36

Cara?« Jeremy lief die Straße entlang. Erst ganz normal, um nicht aufzufallen. Ab der Kreuzung beschleunigte er seine Schritte. »Cara!«

Je näher er dem Ortsausgang kam, desto sicherer wurde er, dass sie zum Aussiedlerhof gegangen war. Sie sollte dort nicht alleine hingehen. Er musste bei ihr sein, wenn sie sich ihren Erinnerungen stellte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Cara?«

Er nahm eine Bewegung in einem der zugewachsenen Gärten zu seiner Rechten wahr und blieb stehen. Gewaltiger Goldregen, wuchernde Schafgarbe. Ein knorriger, bemooster Apfelbaum. Das halb offene Gartentor bewachte einen Weg aus gesprungenen Feldsteinen.

»Cara? Bist du hier?«

Er ging auf das Tor zu, stockte, blieb stehen. Für einen Moment hatte er die alte Frau auf einer Steinbank am Haus für eine skurrile Steinskulptur gehalten, so verwachsen schien sie mit dem Efeu, so ähnlich die Farbe ihres grauen, verwitterten Gesichts mit dem bröckelnden Putz der Wände. Sie musste uralt sein, und sie rührte sich nicht.

»Verzeihung«, stammelte Jeremy. »Ich wollte Sie nicht … ist hier gerade jemand vorbeigekommen?«

Vorsichtig kam er näher. Was stimmte nicht mit dieser Frau? Warum bewegte sie sich nicht? Sie trug trotz der Hitze ein langes Wollkleid und viel zu weite Stützstrümpfe, über die sie auch noch Socken gezogen hatte. Neben ihr, an die Bank gelehnt, stand ein Stock.

»Ist alles in Ordnung?«

Ihre Lider flatterten. Dann traf Jeremy ein Blick, der ihn erschauern ließ. Er kam aus schwimmenden, fast verblassten Augen, halb blind, und tastete ihn ohne ein Zeichen von Gefühl von oben bis unten ab.

»Sie sind Esther?«, fragte er. Ihm fiel niemand anderer ein, auf den das Wort steinalt so gut gepasst hätte. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Die Augen schlossen sich wieder. Mit einem Seufzen sank ihr Kopf zurück an die Wand. Der halb geöffnete Mund, die spitze Nase und das kleine Kinn ließen sie aussehen wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel – beängstigend und mitleiderregend zugleich.

»Ich suche Cara. Cara Spornitz. Ist sie hier vorbeigekommen?«

Ihre knotigen Finger tasteten nach dem Stock. Als sie ihn gefunden hatte, beugte sie sich nach vorne und stützte ihre gefalteten Hände auf die Krümmung des Holzes.

»Heißt sie jetzt so?« Eine Stimme wie ein Reibeisen. Entweder hatte sie ihr Leben lang Zigarre geraucht oder Whiskey literweise in sich hineingeschüttet. Ihre Haut spannte sich mumienhaft über die hageren Züge. »Früher war sie eine von denen.«

Jeremy, der sich eigentlich schon gedanklich wieder auf dem Rückzug befunden hatte, horchte auf.

»Früher?«, fragte er und überlegte, ob er wohl für einen Moment neben ihr Platz nehmen könnte. »Wann war denn das?«

»Als ich noch laufen konnte, junger Mann. Noch hören und sehen.« Ihre Finger bewegten sich klauenhaft um den Stock. »Heute ist alles tot. Alles ist tot heute.«

»Darf ich?«, fragte er. Sie reagierte nicht. Er setzte sich und sah auf seine Uhr. Wenn Cara sich verspätete und zurück zur Kirche kam, würde sie auf jeden Fall hier vorbeikommen. Er konnte sie gar nicht verfehlen.

»Aber es blüht doch so schön bei Ihnen.« Er wies auf den Apfelbaum, in dem die unreifen Früchte schwer in den Ästen hingen. Reiche Ernte. »Ihr Rhododendron ist eine Wucht.«

»Hortensie. Das ist eine Hortensie, junger Mann. Von Blumen haben Sie keine Ahnung. Von allem anderen auch nicht, was?«

»Ähm«, räusperte sich Jeremy verwundert. Er war es nicht gewohnt, gleich in den ersten Sätzen einer harmlosen Unterhaltung auf seine Defizite angesprochen zu werden. »Was meinen Sie?«

»Plötzlich kommen alle her. Fremde, die Fragen stellen. Also nur zu. Fragen Sie. Wir sind das Dorf der Mörder. Wir werden gerne bespuckt. Sie sind doch von der Presse, oder?«

Ihre Finger spielten mit dem Stock, mal schneller, mal langsamer.

