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Sanela wusste nicht, ob sie nur geschlafen hatte oder ihr Körper sie schon phasenweise in eine Art Koma fallen ließ, um die letzten Reserven zu schonen. Sie hatte keinen Hunger, aber der Durst wurde beinahe übermächtig. Der Gedanke an einen Tropfen Wasser trieb sie beinahe in den Wahnsinn.

Sie hatte die niedrige, stockdunkle Sickergrube Zentimeter für Zentimeter abgesucht. Ihre Fingerkuppen, die Knie und der Rücken waren aufgeschürft, ihr Körper völlig verspannt von der unnatürlichen geduckten Haltung, in der sie sich nur kriechend vorwärtsbewegen konnte.

Sie war blind wie ein Maulwurf. Jeder Blick auf die immer schwächer werdenden Leuchtziffern ihrer Uhr wurde zur Kostbarkeit. Wenn sie erloschen waren, würde sie völlig die Orientierung verlieren. In diesem Gefängnis blieben ihr nichts als ihr Tastsinn und ihr hoffentlich noch lange funktionierendes Gehirn. Sie überwand sich und untersuchte die Überreste von Knochen, auf die sie gestoßen war und die sie zunächst für Zweige gehalten hatte. Ein Brustkorb. Winzig. Als sie mit den Händen in dem matschigen Schlamm wühlte, entdeckte sie weitere kleine Knochen. Sie beschloss, die Sache systematisch anzugehen. Alle Fundstücke schleppte sie kriechend und keuchend in das, was sie die rechte Ecke nannte. Sie vermutete, dass es sich bei den Skelettteilen um die eines Kleinkindes oder Neugeborenen handelte. Während sie ihre Suche fortsetzte, stießen ihre Fingerspitzen plötzlich an etwas Hartes, Glattes. Es war klein, und als sie es vom Dreck einigermaßen befreit hatte und ertastete, was sie gefunden hatte, fuhr die Freude wie eine Stichflamme in ihr Herz. Ein Feuerzeug!

Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Das Zündrad war eingerostet und ließ sich nicht mehr bewegen. Sie versuchte es wieder und wieder. Schließlich steckte sie es in ihren Büstenhalter, um es nicht zu verlieren. Auch ohne Funktion hatte es etwas Tröstliches. Das Nächste, was sie fand, war ein vermoderter Fetzen Stoff. Wahrscheinlich hatte man in dieser Grube auch Abfall entsorgt, so bestialisch, wie es stank. Sie suchte weiter und stieß auf einen glatten, festen Gegenstand. Ein Stock? Ein Besenstiel? Es kostete sie viel Anstrengung, bis sie ihn aus dem Schlamm gelöst und einigermaßen von seinen Anhaftungen befreit hatte.

Ihr Rücken schmerzte, als ob er auseinanderbrechen würde. Sie streckte die Beine nach hinten, ließ sich mit dem Bauch in den Schlamm fallen und drehte sich um. Etwas fiel auf ihre Stirn. Ein Wassertropfen. Sie wollte sich aufrichten und dachte im letzten Moment daran, dass sie mit dem Kopf an die Decke donnern würde. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, bis sie die Holzbohlen fühlte. Tatsächlich. Die Feuchtigkeit sammelte sich irgendwo, ein zweiter Tropfen rann über ihren Zeigefinger. Begierig führte sie ihn an ihre Lippen und verrieb ihn dort. Ob das, was da hereinsickerte, trinkbar war, darüber wollte sie sich in ihrer Situation nicht den Kopf zerbrechen. Sie arrangierte ihre Lage so, dass die Tropfen ihren geöffneten Mund treffen würden, und blieb liegen.

Es dauerte ewig, bis sich der nächste löste. Sie hatte Zeit nachzudenken. Der Stock lag neben ihr, sie nahm ihn und glitt mit der Hand über die gesamte Länge. An seinem Ende verharrte sie. Ganz deutlich konnte sie die Verdickung spüren, von der etwas wie ein gewachsener Griff abzugehen schien. Sie hatte ein solches Gebilde schon einmal gesehen, in der kriminalhistorischen Sammlung der Charité. Es war der Oberschenkelknochen eines Erwachsenen und der Griff nichts anderes als das Verbindungsteil zur Hüfte.

Der Tropfen landete auf ihrem Mund. Reglos blieb sie liegen. Sie spürte, wie ihre Atmung sich veränderte und das Blut in ihren Adern zu kochen begann. Eine Panikwelle breitete sich aus und drohte sie zu überwältigen.

