43

Jeremy?«

Ein Flüstern, dünn wie Cellophanpapier.

»Kannst du mich hören?«

Er verstand die Worte nicht. Nur die Kühle spürte Jeremy an der Stirn. Er lag mit dem Kopf auf einem Steinfußboden, unfähig, sich zu rühren. Noch nicht einmal die Augen konnte er öffnen. Der erste Sinn, der zu ihm zurückkehrte, war das Fühlen. Kälte. Dunkelheit. Nacht? Der zweite war das Riechen. Ein Hauch von gebratenem Speck. Der dritte das Hören.

»Wenn du mich hörst, gib mir ein Zeichen. Bitte. Tu was!«

Er war unfähig, sich zu bewegen. Dann spürte er, wie jemand sich über ihn beugte und ein warmer Atem sein Gesicht streifte.

»Wach auf!«

Cara. Der Name schoss wie ein Pfeil in sein Herz und ließ es schneller schlagen. »Gottverdammte Scheiße.«

Mit diesem Fluch entfernte sich ihre Stimme wieder. Geh nicht weg, wollte er denken, aber weiter als über das erste Wort kam er nicht hinaus. Der Rest blieb Gefühl. Bleib … halt …verlass … was ist … was ist passiert?

»Ich glaube, er kommt zurück.« Ein Geräusch, als ob ein Stuhl verrückt und Stoff über eine Feile gezogen würde. »Ich krieg diese Fesseln nicht auf. Jeremy!«

Er stöhnte. Seine Zunge lag wie ein Fremdkörper in seinem Mund. Ein dicker, pelziger, geschwollener Wurm.

»Ich würde dir ja gerne einen Eimer Wasser ins Gesicht kippen«, zischte sie. »Aber mir sind leider die Hände gebunden. Streng dich an!«

Er sandte alle Kraft, allen Willen in seine Glieder. Seinen Augen gelang nur ein winziges Blinzeln. Seine Hände waren gefühllos, abgestorben.

»Er ist weg. Ich weiß nicht, wohin. Aber ich glaube, er kommt gerade zurück. Kannst du mich verstehen?«

»Ja«, stöhnte er. Zwei Zähne wackelten, er spuckte etwas Blut. »Was ist passiert?«

»Er hat dich k.o. geschlagen. Dann hat er uns gefesselt und hier liegen gelassen.«

Mühsam drehte Jeremy sich auf die Seite. Sein Kopf lag immer noch auf dem Boden. Das Erste, was er sah, war ein umgekippter Stuhl. Sein Blick tastete sich nach oben. Cara hatte die Hände auf dem Rücken und versuchte verzweifelt, ihre Fesseln am Stahlrohr der Lehne aufzuscheuern.

»Wer ist dieser Kerl?«

»Ich kenne ihn. Wir haben als Kinder zusammen gespielt. Er war total in Charlie verschossen. Marten Wahl. Der Sohn von Walburga. Er muss einen Unfall gehabt haben. Er hinkt. Er hat sich völlig verändert, ich habe ihn fast nicht wiedererkannt. Seit er weg ist, versuche ich, die Schnur an einem kaputten Stuhlbein durchzuschneiden, aber es klappt nicht. Es klappt einfach nicht!«

Ihre Stimme kippte beinahe vor Verzweiflung.

»Es tut mir so leid, Jeremy. So leid.«

Sie schluckte die Tränen weg. Die Haustür wurde geöffnet, Jeremy erkannte das Quietschen wieder.

»Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte. Wenn nicht … Dein Professor hatte Recht, mit allem. Ich gehe zu ihm, das verspreche ich dir. Hauptsache, wir kommen hier wieder raus. Marten hat Bruno getötet. Und ich weiß nicht, was er noch alles gemacht hat, sonst würde er uns hier ja nicht festhalten.« Schwere, unregelmäßige Schritte kamen durch den Flur. »Das ist er. Verdammt.«

Jeremy gelang es immer noch nicht, sich aufzurichten. Da auch sein Hinterkopf höllisch schmerzte, vermutete er, dass er nach diesem Faustschlag an die Wand geknallt und gestürzt war. Jetzt sah er, wie die Küchentür aufging. Die Beine des Mannes kamen ins Bild.

»Hilfe«, schrie Cara. Ihre Stimme überschlug sich fast. »Hilfe!«

»Hier hört dich keiner. Ich hab dir gesagt, du sollst sitzen bleiben und warten, bis ich wiederkomme.«

Er zog Cara mitsamt dem Stuhl hoch.

»Was du sagst, interessiert mich einen Dreck«, fauchte sie. Jeremy fand das in ihrer Situation nicht klug. »Lass mich! Nimm deine Pfoten weg!«

Er ging ungerührt zu Jeremy und überprüfte die Fesseln. Sein Hemd stand zwei Knöpfe weit offen. Er trug eine Silberkette. Noch bevor Jeremy genauer hinsehen konnte, richtete sich Marten, offenbar zufrieden, wieder auf.