»Nein. Ich bin mit Cara hier.«

»Das ist eine von denen.« Zur Bestätigung stieß sie kurz die Spitze des Stockes in den Boden. Er bestand, anders als der Rest des Gartens, aus verwitterten Holzbohlen. Wahrscheinlich eine alte Luke zum Einstieg in den Keller. »Vom Hof. Was will sie hier? Soll sich fortscheren.«

»Was haben eigentlich alle gegen sie? Cara war doch fast noch ein Kind, als sie hier wegging.«

Wieder traf ihn ein Blick aus den wässrigen Augen. »Kinder sind unschuldig, ja? Glauben Sie das, ja? Natürlich. Jeder glaubt das, wenn sie sabbernd und lächelnd an der Brust liegen. Aber sie werden älter, und sie sind schlimmer als Tiere. Sie sind grausam. Tiere sind das nicht.«

Sie schien sich warmzureden. Mit der Sprache musste es bei ihr wie mit ihren steifen Gliedern sein: Am Anfang schwergängig, schleifend, aber nach ein paar Sätzen sprang der Motor wieder an.

»Haben Sie schon mal gesehen, wie Kinder kleine Katzen an ein Hoftor nageln? Wie sie aus dem Nest gefallene Vögel zertreten? Fröschen die Beine rausreißen? Regenwürmer so lange zerschneiden, bis sich keines der Stücke mehr regt? Und wie sie mit anderen Kindern umgehen. Beim Baden fast ersäufen. Vom Heuboden werfen. Mit der Mistgabel aufspießen. In die Sickergrube werfen. Kinder. Pah.«

»Muss ja viel los gewesen sein hier.« Mehr fiel Jeremy zu dieser Hasstirade nicht ein. Esther schüttelte den Kopf.

»Nichts war los. Gar nichts. Langeweile. Wenn dann die Grausamkeit dazukommt …«

»Waren alle Kinder so?«

Sie stieß wieder mit dem Stock auf. Ein hohles, dumpfes Geräusch. »Alle. Alle. Ohne Ausnahme. Sie auch, junger Mann. Tun Sie nicht so, als hätten Sie schon immer höflich neben Mumien auf einer Gartenbank gesessen.«

Jeremy spürte, wie sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er holte es heraus und warf mit klopfendem Herzen einen Blick aufs Display. Brock.

»Danke«, sagte er und stand auf. »Ich suche dann mal weiter.«

Die Alte warf ihm einen Vogelblick zu, von unten nach oben. »Sie werden sie nicht finden. Sie kommen und gehen. Sie sind wie die Hunde, nachts. Werfen Sie Steine nach ihnen. Dann verschwinden sie.«

»Ja. Natürlich. Steine.«

Jeremy eilte zurück auf die Straße und nahm das Gespräch mit einem hastigen »Herr Professor?« an.

»Herr Saaler!« Die Stimme seines Chefs klang verzerrt, der Empfang war nicht besonders gut. »Wo zum Teufel sind Sie? Ich höre gerade den Anrufbeantworter ab und kann nicht glauben, was Sie vorhaben. Sie wollen mit Frau Spornitz nach Wendisch Bruch fahren?«

»Ja.« Er war noch immer verwirrt über den Vorschlag, Steine nach Cara zu werfen. Zudem verdoppelte sich seine Stimme. Er konnte seine eigenen Worte wie einen verzögerten Hall nachhören. Das war irritierend. »Also, eigentlich sind wir schon hier. Das heißt, gerade ist sie wohl zum Hof. Ich bin gleich bei ihr.«

»Sie ist allein unterwegs?«

»Nein. Nein! Ich bin …« Jeremy erreichte die Mitte der ausgestorbenen Straße. Der Eingang zum Tor des Aussiedlerhofes war hundert Meter entfernt. Langsam setzte er sich in Bewegung.

»Jeremy, Sie müssen solche Aktionen mit mir abstimmen. Das ist unverantwortlich. Frau Spornitz steht noch immer unter dem Eindruck des Todes ihrer Schwester. Sie sollten sie nach Berlin bringen, aber nicht an den Ort des Ursprungs all dieser schrecklichen Ereignisse. Nicht jetzt, hören Sie?«

»Ich weiß.« Er bemerkte den ungeduldigen, ärgerlichen Unterton, in den er verfiel. Er fühlte sich wie ein Student im Erstsemester. Dabei wusste er, was er tat. Und wenn Cara endlich mit ihren Alleingängen aufhörte, konnte er sie auch unbeschadet nach Berlin bringen. »Wir bleiben auch nicht lange. Sie kann sich an nichts erinnern, was ihre Kindheit betrifft. Vielleicht hilft ihr der Besuch …«

»Er hilft ihr nicht! Jeremy! Kommen Sie sofort zurück!«

Der Empfang wurde noch schlechter. Jeremy konnte Brock kaum noch verstehen.

»Wir sind ja schon fast auf dem Weg. Es ist nur ein kleiner Abstecher. Herr Professor, glauben Sie mir. Cara ist bei mir in guten Händen.«

»… habe etwas gefunden … in den Akten … übersehen …«

»Herr Professor?«

Jeremy drehte sich um und warf einen Blick zurück zu Esthers Haus. Dort hätte er einen besseren Empfang. Dort saß aber auch eine Spinne in ihrem Netz, die am liebsten Kinder fraß.

»Herr Professor?«

» … Zauberer …«

»Was? Ich kann Sie nicht verstehen!«

Nichts. Die Verbindung war abgebrochen. Mit schlechtem Gewissen steckte Jeremy den Apparat zurück. Er hatte Brock noch nie so aufgeregt erlebt. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, Cara zu schnappen und Wendisch Bruch so schnell wie möglich zu verlassen. Er trieb sich zur Eile an und erreichte das Tor etwas außer Atem.

