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Der Anruf kam am Mittag und erwischte Gehring vor seinem Haus, als er gerade den Müll in die Tonne verfrachtet hatte. Es war einer der Kollegen von der Polizeiwache, der sich mit einem unmöglich zu merkenden Doppelnamen vorstellte und dann sofort zur Sache kam.

»Wir haben hier den Vater einer Kollegin, Tomislav Beara. Er sagt, seine Tochter wäre seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen und hätte sich gestern zum letzten Mal mit einer SMS gemeldet. Bei uns liegt auch nur eine telefonische Krankmeldung vor.«

Gehring klappte die Mülltonne zu.

»Ja?«, fragte er alarmiert.

»Herr Beara sagt, seine Tochter …« Der Mann brach ab, suchte nach Worten.

»Was sagt Herr Beara?«

»Sie, nun ja, sie hätte öfter von Ihnen gesprochen. Er wollte wissen, wie er Sie erreichen kann und ob …«

»Und ob was?«

»Sie … hm … vielleicht bei Ihnen wäre.«

»Sagen Sie ihm, sie ist nicht bei mir. Ich komme. Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Er ging gar nicht mehr nach oben, sondern stieg gleich in seinen Wagen und erreichte die Sedanstraße dank des erträglichen Wochenendverkehrs sogar etwas früher. Er parkte im Hof und betrat die Wache durch den Hintereingang. Im nicht öffentlichen Bereich suchte er nach einer bestimmten Bürotür. Ein Mann mittleren Alters, dessen leidender Gesichtsausdruck entfernt an einen Seehund erinnerte, trat in den Flur und winkte ihn zu sich heran.

»Das ging ja schnell. Er wartet draußen.«

Draußen hatte man mit dem vermuteten Geschmack der breiten Mehrheit und der ostentativ zur Schau gestellten Armut der Berliner Behörden eine Art Warteraum eingerichtet, der neben einem Kaffeeautomaten auch einen Ständer mit Prospektmaterial (»Die Polizei empfiehlt …«) und mehrere unbequeme Stühle bot. Wegen Hässlichkeit oder Pensionierung ausrangierte Grünpflanzen dämmerten auf dem Fensterbrett einem qualvollen Tod entgegen, denn ab und zu erbarmte sich jemand und kippte den Rest seines Kaffees in die staubtrockene Erde, was das Leiden nur verlängerte.

Tomislav Beara war ein Mann Anfang sechzig, in dem für Amtsbesuche obligatorischen Sonntagsanzug mit Hemd und Krawatte, schlecht sitzend, aber sauber, und mit einem trockenen, kräftigen Händedruck. Sein kantiger Schädel und das Gesicht erinnerten Gehring an karstige Gebirgslandschaften. Tiefe Falten, hellwache braune Augen und ein freundliches, aber von Vorsicht gedämpftes Lächeln.

»Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring«, stellte er sich vor. »Sie sind der Vater von Frau Beara?«

»Ja.« Der Mann ließ mit einer geschickten Handbewegung einen schlichten Rosenkranz aus Holz in seiner Hosentasche verschwinden. »Ich will wissen, wo meine Tochter ist.«

Gehring spürte, wie Tomislav ihn scannte und dabei Rückschlüsse darauf zog, was seine Tochter ihm erzählt haben musste. Er fühlte sich unwohl. Die Vermutungen der Sanela Beara infizierten wohl jeden. Egal, ob sie sich einen Massenmord in Brandenburg zusammenreimte oder ein über das Berufliche hinausgehendes Verhältnis zu einem Kommissar – ihr Vater sah ihn an, als hätte er die Tochter entehrt an einer Straßenecke ausgesetzt.

»Wir wissen es nicht, und wir haben auch keinen Kontakt zu ihr.«

»Sie suchen nicht? Sie vermissen nicht?«

»Doch, natürlich. Aber Frau Beara hat sich krankgemeldet.«

»Sie ist nicht krank. Sie arbeitet an einer Sache für Sie. Das hat sie mir erzählt.«

Gehring drehte sich um und sah den Seehund mit dem Doppelnamen immer noch aufmerksam lauschend an der Stahltür stehen, die die Wache vom Wartebereich trennte.

»Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«

Der Kroate folgte ihm über den Hof. Entgegen seiner Gewohnheit holte Gehring ihm den Fahrstuhl. Gemeinsam stiegen sie ein und fuhren in den dritten Stock. Die sonst so belebten Flure waren leer, aber Gehring kannte die Stille der Wochenenden. Er hatte sie oft zum Arbeiten genutzt.

In seinem Büro bat er den Besucher, Platz zu nehmen, was dieser mit großer Vorsicht und dem sorgfältigen Hochziehen der Bügelfalten seiner Anzughose auch tat.

»Wo ist meine Tochter?«

»Wann haben Sie zum letzten Mal von ihr gehört?«

»Das sagte ich. Gestern. Eine SMS. Hier.«

Er reichte Gehring ein altes Nokia, einen dieser schweren Knochen, bei denen irgendwann das Display seinen Dienst versagte. Er wunderte sich, dass eines dieser Dinger überhaupt noch in Betrieb war.

Mach dir keine Sorgen. Ich muss nur noch was für KHK Gehring erledigen, dann bin ich wieder zuhause.

»Sie spricht kroatisch, aber schreiben kann sie nicht gut. Lieber deutsch. Mehr als eine Heimat kann der Mensch nicht haben. Oder?«

Gehring reichte ihm das Handy zurück. »Welche haben Sie?«

Der Kroate zuckte mit den Schultern. Trotz seines Alters und dem von Arbeit gezeichneten Körper hatte er die jugendlichen, fließenden Bewegungen der Südeuropäer.

