7

Nach vier Wochen konnte Sanela den Rucksackverband ablegen und mit einem vorsichtigen Training beginnen. Sie wollte so früh wie möglich wieder in den Dienstsport einsteigen, weil auch diese Leistungen bei der Beurteilung zählten. Die Eignungsprüfungen sollten im Herbst stattfinden, und am meisten fürchtete sie den Cooper-Test – die Hallenrunden zu je hundert Meter Länge, zwölf Minuten lang. Ans Bankdrücken wagte sie mit ihrer Schulter noch gar nicht zu denken. Die Voraussetzungen waren denkbar schlecht, aber sie verbot sich, die Mühe und die Hoffnung noch einmal um ein Jahr zu verschieben. Sie trainierte nach Dienstschluss im Plänterwald, mit Ohrhörern in Pink und Cage The Elephant, Smashing Pumpkins und den Foo Fighters auf dem MP3-Player.

Die Fragen der Kollegen nach ihrer Rückkehr in den Dienst hielten sich in Grenzen. Eigentlich war es nur Sven, der sich ehrlich freute, sie wieder an seiner Seite zu haben. Für die anderen war sie der Kläffer, der in diesem Fall der Falschen ans Bein gepinkelt hatte. Von Gehring, der im dritten Stock der Sedanstraße im anderen Flügel des Gebäudes arbeitete, hörte und sah sie nichts.

Sie hatte sich erkundigt, was Gehrings Andeutung hieß: Ich kenne Ihren Chef. Zu ihrem Entsetzen erfuhr sie, dass der Dienststellenleiter und Gehring gemeinsam mehrere Führungskräfteschulungen absolviert hatten und sich daraus so etwas wie eine Männerfreundschaft entwickelt hatte. Ein falsches Wort von Gehring, und sie konnte ihre Bewerbung vergessen. Sie achtete noch mehr darauf, keinen Fehler zu begehen. Sie grüßte freundlich, meldete sich als Erste zu unbeliebten Nachtschichten bei noch unbeliebteren Bärenführern, schminkte sich noch dezenter und noch sorgfältiger, holte Kaffee, wusch und saugte den Dienstwagen, brachte am Tag ihrer Rückkehr einen Kuchen mit und drei Pakete Kaffee, erzählte jedem bereitwillig, dass der Spürsinn sie zu den Knochentonnen geführt hatte, es aber einzig und allein Gehring zu verdanken war, dass man sie noch rechtzeitig gefunden hatte. Sie glaubte nicht, dass sie all das beliebter gemacht hatte. Aber sie kam öfter mit den Kollegen ins Gespräch und war nicht mehr so nervös, wenn jemand das Wort an sie richtete. Ihre frühe Rückkehr in den Dienst und ihre wenn auch zu reinem Zufall heruntergespielte Beteiligung an dem Fall Rubin machten die Runde. Und als eines Tages der Dienststellenleiter in der Kantine sogar ein paar Worte mit ihr wechselte, die über rein Dienstliches hinausgingen, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, glimpflich aus der ganzen Sache herauszukommen.

Sie hütete sich davor, das Ermittlungsergebnis auch nur im Ansatz in Frage zu stellen. Das hätte sofortigen Genickbruch bedeutet. Aber sie behielt den Fall und seine Entwicklung im Auge. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt noch von Entwicklung reden konnte. Er schien, nachdem alle Untersuchungsergebnisse vorlagen und die Täterschaft Rubins auch noch untermauerten, abgeschlossen.

Die Medien hatten sich mittlerweile gefräßig auf andere Themen gestürzt. Charlotte Rubin würde erst zum Prozessbeginn im Herbst wieder von Interesse sein. Während Sanela ihren Dienst schob, Führerscheine kontrollierte, Geschwindigkeitsüberschreitungen ahndete, Kneipenschlägereien schlichtete und ältere Damen im Treptower Park darauf hinwies, dass sie die Tretminen ihrer Vierbeiner zu beseitigen hatten, befasste sie sich am Abend, wenn ihr Vater sich via Satellit Hrvatska radiotelevizija ins Wohnzimmer holte, mit den Prüfungsvorbereitungen zur Zulassung an der Hochschule für Wirtschaft und Recht – Fachbereich 5, Polizei- und Sicherheitsmanagement. Sie hatte kein Abitur, aber eine abgeschlossene Berufsausbildung und mehrere Jahre Berufserfahrung. Sie dachte öfter an Gehring, als sie sollte. Dann ließ sie das Gespräch in allen Einzelheiten noch einmal Revue passieren. Jedes Mal wurde sie dabei wütend.

