später überließ es Professor Dr. Dr. Gabriel Brock Mieze, seinen Koffer in die Wohnung im Stockwerk über der Praxis zu bringen, was die kleine, stämmige Frau gerne tat. Inzwischen hatte auch Jeremy Saaler gehört, dass der Chef zurückgekommen sein musste. Der junge Mann eilte ihm im Flur entgegen und begrüßte ihn mit einem beinahe euphorischen Lächeln.

Brock hatte Mühe, es nicht zu erwidern. Er mochte den Jungen. Es hatte seine Zeit gedauert, denn zunächst war Jeremys Bewerbung nichts anderes als die Bitte um eine Gefälligkeit gewesen, die abzulehnen er sich fürchtete. Doch dann hatte er den jungen Diplompsychologen kennengelernt. Auch wenn sein Schützling es vielleicht nicht wusste – Jeremy war ein Suchender, der noch nicht begriffen hatte, dass er seine wahre Leidenschaft gefunden hatte. Es musste mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn Saaler zu tun haben. Der eine ein bestimmender Patriarch, der Widerspruch nicht duldete, der andere herangewachsen im Bewusstsein, vorgeebnete Wege zu gehen, und der diese Wege deshalb nicht als die seinen betrachtete.

Brock waren die Zweifler lieber. Die, die sich lange prüften und nicht blenden ließen von akademischen Bildungsgraden und Professorenwürden. Er war froh, dass er ihm und sich diese Chance gegeben hatte. Daran musste er denken, als er Jeremys nur mühsam unterdrückte Freude bemerkte.

Der Anruf hatte ihn auf dem Weg zu einem gemeinsamen Essen mit Kollegen aus Philadelphia, Wien und Sydney erreicht. Erst hatte er nicht begriffen, was sein Mitarbeiter in den Hörer gestammelt hatte.

Sie redet mit mir.

Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und ließ Jeremy den Vortritt. Der Junge vermied es, die Stelle anzusehen, an der Charlotte Rubin fast verblutet wäre. Mieze hatte einen hässlichen Läufer darübergelegt. Während der Sommerferien würde er den Teppich austauschen lassen.

»Setzen Sie sich.«

Er nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.

»Hatten Sie eine gute Reise?«

»Danke.« Brock strich sich über die Augen. »Der Jetlag ist in diese Richtung mörderisch. Ich werde früh zu Bett gehen.«

Er griff nach den Zeitungen der letzten Tage und überflog kurz die Überschriften. Dabei bemerkte er, wie Jeremy unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.

»Nun schießen Sie schon los.«

»Ich habe sie im Krankenhaus besucht. Eigentlich wollte ich nur nachfragen, ob wir nächste Woche weitermachen können. Sie hat sehr viele Blutkonserven bekommen, aber das Schlimmste ist überstanden. Wir haben über Wiesenblumen gesprochen. Ich habe ihr welche mitgebracht. Sie erinnerten sie an ihre Kindheit.«

»Interessant.« Brock lächelte nun doch. »An was genau?«

Etwas musste geschehen sein zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Menschen. Der angehende Psychologe und die überführte Mörderin. Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt, sagt der Talmud. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast, sagt Antoine de Saint-Exupéry. Jeremy jedenfalls hatte seine Berührungsängste in dem Moment aufgegeben, in dem er tatsächlich Hand anlegen musste. Brock war die Befangenheit des jungen Arztes nicht entgangen, mit der er Charlotte Rubin begegnet war. Aber seit diesem Zwischenfall schien sich etwas verändert zu haben. Er hoffte, dass Jeremy stark genug war, seine Gefühle zu beherrschen und sie nun nicht auf die andere Seite ausschlagen zu lassen.

Sein Gegenüber dachte kurz nach.

»An Sommertage. Und das Wetter. Sie schien glücklich zu sein, als sie daran dachte. Und dann hatte sie eine Halskette im Krankenhaus, die ihr einer der Seelsorger dort gebracht haben muss. Auf dem Anhänger ist die heilige Katharina zu sehen, die Schutzheilige der … ähm …«

Jeremy war es offenbar entfallen. Brock half ihm.