»Ich will, dass Sie suchen. Ich mache mir Sorgen.«

»Ihre Tochter ist in Wendisch Bruch, soweit ich weiß. Ich werde einen Streifenwagen hinschicken. Auch wir machen uns langsam Sorgen. Aber sie ist recht eigenwillig. Vielleicht ist nur ihr Akku alle.«

Tomislav sah zu Boden. Er mahlte mit dem Unterkiefer, als ob er etwas im Mund hätte. Schließlich fragte er, ohne aufzusehen: »Was ist mit ihr?«

»Wie?«

»Eigenwillig. Heißt das, sie tanzt Ihnen auf der Nase?«

»Ja«, bestätigte Gehring. In gewisser Weise tat sie das.

»Sie und Sanela«, der Mann sah hoch, »sind ein Paar?«

»Nein! Bewahre!« Gehring hob die Hände. »Hat sie Ihnen das erzählt?«

Wenn ja, dann war Beara noch durchgeknallter, als er befürchtet hatte.

»Ich bin ihr Vater. Ich spüre das. Sie hat keinen Freund. Haben Sie eine Frau?«

»Nein, Herr Beara. Und ich will auch keine. Nichts gegen Ihre Tochter. Sie ist eine durchaus hübsche, junge, ehrgeizige Frau. Und sie wird bestimmt einen guten Mann finden. Aber ich bin es nicht.«

»Warum erwähnt sie dann Ihren Namen? Hier? Und warum hat sie strahlende Augen, wenn sie von der Arbeit redet? Hatte sie nie. Keine gute Arbeit hier, keine guten Kollegen. Bis Sie gekommen sind.«

Er hielt Gehring beinahe anklagend das Handy entgegen.

»Weil sie in einem Fall recherchiert, an dem ich gearbeitet habe. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Halt. Doch. Ein Wort. Sie tut dies auf eigene Faust. Sie ist von mir weder legitimiert noch beauftragt. Sie ist mit ihrem Dickkopf und ihrer Eigenwilligkeit drauf und dran, ihre Karriere zu ruinieren.«

»Karriere ist Sanela egal.«

»Tatsächlich?«

»Sie will etwas anderes. Sie will gewinnen. Immer und überall. Sie kann nicht verlieren. Was für ein Fall?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Tierpark, nicht wahr? Sie ist fast gestorben damals. Gab es einen Brief von Dienststelle? Einen Orden? Geschenk? Geld?«

Gehring dachte an den Blumenstrauß, tat aber den Teufel, das ihrem Vater auf die Nase zu binden.

»Nichts. So ist es. Sie lässt sich Schädel einschlagen für nichts.«

»Das war ein bedauerliches Zusammentreffen widriger Umstände.«

»Sie tut alles, sie will gewinnen. Das hat sie nicht von mir. Ist ihr Charakter, ist das Leben, das hat sie so gemacht.«

Es klopfte. Gehring brüllte: »Moment!«, und wandte sich wieder an seinen Besucher.

»Herr Beara, wir tun alles, um einer Kollegin, die in Schwierigkeiten geraten ist, zu helfen. Wir werden Ihre Vermisstenanzeige aufnehmen, und ich werde die Polizeidienststelle in Jüterbog informieren. Ich teile Ihre Sorge, und ich werde mich persönlich darum kümmern. Das verspreche ich Ihnen.«

Beara nickte und stand auf. Gehring begleitete ihn noch bis zur Tür.

»Was meinen Sie damit, sie will immer gewinnen?«

Der alte Mann berührte Gehring am Arm und drückte ihn. »Sie kümmern sich?«

»Ja.«

»Sie hat einmal verloren. Da war sie noch ein Kind. Sie glaubt, ihr Leben ist nur geborgt. Sie glaubt, sie muss alles erkämpfen. Nie verlieren. Sie hat kein Maß, sie kann nicht aufgeben. Das macht mir Angst.«

»Gott hat uns allen das Leben nur geborgt.«

Der Vater nickte. »Ja. Aber sie, sie hat es sich nicht von Gott geliehen.«

Gehring öffnete die Tür. Der Mann schlüpfte behände hindurch, noch bevor der Kommissar fragen konnte, wer denn, außer dem Allmächtigen, sonst noch so mit Leben aushalf.

»Soll ich Sie …« Er wollte fragen, ob er ihn noch hinausbegleiten sollte. Im Flur, schwitzend, außer Atem, mit hochrotem Gesicht, stand Gerlinde Schwab. Er war so verblüfft, sie zu sehen, dass er sich noch nicht einmal von Tomislav Beara verabschiedete. »Wollten Sie zu mir?«

Sie nickte. Beara war schon fast am Treppenhaus, er würde den Weg finden. Gehring bat sie mit einer Handbewegung herein.

»Was gibt es?« Es war so außergewöhnlich, sie außerhalb der Dienstzeiten vor sich zu sehen, dass er sie gar nicht erst darauf ansprach.

Sie zeigte ihm einen vollgekritzelten Notizblock. »Ich habe bis abends am Telefon gesessen. Eigentlich wollte ich damit erst am Montag zu Ihnen. Aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, dachte ich mir … Ich muss das alles nochmal durchgehen, bevor ich … also … und da sah ich Sie über den Hof kommen, und ich glaube, also, es kann nicht warten.«

»Was?«, fragte er. Die Schwab war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ihre Nervosität war genauso ungewohnt wie ihr plötzlicher Arbeitseifer. »Was kann nicht warten?«

»Ihr Einsatz in Wendisch Bruch.«

Das Dorf der Mörder
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