Ihre Gefühle, Frau Polizeimeisterin, interessieren mich in diesem Fall null. Sie glaubten, es wären Gefühle, die sie antrieben. Vielleicht auch die Einsamkeit. Ihre Körpergröße. Kleine Menschen entwickelten oft eine Art Übereifer, um anderen ebenbürtig zu sein. Aber sie täuschten sich. Sanela hatte früh begriffen, dass das Böse zu dieser Welt gehörte und nicht auszurotten war. Es war eine Hydra: Schlug man einen Kopf ab, wuchsen zwei neue. Sie war nicht so naiv zu glauben, bei der Polizei könnte sie ernsthaft etwas gegen den Ursprung des Bösen tun. Aber sie wollte es verstehen. Tief verborgen in ihrem Herzen befand sich, wie bei allen anderen auch, ein dunkles Verlies. Es ließ sich nicht öffnen, und das war auch gut so. Doch es gab Menschen, die das konnten. Bei einigen sprang es einfach auf. Andere tüftelten lange an ihrer ureigenen Zahlenkombination. Dem Code des Bösen. Der Mathematik des Verbrechens. Der Geometrie des Dreiecks von Motiv, Schuld und Verschleierung. Sie wusste, dass man das Böse auf Abstand hielt, wenn man es rein naturwissenschaftlich betrachtete. Das machte es nicht kleiner, aber seine Größe kalkulierbar.

Sie wartete. So lange, bis sie sicher sein konnte, dass alle ihr Urteil über sie gefällt und sich darüber ausgetauscht hatten. Gerade ein Mann wie Gehring würde nicht so schnell zurückrudern. Sie hatte Zeit. Aber sie vergaß das aufgeschlitzte Ferkel nicht und Charlies Zärtlichkeit für all jene Kreaturen, die jung und unbeschützt waren.

Als sie zum ersten Mal die zweitausend Meter in unter zwölf Minuten geschafft hatte, wagte sie sich eines Abends Ende Juli in den dritten Stock. Vom Innenhof aus hatte sie gesehen, dass in Gehrings Büro noch Licht brannte. Es war kurz nach acht, und als sie klopfte, merkte sie, wie nervös sie war. Sie wartete auf sein »Herein«, trat ein und fand ihn hinter seinem Schreibtisch beim Studieren einer Handakte.

»Frau Beara. Das ist ja eine Überraschung.«

Seinem Ton war nicht zu entnehmen, ob sie eine der guten oder der schlechten Sorte war. Er schlug die Akte zu.

»Setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke.«

Sie nahm Platz und sah sich in dem karg eingerichteten Zimmer um. Ein alter Monatskalender vom vorletzten Jahr an der Wand, galoppierende Pferde, Aktenschränke, ein Computer. Keine Bilder, keine Pflanzen. Ein Waschbecken neben der Tür. Dass es das noch gab.

»Was führt Sie zu mir?«

»Ich habe gar nichts mehr von Ihnen gehört. War meine Aussage denn hilfreich?«

Er lehnte sich zurück und fuhr mit den Fingerspitzen über die Schreibtischkante. Ihr fiel auf, dass er keinen Ehering trug. Dabei hieß es doch, er und der Dienststellenleiter würden auch öfter mal gemeinsam mit den Ehefrauen segeln gehen. Sie hatte sich vorsichtig umgehört. Sie wollte wissen, wie er tickte. Er schien, abgesehen von der unmöglichen Art, seinen durchtrainierten Körper zur Schau zu stellen, der Typ Familienvater im höheren Dienst zu sein. Häuschen in Stadtrandlage, von den Eltern oder Schwiegereltern mitfinanziert, CDU-Wähler, als Chef offenbar erträglich. Seine Autorität setzte er punktuell und wohlüberlegt ein. Ihr gegenüber zum Beispiel. Im Moment schien sie ihn aber in einer halbwegs moderaten Phase erwischt zu haben. Er trug ein einfaches weißes T-Shirt. Eine leichte Anzugjacke aus Leinen hing über der Lehne seines Stuhls.