»Der Mädchen, Jungfrauen, Ehefrauen und der Zunge.«

»Der Zunge?«

»Sie wird bei Krankheiten der Zunge angerufen. Was auch immer man darunter verstehen mag.« Brock öffnete die Seitentür seines Sekretärs und ließ die Hängeregistratur herausfahren. »Symbolik, Hermeneutik und Allegorie sind oft Ausdrucksformen, wenn die Sprache allein nicht reicht. Es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen. Dieser Seelsorger muss es sehr gut mit unserer Patientin meinen.«

»Wieso?«

»Die heilige Katharina soll Frau Rubin vielleicht das Reden erleichtern.«

Oder sie daran hindern, dachte Brock. Er suchte einen Bleistift, um sich diesen Gedanken zu notieren, fand aber keinen. Dann fiel ihm ein, dass die Polizei sie mitgenommen hatte. Jeremy reichte ihm einen Kugelschreiber.

»Danke.« Brock griff nach der Akte Rubin, die ganz vorne hing, und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus.

»Ist Frau Rubin noch im Krankenhaus?«

»Nein. Sie wurde gestern in die JVA Lichtenberg zurückverlegt. Herr Staatsanwalt Rütter bittet darum, dass wir rechtzeitig Bescheid sagen, wenn wir mit dem Gutachten in Verzug geraten.«

»Was sagen die Ärzte?«

»Kein Problem. Wir könnten nächste Woche fortfahren.«

»Gut.« Brock betätigte mehrmals den Druckknopf des Kugelschreibers. Jeremy betrachtete das als Aufforderung zum Gehen und stand auf.

»Herr Saaler …«

»Ja?«

»Ihre Abneigung gegen Frau Rubin hat sich mittlerweile relativiert?«

»Meine Abneigung?« Jeremy sah aus, als hätte man ihn bei etwas Unredlichem ertappt. »Sie ist krank, egal ob sie zurechnungsfähig ist oder nicht. Wer so ein Verbrechen plant und ausführt, ist ziemlich weit von allem entfernt, was ich als normal bezeichnen würde. Aber ich habe keine Abneigung. Sie ist eine Patientin.«

»Das wissen wir noch nicht. Erst wenn wir uns ein abschließendes Urteil gebildet haben, und davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem war ich erstaunt und erfreut, dass sie Ihnen gegenüber ihre Zurückhaltung aufgegeben hat. Ich möchte Sie gerne bei der nächsten Sitzung dabeihaben. Können Sie das einrichten?«

»Ja. Selbstverständlich.«

»Wann wäre das? Vorausgesetzt, die Ärzte geben grünes Licht.«

»Nächste Woche Donnerstag. Mieze … also Frau Katz hat das schon in den Terminkalender eingetragen, allerdings mit Fragezeichen.«

»Gut«, murmelte Brock und beugte sich über die Akte.

Jeremy ging. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Brock wieder hoch. Dann griff er zum Telefon und rief seine Sprechstundenhilfe an.

»Finden Sie bitte heraus, ob Seelsorger des katholischen Krankenhauses uneingeschränkt Zugang zu Untersuchungshäftlingen in der Klinik haben.«

Nachdem Mieze ihm die schnellstmögliche Erledigung des Auftrages zugesichert hatte, nahm er sich seine Aufzeichnungen vor. Er war so weit davon entfernt, Charlotte Rubin zu verstehen. Er war erst am Anfang. Drei Tage, mehr Zeit gab es nicht, um das komplexe Wesen eines Menschen zu erfassen und ein Urteil darüber zu fällen.

Er versuchte es mit dem einfachsten Schema: der Tat. Sie war in logischen, aufeinanderfolgenden Schritten begangen worden. Strukturiert und, wenn auch unter Zeitdruck, geplant. Rubin hatte auf gar keinen Fall psychotisch gehandelt. Wirr wurde es erst, als diese Polizistin dazugekommen war und, wie ihm schien, auf eigene Faust ermittelt hatte. Damit hatte Rubin unter Stress gestanden und einen Fehler nach dem anderen gemacht. Er blätterte durch die Papiere und suchte nach dem Bericht der Mordkommission.