Vorsichtig stieß er es auf. Er hatte erwartet, dass es quietschen würde in seinen rostigen Angeln, aber offenbar war es gut geölt. Vor ihm lag, leer, ausgestorben, flimmernd in der Hitze der Mittagssonne, ein großer verlassener Hof.

»Cara?«

Langsam passierte er den Eingang und sah sich um.

»Cara? Bist du hier?«

Keine Antwort. Er ging ein paar Schritte auf ein Gebäude zu, das einmal das Wohnhaus gewesen sein musste. Blinde Fensterscheiben, einige zerschlagen – Steine, fiel ihm ein, und er musste sich schütteln beim Gedanken an die alte Frau in ihrem verwilderten Garten, die sich wohl so die Kinder vom Leib gehalten hatte.

Er war sich bewusst, dass er sich unbefugt auf diesem Gelände bewegte. Vielleicht verhielt er sich deshalb besonders vorsichtig und sah sich mehrmals um, bevor er auf den Eingang des Hauses zuging. Er hörte Betonbruch und Sand unter seinen Schuhsohlen knirschen und von weit her das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume und das Rascheln von trockenem Laub, das sich in einer Ecke des Hofes verfangen hatte. Aber er hörte keinen einzigen menschlichen Laut.

Die Tür war aus billigem Sperrholz, mehrfach aufgebrochen. An einigen Stellen hatte sich das Furnier gelöst und Blasen geworfen. Sie hing lose in den Angeln. Er brauchte nicht einmal die Klinke zu berühren, um sie aufzustoßen. Noch einmal sah er sich um. Das Gefühl von trostloser Einsamkeit wurde stärker. Cara war nicht hier. Niemand war hier. Seine Nervosität wuchs. Er war sich so sicher gewesen, dass ihre Schritte sie zu diesem aufgegebenen, verwahrlosten Ort geführt hatten. Und nun war er derjenige, der sich hier herumtrieb, während sie vielleicht schon längst an der Kirche war oder sich den Bauch mit Äpfeln vollschlug, im Gras lag hinter Walburgas Haus und in den bleiernen, hitzeverhangenen Sommerhimmel auf der Suche nach einer erlösenden Regenwolke schaute.

Sein Handy hatte wieder Empfang, allerdings nur zwei von fünf Balken. Er wählte ihre Nummer und wartete.

Von weit her, aus dem Haus, klangen die dudelnden Digitaltöne, die man immer noch als Klingeln bezeichnete. Als Caras Mailbox ansprang, stoppte die Musik. Jeremy, völlig perplex, unterbrach die Verbindung und versuchte es erneut.

Die einfältigen Töne geisterten durch die zerbrochenen Fenster nach draußen. Nach zwanzig Sekunden war der Spuk vorbei. Er trat aus dem gleißenden Sonnenlicht hinein in einen dunklen, muffig riechenden Flur.

Das Haus war größer, als es von außen den Anschein erweckt hatte. Als Jeremys Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er Steinfliesen auf dem Boden und eine Tapete, die sich zum Teil von den Wänden gelöst hatte oder abgerissen worden war. Halbe Bahnen hingen wie ein Theatervorhang herab. Er schob eine zur Seite und sah am Ende des Flurs eine breite Holztreppe, die in die oberen Geschosse führen musste. Die Türen zu den unteren Räumen waren, bis auf eine, entfernt worden. Alte, zum Teil gesprungene Fliesen in einem kränklichen Gelbton klebten noch an den Wänden, fast wäre er über einen Rest Linoleum gestolpert, der sich vom Boden löste.

Eine Abbruchruine, Spielplatz für Kinder, Schlafstatt für Obdachlose. Er ging auf die Treppe zu und warf dabei einen flüchtigen Blick in die offenen Räume. Einer, der größere, war vermutlich das Wohnzimmer gewesen. Der zweite vielleicht ein Elternschlafzimmer. In ihm lag eine aufgequollene, von undefinierbaren Flecken übersäte alte Matratze. Vor dem Fenster hing eine löchrige Decke, Müll, leere Verpackungen und andere Hinterlassenschaften – Lumpen? Alte Gardinen? – lagen überall verstreut herum. Aufgegeben, vergessen, sich selbst überlassen.

Am Fuß der Treppe blieb er stehen und rief noch einmal, bekam aber keine Antwort. Er spürte, wie unbehaglich ihm in diesem aufgegebenen Haus zumute war. Zum einen, weil es so offensichtlich verwahrloste, zum anderen, weil seine letzten Bewohner nicht zu den zivilisiertesten Menschen zu gehören schienen. Er war ein Eindringling. Jemand aus einer anderen Welt, von draußen, der störte.

Er wurde leiser, vorsichtiger. Er drückte auf die Wahlwiederholung. Die Musik hallte durch das Treppenhaus. Jeremy vermutete, dass sie aus dem Dachgeschoss kam. Nach drei Takten legte er auf. Er wollte ihren Namen rufen, zu ihr stürmen, aber er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Sie antwortete nicht, aber ihr Handy war in der Nähe. Es gab mehrere Erklärungen dafür, und keine gefiel ihm.