»Vom philosophischen Gesichtspunkt aus durchaus«, sagte er und hob die Augenbrauen. Das sah überheblich aus. Aber sie wäre gewiss nicht der Mensch, der ihn darauf hinweisen würde.

»Also nein.«

Er lächelte. Auch das konnte er nicht. Viele Männer konnten nicht lächeln.

»Machen Sie sich nichts draus. Sie sind gut aus der Nummer herausgekommen. Alles Weitere wird man sehen.«

»Hat Frau Rubin inzwischen noch eine Aussage gemacht?«

»Nein. Sie redet nicht.«

»Immer noch nicht?«

»Kein Wort. Der Staatsanwalt gibt jetzt ein Gutachten in Auftrag. Unterstützt wird er dabei von Marquardt, Rubins Anwalt. Er plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit. Schwere Kindheit, Schläge, Alkohol, kein Schulabschluss. Geistig zurückgeblieben. Das Übliche.«

»Ich weiß nicht …«

»Unsere Ermittlungsergebnisse liegen bei der Staatsanwaltschaft, die Frau ist in Haft, der Fall damit für uns erledigt. Sie hat ein Geständnis abgelegt. Zwar nur in einem Satz, aber das reicht.«

Sanela legte den Daumen unter den Holstergurt. Wenn er zu lange auf ihrer Schulter lag, schmerzte die Stelle noch.

»Und wenn ich es einmal versuche? Mit mir hat sie doch geredet. Sie war normal. Intelligent. Vielleicht ein bisschen schräg, aber auf keinen Fall verrückt.«

Gehring stieß sich mit den Fingern von der Schreibtischkante ab. Sein Stuhl drehte sich dadurch weg vom Tisch, und er legte den linken Knöchel aufs rechte Knie. Sollte lässig aussehen. Tat es aber nicht.

»Das ist keine gute Idee. Wir haben kompetente Mitarbeiter, die sich in Verhören mit solchen Personen auskennen.«

Sanela öffnete den Mund, aber er schnitt ihr das Wort ab.

»Ich will Sie nicht entmutigen. Aber ich wüsste nicht, was das bringen sollte.«

»Mich irritiert, welchen Respekt sie vor dem Leben hatte. Egal, welches. Für sie war eine Maus genauso viel wert wie ein Elefant. Und dann schlitzt sie ein Ferkel bei lebendigem Leib auf? Sie hat über alles geredet. Über Leben und Tod, über Kaffee und Gas. Sie hat mir sogar den Hinweis mit den Knochentonnen gegeben. Das macht doch niemand, der dort ein paar Stunden zuvor noch eine halbe Leiche versenkt hat.«

»Genau das meine ich. Und genau aus diesem Grund bin ich froh, dass Ihre Aussage im Prozess keinerlei Gewicht haben wird. Sie sind voreingenommen. Sie beurteilen den Fall nicht nach Sachlage, sondern nach Gefühl.«

»Ich kenne die Sachlage nicht. Aber wenn ich Akteneinsicht bekommen dürfte …«

»Auf keinen Fall.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass dieselbe Person nett zu mir gewesen ist und mich wenig später um die Ecke bringen will.«

»Sehen Sie?« Er beugte sich vor. Wieder fixierte er sie mit einem stechenden Blick aus den irritierend eng stehenden Augen. »Sie begreifen es nicht. Und so wird es noch viele Dinge geben, bei denen selbst Profis beginnen, an sich und ihrer Vorstellungskraft zu zweifeln. Ein Fall wie dieser ist mir noch nie vorgekommen. Aber er ist geschehen, und wir alle müssen versuchen, das zu verstehen. Wir fangen damit an, indem wir sagen: Ja, diese Frau hat bestialisch getötet. Sie sieht nicht aus wie ein Monster, aber sie hat so gehandelt. Vielleicht werden wir die Gründe nie erfahren. Aber wir müssen akzeptieren, dass es geschehen ist und dass es einen Täter gibt.«