»Das tut weh! Mach mich los!«

»Deine Schuld. Wärst du einfach geblieben, wo du warst.«

»Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe! Bist du jetzt völlig durchgedreht?«

Zwei schnelle Schritte, ein unterdrücktes Stöhnen. Er musste ihr Schmerzen zufügen oder die Kehle zudrücken.

»Lassen Sie sie los!« Jeremy wusste nicht, wie es ihm gelungen war, diese Worte zu formulieren. Er krümmte sich zusammen, und in dieser Lage gelang es ihm tatsächlich, sich aufzurichten. Der Mann – Marten, Walburgas Sohn – ließ tatsächlich die Hand von Caras Kehle sinken und drehte sich erstaunt zu ihm um.

»Du hältst dich da raus. Sonst setzt es gleich noch eins.«

»Was wollen Sie von uns?«

Marten zog einen Stuhl zu sich heran. Das schrille Geräusch der Metallbeine auf dem Steinboden bohrte sich in Jeremys Kopf wie eine Kreissäge.

»Ich bin Charlies Freund. Auch nach ihrem Tod.«

Cara stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Charlies Freund? Träum weiter. Das wüsste ich.«

Die Körperhaltung ihres Peinigers straffte sich. Fast sah es so aus, als ob er Cara wieder an die Kehle gehen würde.

»Du weißt gar nichts«, presste er hervor. »Du hast keine Ahnung von deiner Schwester. Du hast dich nie gefragt, was mit ihr los war. Du bist eine egoistische Schlampe und hast immer nur an dich gedacht.«

»Bist du jetzt auch unter die Irren gegangen, oder was?«

Er beugte sich vor und nahm ihr Gesicht mit einer Pranke in den Schraubstock. »Sag nicht so was.« Seine Stimme wurde sanfter, büßte aber dadurch nichts von ihrer Gefährlichkeit ein. »Wenn jemand wusste, was Charlie mitgemacht hat, dann ich. Du hast doch nur ab und zu eine Schelle bekommen und den Abwasch machen müssen. Charlie hat alles von dir ferngehalten. Alles.«

»Was denn?«

Er ließ sie los. »Du bist keinen Deut besser als der Rest von Wendisch Bruch. Augen zu, Ohren zu und an sich selber denken. So funktioniert das hier.«

»Ich habe keine Ahnung, von was du redest!«

»Nein?«, brüllte er. Jeremy zuckte zusammen. Aber Cara schien es überhaupt nichts auszumachen, dass sie Marten bis aufs Blut reizte. »Ich kann es nicht mehr hören: Ich wusste das nicht! Keiner hat es mir gesagt! Aber wer Augen hat, der sehe! Wer Ohren hat, der höre! Wer Herz hat, Cara, der fühle.«

»Ich habe ein Herz, aber ich zeige es nicht jedem hergelaufenen Penner!«

Die Ohrfeige klatschte so schnell auf Caras Wange, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet. Ihr Kopf flog zurück, sie stöhnte auf, unterdrückte aber einen Schrei.

»Danke«, sagte sie leise. »Danke, dass du mich daran erinnerst, welche Sprache hier gesprochen wird.«

Marten rieb sich die Hand, mit der er Cara geschlagen hatte. Er war verunsichert. Am liebsten hätte er sie wohl um Verzeihung gebeten, aber das konnte er nicht. Er spielte die Rolle des Rächers, da entschuldigte man sich nicht. Jeremy wusste nur nicht, was Marten eigentlich rächte. Und welche Rolle er ihnen beiden dabei zugedacht hatte.

»Hör auf mit diesem Schmierentheater«, sagte er ärgerlich. »Damit kannst du vielleicht solche Lackaffen wie den da um den Finger wickeln, aber nicht mich.«

»Sie werden damit nicht davonkommen«, sagte Jeremy.

Der Mann drehte sich abrupt zu ihm um. Jeremy war bewusst, wie ungleich die Machtverhältnisse verteilt waren. Alles, was er wollte, war, die Aggressivität, die Marten gegen Cara richtete, von ihr abzuziehen.

»Mit was denn?«, fragte er, gefährlich ruhig. »Charlie ist tot. Schuld daran sind nicht nur die, die mitgemacht haben. Sondern auch die, die nicht sehen wollten, was sich vor ihren Augen abgespielt hat. Cara ist eine von denen.«

»Cara ist hier, um sich zu erinnern.«

»Ach ja, ist sie das?«

»Wenn Sie irgendetwas zu sagen haben, dann tun Sie es.« Jeremy gelang es, trotz seiner gefesselten Hände einigermaßen gerade zu sitzen. »Helfen Sie ihr. Und sich. Sie sind doch am Ende. Wenn das Ihrer Weisheit letzter Schluss ist, zwei unschuldige Menschen zu fesseln und einzuschüchtern, dann haben Sie es wirklich nicht weit gebracht.«

»Meiner Weisheit letzter Schluss.« Marten drehte sich betont anerkennend zu Cara um. »Einen Studierten hast du hier angeschleppt. Einen, der glaubt, es würde ums Einschüchtern gehen. Als ob es das wäre, was hier jemals gezählt hat.«

Er stand auf und ging auf Jeremy zu, der sich nun sicher sein konnte, die ganze Aufmerksamkeit des Mannes auf sich gelenkt zu haben. Hinter ihm sah er, wie Cara erneut verzweifelt versuchte, ihre Fesseln zu lockern.