Vorsichtig betrat er die Treppe. Sie war massiv, aus dicken getischlerten Bohlen. Er überlegte, wann dieses Haus gebaut worden war. In den fünfziger Jahren, schätzte er. Funktional, stabil, belastbar. Kein Stuck, keine Verzierungen, nichts, was über den reinen Zweck der Behausung hinausging. Das Geländer war ein Lauf aus Holz, mit schwarzen Winkeleisen an der Wand befestigt. Er passierte eine weitere heruntergerissene Tapetenbahn, und ihm schien, als ob sich im ersten Stock der Vandalismus etwas verlieren würde. Die Treppe mündete in einen weiteren Flur, der schmaler geschnitten war als der im Erdgeschoss. Jeremy zählte vier Türen, die weit geöffnet waren. Ein leichter Luftzug verdrängte den muffigen Geruch, der unten geherrscht hatte, es war trockener, heller, aber nicht freundlicher.

So leise wie möglich schlich Jeremy über Glasscherben und abgebröckelten Putz von Zimmer zu Zimmer. Eine Tür quietschte, als er sie aus Versehen berührte. Das Geräusch erschien seinen Ohren so laut, so warnend, dass er zusammenzuckte und stehen blieb. Nichts regte sich. Die leeren Räume mit ihren altmodischen, schlecht verklebten Tapeten waren unbenutzt. Offenbar hatten die lichtscheuen Bewohner des Hauses nur das Erdgeschoss okkupiert.

»Cara?«, rief er leise und bekam keine Antwort.

Er kehrte zur Treppe zurück und machte sich an den Aufstieg ins Dachgeschoss. Die Stufen knarrten und würden sein Kommen verraten. Er hatte keine Waffe bei sich, nur sein Handy. Sollte er Brock anrufen? Oder die Polizei? Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Es würde nicht viel bringen. Sich von Brock den Kopf abreißen lassen konnte er auch noch, wenn sie wieder in Berlin waren.

Dunkle Tropfen verunzierten die letzten Stufen. Erst glaubte er, jemand hätte versucht zu renovieren und dabei Farbe verschüttet. Dann breiteten sich die Flecken und Schlieren aus zu einer blutroten, halb getrockneten Lache. Schleifspuren führten über den Linoleumboden, der so weit oben, im zweiten Stock unterm Dach, noch nicht in die Finger der Vandalen gelangt und vor langer Zeit vielleicht einmal beige oder hellbraun gewesen war. Er befand sich auf einer winzigen Galerie, von der nur eine Tür abging. Sie war geschlossen. Doch hinter ihr musste sich ein Körper befinden, ein schwerer, großer, stark blutender Körper. Jeremy warf einen schnellen Blick über das Geländer hinunter ins Treppenhaus. Niemand war ihm gefolgt. Sein Puls raste. Er wusste nicht, was sich hinter dieser Tür befand, aber er ahnte es. Ein letztes Mal wählte er Caras Nummer.

Die ersten Takte waren so nah, dass er zusammenzuckte. Er bemerkte, dass auch diese Tür verzogen war und nicht mehr ganz geschlossen werden konnte. Er stieß sie auf und sah Cara in der Ecke sitzen, die Beine angezogen, das Gesicht hinter den Armen verborgen. In der anderen Ecke lag der riesige Kadaver eines Hundes. Es stank wie ein Fischmarkt in der Sonne.

»Cara!«

Jeremy ging vorsichtig auf sie zu. Er berührte ihre Arme, doch sie schüttelte ihn ab und verkroch sich noch tiefer in sich selbst. Fliegen schwirrten im Raum herum. Ein schneller Blick auf den Kadaver bestätigte ihm, dass man dem Hund die Kehle aufgeschlitzt und ihn langsam hatte verbluten lassen. Der Würgereiz in Jeremys Kehle war so stark, dass er zum Fenster lief, es aufriss und in tiefen Zügen die Luft in seine Lunge sog. Einige Fliegen taumelten, satt, schwer und schillernd, an ihm vorbei ins Freie.

»Cara, was ist passiert?«

Sie merkte, dass er nicht mehr in ihrer Nähe war, und lockerte ihre Haltung etwas. Der tote Hund musste sie zutiefst schockiert, ja, geradezu aus den Angeln gehoben haben.

»Bruno«, flüsterte sie tonlos. Ihre Augen waren tränennass, ihr Mund zusammengepresst, ihr ganzer Körper in Angst erstarrt. »Bruno ist tot.«

»Ist er das?« Überflüssige Frage. Aber Jeremy wollte Cara zum Sprechen bringen. Sie musste reagieren, kommunizieren, sie durfte nicht in diesem Gefängnis aus Starre, Schock und Grauen bleiben. »Ich bin da. Cara, ich bin bei dir. Steh auf. Das ist widerlich hier. Wir müssen weg.«

Sie schüttelte den Kopf. Als ihr Blick auf den toten Hund traf, schauderte sie zusammen und verkroch sich noch mehr in der Ecke. Die Situation lief aus dem Ruder. Aus einem kleinen Ausflug aufs Land begann sich gerade eine Horrorgeschichte zu entwickeln. Langsam ging er auf sie zu, um sie nicht noch mehr zu erschrecken, und beugte sich zu ihr herab.