Ruhig, dachte sie. Ruhig. Du kommst hier raus. Du bist immer rausgekommen, sogar, als schon einmal alles zu Ende zu sein schien. Weißt du noch? Erinnerst du dich noch an den Keller damals? Du hast es ausgeblendet und versucht zu vergessen. Aber jetzt denk daran. Fühle die Angst. Steig hinein ins Herz der Finsternis. Ab der tiefsten Stelle, sagt man, geht es wieder aufwärts …

Sie spürte die Klinge an ihrem Hals und den heißen Atem des Mannes. Sie hörte Stiefel auf Pflaster, Rufe, Schreie, Schüsse. Sah Schatten, die am Kellerfenster vorüberhuschten, vernahm die ratternden Stöße der Maschinengewehre.

Seine Hand musste zittern, und das Messer war scharf. Es schnitt in ihre Haut.

»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte nicht.«

»Still.« Der Griff in ihren Haaren lockerte sich etwas. »Kein Ton. Verstanden?«

Sie versuchte zu nicken, aber mehr als eine minimale Bewegung gelang ihr nicht. Der Schmerz an ihrer Kehle ließ nach.

»Wie alt bist du?«

»Sieben.«

»Meine Tochter ist fünf. Du kennst sie. Ihr habt miteinander gespielt, erinnerst du dich? Maria?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Ich lass dich gehen, wenn sie weg sind.«

Polternde Schritte. Heisere Rufe. Jemand stieß die Tür auf. Sanela wurde von einem Blitz geblendet, einer donnernden Explosion aus Farben, und dann glitt die Hand aus ihrem Haar, fiel herab auf ihre Schulter, löste sich leicht, fast liebevoll auch aus dieser Position und streifte dabei ihren Arm wie eine letzte, zärtliche Berührung.

Sie hatte nie wieder mit Maria gespielt. Es gab sie nicht mehr, sie war verschwunden wie so viele, auch wie Sanelas Mutter. Sie ahnte damals, dass der Mann sein Versprechen in der tiefen Überzeugung gegeben hatte, es auch zu halten. Heute wusste sie, dass er es wenig später gebrochen hätte, wenn die Umstände es erfordert hätten.

Was lehrt uns das?, dachte Sanela. Dass die Frage du oder ich manchmal von einem Dritten beantwortet wird. Dass Panik eine natürliche Reaktion ist, eine Stressreaktion, die all unsere Kräfte für die Flucht mobilisieren soll. Aber ich kann nicht fliehen. Ich liege in einem Grab. Wohin also mit meiner letzten Kraft? Wann wird der Dritte kommen?

Der nächste Tropfen landete auf ihren Lippen. Sie leckte ihn weg. Langsam merkte sie, dass sie wieder ruhiger atmete. Noch einmal würde sie eine Panikattacke nicht unterdrücken können. Sie würde schreien, sich den Kopf blutig schlagen, irgendwann anfangen, den Schlamm zu fressen, verrückt werden.

Oder sie könnte sich beschäftigen. Sie könnte anfangen, sich jedes Haar einzeln auszureißen. Oder versuchen, in diesem niedrigen Gefängnis aus Dunkelheit, Gestank und modrigem Morast herauszufinden, was sich wirklich abgespielt hatte. Alles war da. Die Knochen würden es ihr erzählen. Sie musste sie nur finden und zusammentragen.

Sie drehte sich wieder auf den Bauch und kroch in die rechte Ecke zurück. Dort legte sie den Oberschenkelknochen ab. Ein Baby, ein Erwachsener, zwei Tote. Sie erinnerte sich daran, dass weiteres Gestrüpp in einer anderen Ecke lag. Sie vermutete, dass noch ein Kind hier verscharrt worden war, auch ein Neugeborenes. Es gab Mütter, die begruben ihre Kinder in Balkonkästen oder legten die kleinen Leichen in Tiefkühltruhen ab. Sanela Beara ahnte, dass sie gerade im Begriff war, dem Geheimnis von Wendisch Bruch auf den Grund zu gehen. Vielleicht war es das Letzte, was sie tat. Vielleicht würde sie dabei in den Wahnsinn abgleiten. Aber keiner sollte sagen, sie hätte ihren Job nicht zu Ende gemacht – eines Tages, wenn man sie finden würde, zusammengekrümmt im Morast. Sanela Beara, Streifenpolizistin. Knöllchenverteilerin. Mehr blieb nicht von diesem Leben, das man ihr vor langer Zeit in einem Keller geborgt hatte. Noch nicht einmal eine Leihgabe war es gewesen. Höchstens eine Fristverlängerung.

Das Dorf der Mörder
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