»Hier geht es um Taten«, sagte Marten. Er stieß seine Schuhspitze in Jeremys Seite. »Um vollendete Tatsachen. Ich habe nie jemanden eingeschüchtert. Damit wäre ich hier nicht weit gekommen. Weißt du was?«

Er ging in die Hocke. Jeremy erkannte auf dem verunstalteten Gesicht mit der schiefen Nase eine Narbe. Sie zog sich quer über die rechte Wange und über den Mund. »Ich wollte, dass sie wissen, wenn es ans Sterben geht. Leyendecker, der Mann im Tierpark, hat es gewusst. Er wurde bei lebendigem Leib gefressen. Und jetzt interessiert dich sicher, welches perverse Hirn sich das ausgedacht hat. War es Charlie? War es vielleicht ihre süße Schwester Cara? Oder ich? Oder vielleicht alle zusammen, die jetzt selber im Dreck liegen?«

»Du hast sie doch nicht mehr alle!«, schrie Cara.

Blitzschnell drehte sich Marten zu ihr um, sie erstarrte gerade noch rechtzeitig, sodass er ihre verzweifelten Bemühungen, sich der Fesseln zu entledigen, nicht mitbekam.

»Zu dir komme ich noch.«

Zu Jeremys größtem Erstaunen packte der Mann ihn am Arm und zog ihn hoch. Er war einen halben Kopf größer als er selbst. Seine Hand war schwielig, sein Griff fest, aber nicht schmerzhaft. Er wollte nicht quälen, noch nicht. Er wollte einfach nur alles, was ihn störte, so schnell wie möglich aus dem Weg schaffen.

»Du willst es wirklich wissen?«

»Ja«, keuchte Jeremy im Würgegriff.

»Wegen dieser kleinen Schlampe da?«

Cara hörte für einen Moment auf, an ihren Fesseln zu zerren. Sie sah erschrocken zu Jeremy, als wäre seine Antwort auch ein Urteil.

»Wegen ihr und allen anderen auf dieser Welt, die man vor Leuten wie dir schützen muss.«

Der Griff lockerte sich etwas. Martens Blick wanderte über Jeremys Gesicht, blieb schließlich an dessen Augen hängen.

»Und wenn es zu spät ist?«

»Es gibt kein zu spät«, sagte Jeremy. »Das akzeptiere ich nicht.«

Marten ließ ihn los. Schwer atmend kippte Jeremy vornüber, konnte sich aber noch auf den Beinen halten. Der Schmerz in seinem Kopf sandte rasende Impulse in alle Körperregionen. Marten griff nach seiner Schulter und zog ihn ein paar Schritte Richtung Küchentür.

»Dann«, sagte Marten, »wirst du es lernen.«

Das Dorf der Mörder
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-09287-0.html
978-3-641-09287-0-1.html
978-3-641-09287-0-2.html
978-3-641-09287-0-3.html
978-3-641-09287-0-4.html
978-3-641-09287-0-5.html
978-3-641-09287-0-6.html
978-3-641-09287-0-7.html
978-3-641-09287-0-8.html
978-3-641-09287-0-9.html
978-3-641-09287-0-10.html
978-3-641-09287-0-11.html
978-3-641-09287-0-12.html
978-3-641-09287-0-13.html
978-3-641-09287-0-14.html
978-3-641-09287-0-15.html
978-3-641-09287-0-16.html
978-3-641-09287-0-17.html
978-3-641-09287-0-18.html
978-3-641-09287-0-19.html
978-3-641-09287-0-20.html
978-3-641-09287-0-21.html
978-3-641-09287-0-22.html
978-3-641-09287-0-23.html
978-3-641-09287-0-24.html
978-3-641-09287-0-25.html
978-3-641-09287-0-26.html
978-3-641-09287-0-27.html
978-3-641-09287-0-28.html
978-3-641-09287-0-29.html
978-3-641-09287-0-30.html
978-3-641-09287-0-31.html
978-3-641-09287-0-32.html
978-3-641-09287-0-33.html
978-3-641-09287-0-34.html
978-3-641-09287-0-35.html
978-3-641-09287-0-36.html
978-3-641-09287-0-37.html
978-3-641-09287-0-38.html
978-3-641-09287-0-39.html
978-3-641-09287-0-40.html
978-3-641-09287-0-41.html
978-3-641-09287-0-42.html
978-3-641-09287-0-43.html
978-3-641-09287-0-44.html
978-3-641-09287-0-45.html
978-3-641-09287-0-46.html
978-3-641-09287-0-47.html
978-3-641-09287-0-48.html
978-3-641-09287-0-49.html
978-3-641-09287-0-50.html
978-3-641-09287-0-51.html
978-3-641-09287-0-52.html
978-3-641-09287-0-53.html
978-3-641-09287-0-54.html
978-3-641-09287-0-55.html
978-3-641-09287-0-56.html
978-3-641-09287-0-57.html
978-3-641-09287-0-58.html