»Wer macht so was?« Sie schluchzte. »Er ist so alt. Uralt. Er kann doch gar nicht mehr. Man sagt, die Hunde leben hier länger als die Menschen.«

»Es ist nicht der Bruno, den du kanntest. Es ist ein anderer.«

»Und das macht es weniger schrecklich?«

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah sich um, als ob sie gerade aus einem bösen Traum erwachen würde. »Das hier war mein Kinderzimmer. Oh Gott. Und dann liegt Bruno hier drin. Da, wo Charlies Bett gestanden hat. Und darüber war ihr Bücherregal. Wackelig und viel zu beladen mit lauter Wälzern. Manchmal kam er mit uns hoch und hat sich auf den Flickenteppich gelegt.«

Abgetretene Holzdielen, das grafische Tapetenmuster der siebziger Jahre. Zeit verlor ihre Bedeutung, wurde durcheinandergewirbelt und zu einem Mosaik neu zusammengesetzt, das Jeremy, der Außenstehende, nicht mehr erkannte. Wo war sie gerade? Bei Bruno, dem ersten, dem Beschützer der Kinder von Wendisch Bruch? Oder schon wieder in der Gegenwart, die ihn umso mehr erschreckte, je mehr er sie mit ihr teilte.

»Hier bin ich groß geworden. Mit Charlie und Bruno.«

»Warum hattest du kein eigenes Zimmer?«

»Ich wollte keins. Charlie … Charlie hat auf mich aufgepasst und ich auf sie. Das war die Abmachung. Aber jetzt … ich war nicht da, als es passiert ist. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Und ihm auch nicht. Was passiert hier? Was geht hier vor? Ist das eine gottverdammte Scheiße!«

Sie war wieder da. Die wütende Cara gefiel ihm viel besser als die verzweifelte. Auffordernd hielt sie ihm die Hand hin. Er ergriff sie und zog sie hoch. Einen Moment stand sie so nah bei ihm, dass er sich kaum noch beherrschen konnte, sie nicht in den Arm zu nehmen. Er hatte das Gefühl, Caras Leben war ein Kaleidoskop aus Scherben. Welche Arbeit. Welche Verzweiflung. Welcher Mut, sich diesen Ängsten immer wieder zu stellen.

»Vor was haben Charlie und Bruno dich beschützt? Als sie ausgezogen ist, was geschah dann? Wer war dann an deiner Seite?«

»Keiner. Aber da war es auch vorbei.«

»Was war vorbei?«

Ihre Unterlippe zitterte, alles Blut schien aus ihrem Gesicht gewichen. Sie erinnerte Jeremy an den Rohling einer venezianischen Maske. Starre Züge, tiefdunkle Augen.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Dieses Zimmer ist viel kleiner. In meiner Erinnerung war es riesig, vor allem nachts. Da wurden die Schatten lebendig. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Immer wenn Bruno da war, wusste ich …«

Sie brach ab.

»Warum war Bruno da?«

»Weil er meine Angst gespürt hat.«

»Welche Angst? Vor den anderen Hunden?«

Ihr Blick floh an Jeremy vorbei und suchte den Ausgang. Er stellte sich ihr in den Weg und zwang sie, ihn anzusehen.

»Nein«, stammelte sie verwirrt. »Nein, keine Hunde. Ich liebe Hunde.«

»Dann vor Kindern? Anderen Kindern? Kleinen Kindern?«

Sie biss sich in den Handrücken, wandte sich ab und ging zum Fenster. Jeremy folgte ihr.

»Sag es.«

»Ich traue mich nicht. Du hältst mich für verrückt, wenn ich das sage. Mir geht es doch genauso. Neulich, als ich diesen Aussetzer hatte – ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle. Ich gehe nicht in Restaurants, nicht ins Kino, nicht in den Park. Wenn ich an Schulen vorbeifahre, schließe ich die Autofenster. Ich wechsle die Straßenseite, wenn sie mir entgegenkommen.«

»Wer? Cara, wer?«

»Frauen mit Kinderwagen. Frauen mit Babys.« Sie umklammerte seine Arme. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. »Das ist doch nicht normal, oder? Sag es mir ins Gesicht! Du bist doch Psychologe. Du kennst dich doch aus mit solchen irrsinnigen Dingen. Wenn sie schreien, habe ich das Gefühl, tot umzufallen. Ich ersticke. Mein Puls rast. Alles in mir will weg.«

»Das sind Panikattacken. Hat es hier angefangen?«

»Vielleicht. Ich habe es vergessen oder verdrängt. Jetzt weiß ich wieder, dass ich merkwürdige Träume hatte. Von … von Babys. Sie kamen nachts ins Zimmer, glaube ich. Ich habe sie gehört. Sie waren da.«

Sie stöhnte auf.