Kriminalhauptkommissar Gehring, Lutz Gehring. Er musste relativ jung sein, anders war sein Ton schwer zu erklären. Autoritär und äußerst gewissenhaft. Alles genau festhalten. Und gar nicht erst Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich so und nicht anders zugetragen hatte. Er beschrieb, wie Rubin die junge Frau, eine Streifenpolizistin, schwer verletzt und dann die Flucht ergriffen hatte.

Brock sah seine Vermutung bestätigt. Zunächst dieses kalte, fast unmenschlich präzise Morden. Und dann – ein Schlag, sie floh, versuchte noch nicht einmal, Fingerabdrücke und Opfer verschwinden zu lassen, rannte kopflos davon und wurde an einer Straßenbahnhaltestelle durch Zufall entdeckt.

Diese Polizistin musste Rubin völlig aus dem Takt gebracht haben. Brock suchte sich die Aussage der Frau heraus. Sanela Beara. Kroatin mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Draußen zog ein Gewitter auf. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen und verschluckten das Sonnenlicht. Die Schwüle war beinahe unerträglich. Brock machte die Schreibtischlampe an, damit er nicht zu seiner Lesebrille greifen musste. Seit er ihre Notwendigkeit schweren Herzens eingesehen hatte, war es zu seiner persönlichen Herausforderung geworden, sie so lange wie möglich nicht zu benutzen.

Bevor er sich noch einmal den wenigen Sätzen widmete, die PM Beara zu Protokoll gegeben hatte, ließ er seine Gedanken zurückwandern in die Jahre, in denen er selbst seine Facharztausbildung gemacht hatte. Ein junger, idealistischer Psychologe, der gemeinsam mit Rechtsanwälten und Psychiatern versucht hatte, die Abschiebung von traumatisierten Bosnienflüchtlingen zu verhindern. Das Schicksal dieser Menschen, die so viel erleiden mussten, hatte ihn in einen Strudel von Verzweiflung und Hilflosigkeit hinabgezogen, aus dem ihn erst die Begegnung mit seiner späteren Frau Mechthild gerettet hatte. Von ihr hatte er gelernt, sein Helfersyndrom in produktive wissenschaftliche Arbeit zu kanalisieren.

Traumatherapie. Ob Sanela Beara und ihre Familie viel verarbeiten mussten? Er ertappte sich dabei, dass er sie gerne gefragt hätte, warum sie diesen Beruf gewählt hatte. Doch dann rief er sich zur Ordnung. Das hatte nichts mit dem Fall zu tun. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, es hätte jedem passieren können.

Wirklich?

Brock hatte lange gebraucht, um auch den Zufall als Motiv zu akzeptieren. Er war immer noch überzeugt, dass es Mechanismen gab, die die Willkür lenkten. Oft waren sie noch nicht einmal dem Täter bewusst. Er las die wenigen Sätze durch, die die Beamtin zu Papier gebracht hatte. Perfektes Deutsch, korrekte Grammatik. Wenn sie das geschrieben hatte, dann war sie gut in der Schule gewesen. Sehr gut sogar. Dann war sie unterfordert in ihrem Job und würde über kurz oder lang unzufrieden sein. Würde es besser machen wollen als die anderen.

Er merkte, dass ihn die Streifenpolizistin mehr interessierte als die geständige und überführte Charlotte Rubin. Konzentration bitte, dachte er. Zurück zu unserer Täterin.

Die Frage war also nicht, warum Rubin ihre Taktik geändert hatte. Sondern, wie viele Taktiken sie eigentlich verwendete und was dies mit ihrer Persönlichkeit zu tun hatte. Brock tappte noch im Dunkeln, aber in seinem Kopf begann bereits eine Theorie Gestalt anzunehmen. Dissoziative Identitätsstörung. Borderline. Vielleicht auch eine schizotype Persönlichkeit, dazu würde die heilige Katharina passen.

Brock klickte erneut mit dem Kugelschreiber herum und begann, sich Notizen zu machen. Fragen, ob die Heilige Kontakt zu R. aufnimmt. Wahnvorstellung? Wenn ja, wann hat das angefangen?

Er strich die Sätze durch. Er war noch nicht so weit, den nächsten Schritt zu gehen.

Er würde Jeremy bitten, diesen Part zu übernehmen.

Das Dorf der Mörder
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