Sanela fühlte sich ausgeschlossen aus diesem »wir«. Es fühlte sich an wie ein kleiner Stich in der Brust. Sie erinnerte sich an viele dieser Nadelstiche. Sie hatten begonnen, als sie in diesem Land angekommen war, in dem es keinen Krieg geben sollte und keine Serben (Letzteres sollte sich als unwahr herausstellen), in dem keine Landminen detonierten (wahr) und in dem man kleine Mädchen, die noch Jahre bei jedem Silvesterböller zitternd hinter das zerschlissene Sofa im Flüchtlingsheim krochen, mit offenen Armen empfangen würde (die größte und deshalb auch am schwersten zu verzeihende Lüge, die ihr Vater ihr jemals aufgetischt hatte). Ein »wir« für Sanela gab es allenfalls noch in den engen Zimmern und den Gemeinschaftsküchen der Flüchtlingscontainer. Es hörte auf, als ihr Vater und sie eine kleine Wohnung in Tempelhof zugeteilt bekamen und Sanela in die Schule kam.

»Sie werden dich mögen.« Die nächste Lüge. »Sobald du ihre Sprache sprichst, wirst du Freunde finden.« »Lern, dann werden sie dich akzeptieren.« »Sie meinen es nicht so.« Und schließlich: »Margarine ist kein Schimpfwort.« Lügen, Lügen, Lügen.

»Sie sind keine Auserwählte«, sagte Gehring.

»Wie?« Hatte sie etwas verpasst?

»Charlotte Rubin hat in Ihrer Anwesenheit nichts anderes gemacht als sonst auch: Sie funktionierte. Sie redete, war unbefangen, hat die Tat vielleicht völlig ausgeblendet. Bis zu dem Moment, in dem wir ihr auf die Schliche kamen.«

»Ich.«

»Wir.«

»Kann ich trotzdem die Ermittlungsakte sehen?«

»Nein.«

Sanela stand auf. Das Gespräch war beendet. Sie war schon an der Tür, als er sagte: »Ich schulde Ihnen noch einen Kaffee.«

Verwirrt drehte sie sich um.

»Hat die Cafeteria noch auf?«

»Ich … glaube nicht.«

Er erhob sich ebenfalls und nahm sein Jackett von der Stuhllehne.

»Dann dauert es ein paar Minuten. Unten an der Ecke ist doch einer dieser Coffeeshops. Schwarz? Oder lieber einen Latte?«

Sanela begriff nicht.

»Und rühren Sie nichts an, bis ich wieder da bin.«

Er ging. Sanela stand immer noch im Raum und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Runter bis zum Coffeeshop und zurück – das dauerte doch mindestens eine Viertelstunde. Er konnte doch nicht im Ernst erwarten, dass sie nach Dienstschluss noch so lange auf ihn warten würde. Außerdem war er verheiratet. Was sollte das werden?

Ihr Blick fiel auf den Aktenschrank. Die Ordner standen, nach Monaten und Namen sortiert, im Regal. Langsam ging sie darauf zu, blieb stehen, legte den Kopf schief und massierte ihre linke Schulter. März, April, Mai … Rubin. Charlotte Rubin.

Sie lauschte. Alles war still. Gehring war wohl noch im Treppenhaus. Sie zog die Akte aus dem Regal und blätterte sie kurz durch. Circa hundert Seiten. Zu viel für fünfzehn Minuten. Genug, um sie mit nach Hause zu nehmen und am nächsten Tag zurückzubringen. Im Hof wurde ein Motor angelassen. Sie ging zum Fenster und sah Gehrings schwarzen Van, der langsam zum Tor rollte. Nie im Leben fuhr er damit zwanzig Meter weit zum Coffeeshop. Sie lächelte. Klemmte die Akte unter den rechten Arm, ging auf den Flur und sprintete los.

Das Dorf der Mörder
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