»Du hältst mich für verrückt, ja? Tust du das?«

»Nein.«

»Lüg nicht!«

»Cara. Wärst du verrückt, würdest du sie sehen. Oder mit ihnen sprechen. So hast du einfach nur Angst.«

»Nur Angst«, wiederholte sie mit einem schwachen Lächeln. »Manchmal glaube ich, ihr habt so wenig Ahnung von der Psyche anderer Menschen wie ich von dem Schwein, das ich kastriere.«

»Erzähl.« Seine Stimme war rau und brüchig. Vielleicht von dem trockenen Staub, den er in Wendisch Bruch einatmete. Vielleicht, weil er dieses Gespräch viel lieber in der Praxis geführt hätte. Vielleicht, weil er zum ersten Mal in seinem Berufsleben Verantwortung trug. »Erzähl mir von den Babys.«

»Du wirst mich nicht auslachen?«

»Nein.« Er legte vorsichtig seine Arme um sie. Sie ließ es geschehen. Sie schloss die Augen. Es war, als ob die Einfahrt in einen Tunnel verschwand.

»Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Ich kann mich kaum erinnern. Ich war ein Kind. Es geschah nachts. Nachts, wenn alles schläft, konnte ich sie hören. Sie … sie haben Hunger und schreien. Leise, ganz weit weg. Ich will Charlie wecken, aber sie ist wach. Komisch, sie hat ihre Sachen an … sie ist nass … wir sitzen zusammen auf ihrem Bett und halten uns fest. Charlie weint. Ich weiß nicht, warum, aber sie weint. Irgendwann steht sie auf und geht.«

»Wohin?«

»Nach unten, glaube ich. In den Keller. Oder raus. Wenn sie zurückkommt, riecht sie anders. Nach Stall und Kartoffeln. Nach Wolle und Erde und nach …«

»Nach was?«

»Nach Blut. Sie wäscht sich. Ich tue so, als ob ich schlafe. Sie legt sich ins Bett. Alles ist gut.«

»Was ist gut?«

Cara öffnete die Augen und sah ihn an. »Alles. Es ist ruhig, auch die Hunde haben aufgehört zu bellen. Die ganze Nacht war es so, als ob sie eine Nachricht weitertragen würden. Doch wenn Charlie zurückkommt, ist alles vorbei.«

Sie lächelte, und Jeremys Herz war nahe daran zu zerspringen.

»Und wo war Bruno?«

»Bruno?«, wiederholte sie verwirrt. »Der war dann wieder weg. Oder? Ich weiß nicht … vielleicht habe ich auch was durcheinandergebracht.«

»Hast du niemals darüber nachgedacht, was das bedeuten könnte?«

»Ich hielt es für einen Traum.«

»Wie oft hattest du ihn?«

»So real? Zwei, drei Mal, glaube ich. Ich hatte auch andere Alpträume. Als Charlie mit ihren Dummheiten anfing. Das war wirklich furchtbar, weil ich sie jedes Mal tot gesehen habe.«

»Wie alt wart ihr damals, als es begann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Acht, neun Jahre? Und Charlie zwölf, dreizehn? Ich weiß, was du denkst. Aber es ist nicht wahr. Ich wurde nicht vergewaltigt, auch nicht missbraucht. Ich war vielleicht auf einem anderen Stern und habe manche Dinge nicht mitbekommen, und Aufklärung hieß bei uns, die Bullen zu den Kühen zu bringen und dabei zuzusehen. Aber ich bin als Jungfrau in die Ehe. Und Charlie … sie hatte mal einen Verehrer, aber daraus ist nichts geworden.«

Er dachte an das Herz in der Bank. Nicht Cara, sondern Charlie hatte dort gesessen und von etwas geträumt, das man Leben nennen könnte.

»Warum nicht?«

Sie zuckte unsicher mit den Schultern. »Mein Vater. Wahrscheinlich hat er ihn vergrault. Charlie ist dann abgehauen, mehrmals. Manchmal nur für eine Nacht, manchmal länger. Mit fünfzehn, als meine Mutter starb, war sie schon kräftig genug, um ihm Paroli zu bieten. Er hat ihr dann zwar nichts mehr verboten, aber welcher Junge will schon auf so einen Hof.«

»Was war denn mit diesem Hof?«

Cara verschränkte die Hände ineinander und sah zu Boden.

»Ich weiß es nicht. Ich bin hier und denke zum ersten Mal seit Jahren wieder an meine Kindheit. Ich habe sie weggelegt, so wie man ein Paar alte Socken in eine Schublade wirft. Seit ich dieses Haus betreten habe, zittert mein Herz. Dabei sind das leere Mauern. Aber es hat sich etwas in ihnen ereignet. Meine Eltern waren der Horror. Ich kann sie wieder hören, wie sie sich anschreien, wie er sie schlägt, ewig Streit, Türenschlagen, Stimmen, Geschrei, Stöhnen, Heulen, Prügel, Männer … all das.«

»Welche Männer?«, fragte Jeremy. »Eben hast du noch gesagt …«

Sie löste sich sanft aus Jeremys Griff und wollte hinüber zu dem toten Hund. Er hielt sie fest.

»Männer? Habe ich Männer erwähnt?«

»Ja, das hast du.«

»Das ist ein Bauernhof. Kein Kloster. Wahrscheinlich waren auch ab und zu mal Männer hier. Was willst du mir eigentlich einreden?«

»Gar nichts. Gerade hast du erzählt, dass euer Vater jeden Jungen vom Hof gejagt hat, der sich euch genähert hat. Und dann kommst du selber auf Männer.«

Sie riss sich los, ging zu Bruno dem Dritten und berührte seinen schweren Schädel mit unendlicher Zärtlichkeit.

»Er war immer da. Und jetzt ist er tot. Wen wollte er beschützen? Er liegt doch bestimmt schon seit gestern hier. Es ist etwas passiert. Hier, in diesem Haus.«

»Du musst weg. Wir fahren sofort nach Berlin.«

»Ich bin dir zu anstrengend, stimmt’s?« Sie sah kaum auf, sondern strich Bruno, dem Verwesenden, immer noch über den gewaltigen Schädel.

»Nein. Ich will hier raus. So schnell wie möglich.«

»Aber du hast mich doch hergebracht. Du wolltest doch, dass ich mich erinnere. Und jetzt, wo ich die Büchse der Pandora nur eine Winzigkeit geöffnet habe, schreckst du zurück.«

»Okay.« Er nickte. »Lass uns darüber reden. Auf dem Weg nach Berlin. Ich brauche Professor Brock. Ich fürchte, ich bin der Sache alleine nicht gewachsen. Dieser Hund wurde von jemandem getötet. Man hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Und ich möchte diesem Menschen nicht begegnen.«

Cara achtete gar nicht auf ihn. Sie betrachtete den letzten aus der Reihe der toten Wächter ihrer Kindheit.

»Wen wollte er schützen? – Wir müssen ihn begraben.«

Jeremy, in Gedanken auf dem Weg zu ihrem Auto und schon halb durch die Tür, drehte sich abrupt zu ihr um.

»Das geht jetzt nicht.«

»Ich kann ihn nicht hier liegen lassen. Wir müssen ihn zu Walburga bringen und dort in ihrem Garten vergraben. Unter einem Apfelbaum. So haben wir es mit allen gemacht.«

»Mit allen was?«, fragte er irritiert.

»Mit allen Hunden. Sie sind unsere Freunde und Beschützer. Und wir tun es nicht für sie, sondern für uns.« Sie stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. Der verständnislose Ausdruck in Jeremys Gesicht irritierte sie.

»Was einem etwas bedeutet, das wirft man doch nicht einfach so weg, wenn es ausgedient hat. Oder? Wir nehmen Abschied. Wir sorgen für ein Ritual. Wir opfern etwas, legen es ins Grab. Blumen, ein Spielzeug, den Ball, mit dem er so gerne gespielt hat. Nicht weil wir glauben, er könnte noch etwas damit anfangen. Sondern weil es das ist, was uns von den Tieren unterscheidet. Dass wir Dinge tun, die in der Natur nicht nötig sind. Aber im Leben der Menschen schon. Du hast noch nicht viele Tote begraben.«

»Nein.«

Er trat auf sie zu und nahm ihr schmutziges, tränennasses Gesicht in beide Hände.

»Wir werden ihn begraben. Ich verspreche es dir. Lass uns zu Walburga gehen und es ihr schonend sagen. Wir brauchen eine Decke, sie soll ihn so nicht sehen. Ich kümmere mich um den Rest. Aber ich will, dass du von hier verschwindest. Hier ist jemand, der alten Hunden die Kehle aufschlitzt. Das gefällt mir nicht.«

»Okay.«

Sie lächelte. Es war ein dünnes, hilfloses Lächeln, so weit entfernt von Freude wie Bruno von seinem Ball. Es war das Lächeln eines Menschen, der Hilfe suchte und nicht wusste, ob er abgewiesen würde oder nicht.

Er küsste sie. Ihre Lippen schmeckten nach Salz. Er fürchtete sich vor dem, was an Arbeit auf ihn zukommen würde. Aber er wusste, dass er Brock an seiner Seite hatte und dass Cara, so widersprüchlich, verletzlich und abwehrend sie war gegen alles, das sie berühren würde, mit ihm gemeinsam den Kampf aufnehmen würde. Er würde sie niemals abweisen.

»Kommst du?«, fragte er sie.

Sie nickte und legte ihre in seine ausgestreckte Hand.

In diesem Moment knallte das Tor zur Straße zu. Erschrocken fuhren sie auseinander. Jeremy trat schnell ans Fenster, aber es führte nach Süden hinaus auf die alten Ställe. Er konnte nicht sehen, wer es geschlossen hatte. Aber er hörte schwere Schritte.

Cara stand da wie gelähmt. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihn an.

»Jemand kommt auf deinen Hof.«

»Auf meinen Hof?«

»Wir sollten runtergehen und nachsehen, wer es ist.«

Sie warf einen letzten Blick auf Bruno, als ob der tote Hund ihr noch helfen könnte.

»Okay«, sagte sie. »Sehen wir nach, wer sich hierhertraut.«

Sie verließen das Dachgeschoss und schlichen vorsichtig die Treppe hinunter. Schon im ersten Stock konnten sie hören, dass sich jemand in der Küche zu schaffen machte. Pfannen und Töpfe klapperten, Wasser lief, wurde abgedreht, Fett zischte.

Langsam, ganz langsam stiegen sie die letzten Stufen zum Erdgeschoss hinab. Die Tür, die als einzige verschlossen gewesen war, stand jetzt sperrangelweit offen. Jeremy sah leere Regale, einen uralten Gasherd, zwei Stühle und einen Campingtisch, auf dem sich Teller, Gläser und anderes Geschirr stapelten. Und einen Mann am Herd, der sich in dieser Küche offenbar wie zuhause fühlte und gerade in einer Schüssel mehrere Eier miteinander verrührte. Er war mittelgroß, schlank, hatte dunkle, kurze Haare und den durchtrainierten Körperbau eines Sportlers. Er trug alte, verdreckte Jeans und ein verwaschenes T-Shirt. Als Cara leise den Raum betrat, drehte er sich um.

»Wer … Marten? Bist du das?«, fragte sie.

Er stellte die Schüssel auf den Tisch und drehte das Gas auf dem Herd kleiner – Speck brutzelte in der Pfanne. Ein Geruch, der in Jeremys Kehle Brechreiz auslöste. Dann trocknete der Mann sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, das über einem Stuhl hing. Er hinkte. Er wäre ein gutaussehender Mann gewesen, wenn nicht inmitten seiner durchaus angenehmen Züge eine Boxernase geprangt hätte. Platt, halb schief und so hässlich, dass Jeremy schockiert war, dass man sie ihm nicht gerichtet hatte. Dies gab seinem wachen, im landläufigen Sinne vielleicht sogar gutaussehenden Gesicht einen erschreckend brutalen Zug. Dafür klang seine Stimme erstaunlich sanft.

»Cara. Lange nicht gesehen. Was treibt dich so plötzlich hierher?«

Erschrocken drehte sie sich zu Jeremy um. Der legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, sagte er in barschem Ton.

»Natürlich. Aber ich bin Ihnen keine Antwort schuldig.« Immer noch klang seine Stimme sanft und beruhigend. Genau das bewirkte, dass sich Jeremys Nackenhaare aufrichteten. »Ist es wegen Charlie? Ich habe es im Radio gehört. Eine schlimme Sache. Es tut mir leid. Nun ist gar keiner mehr da, nicht? Nur ich.«

»Ich muss dich bitten zu gehen«, sagte Cara. »Du hast kein Recht, hier hereinzukommen und so zu tun, als wärst du zuhause.«

»Das sehe ich anders. Warum bist du hier?« Sein Blick ging abschätzend von Cara zu Jeremy und wieder zurück. »Und dann auch noch mit Verstärkung.«

»Das geht dich nichts an.«

»Willst du wieder hier einziehen?«

»Eher fackele ich das ganze Ding ab. Ich bin hier, weil ich etwas über meine Vergangenheit herausfinden möchte.«

»Und dann triffst du mich.«

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, wiederholte Jeremy.

Der Mann warf das Geschirrhandtuch in die Spüle. »Sag deinem Lover, er soll draußen warten.«

»Das werde ich nicht tun.« Jeremy stellte sich demonstrativ vor Cara. »Verlassen Sie sofort das Haus.«

Der Mann trat einen Schritt zurück und verbarg sein Hinken dabei geschickt.

»Warum hast du Bruno umgebracht?« Cara schob Jeremy zur Seite. Das gefiel ihm nicht. Er hielt die Situation für nicht berechenbar. »Sag es mir. Warum?«

»Er war alt.« Der merkwürdige Besucher holte ein Messer aus der Spüle, betrachtete es und legte es wieder zurück. »Das macht man so.«

»Das macht man nicht so!«, schrie Cara. Sie wollte sich auf ihn stürzen, aber Jeremy riss sie zurück.

»Er war genauso wie die anderen, stimmt’s?« Ihre Augen wurden klein, sie ballte ihr Fäuste. »Es ist hierhergerannt, weil er wusste, dass etwas Schlimmes passiert. Wen wollte er beschützen? Was hast du getan?«

»Blödsinn.«

Jeremy hielt ihren Arm immer noch umklammert. »Lass uns gehen«, sagte er leise.

»Nein! Ich …« Sie schüttelte ihn wütend ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »… ich erinnere mich. Bruno … er kam immer nach oben, wenn …«

»Wenn was?«, fragte der Mann. Seine Augen funkelten gefährlich. »Tu, was er sagt, Cara. Ich gebe dir den guten Rat, geh und komm nie wieder.«

»Ich muss mich aber erinnern!«

»Und dann?«

»Dann werde ich der Polizei melden, was hier wirklich passiert ist.«

Keine Polizei!, wollte Jeremy rufen. Doch es war zu spät.

»Ach Cara.« Der Mann umrundete den Tisch und ging mit einem entschuldigenden Lächeln auf sie zu. »Dann werde ich deinen Erinnerungen mal auf die Sprünge helfen.«

Jeremy erkannte den Angriff zu spät. Er kam so plötzlich, so schnell und so überraschend, dass er nur noch die Bewegung sah, ohne sie deuten zu können. Die Faust traf ihn mitten ins Gesicht.

Das Dorf der Mörder
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