27

Die Praxis ist wegen eines Todesfalles geschlossen. In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an die tierärztliche Gemeinschaftspraxis Dessau-Roßlau, Telefon …«

Kein Pfeifton, keine Möglichkeit, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Jeremy wusste nicht, wo sie war und wohin sie zum Weinen gehen würde. Es war kurz nach achtzehn Uhr, er hatte früher Feierabend gemacht, und der kurze Blick, mit dem Brock ihn beim Abschied gestreift hatte, schien ihm wie das Einverständnis seines Planes: Ich fahre nach Dessau, ich suche nach ihr. Wir haben eine Verantwortung.

Er stieg aus, blieb auf der anderen Straßenseite stehen und betrachtete das schlichte Gebäude im Bauhaus-Stil, das an einer der ruhigen Seitenstraßen in der Nähe des Sieben-Säulen-Parks lag. Ein weißer Kubus auf grünem Gras. Einige Zierbüsche säumten den Weg zum Eingang und verbargen den Blick auf den hinteren, privateren Teil des Grundstücks. Die Nähe zu den Meisterhäusern in der Gropiusallee ließ vermuten, dass auch dieses Anwesen in den zwanziger Jahren auf einem Reißbrett entstanden war. Jeremy wunderte sich, wie modern und zeitlos diese Gebäude immer noch wirkten, obwohl sie fast hundert Jahre alt waren.

Er überquerte die Straße. Die Rollläden im Erdgeschoss waren heruntergelassen. Er legte die Hand über die Augen und versuchte, durch das Drahtglas der Eingangstür einen Blick ins Innere zu werfen. Unmöglich. Aber er sah einen Schatten über den Flur huschen und klingelte.

Lange passierte nichts. Erst nach dem vierten Mal hörte er Schritte. Der Schatten tauchte wieder auf, wurde größer, verwandelte sich in die Gestalt einer Frau. Sie öffnete die Tür und sah in Jeremys enttäuschtes Gesicht.

Wie alt mochte sie sein? Vierzig? Fünfzig? Schmal, fast hager, mit wachen grauen Augen in einem länglichen Gesicht. Um ihren Mund hatte sich ein herber Zug eingegraben, die schmale Nase dominierte ihre Züge. Ihre mittelbraunen Haare, von ersten grauen Strähnen durchzogen, hatte sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Einige Locken fielen heraus und kringelten sich über Stirn und Ohren.

»Wir haben geschlossen.«

Jeremy nickte. »Mein Name ist Jeremy Saaler. Ich bin ein Freund von Frau Spornitz. Ich möchte sie sprechen.«

Ein minimales Zucken der Augenlider. Jeremy erinnerte sich daran, dass er die Vorlesungen in Verhaltenspsychologie fast gänzlich verschlafen hatte. Ärgerlich, denn die Koryphäen auf diesem Gebiet konnten Ausdruck und Kontrolle in der Mimik ihres Gegenübers oft besser deuten als es selbst.

»Sie ist nicht da.«

»Aber sie wohnt doch hier?«

Klarer, fester Blick. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und wollte sich nichts anmerken lassen.

»Sie können gerne eine Nachricht hinterlassen. Ich leite sie weiter.«

»Ja.« Jeremy suchte umständlich nach einem Kugelschreiber und Papier, fand aber nichts weiter als einen Tankbeleg. Die Frau beobachtete ihn eine kurze Weile und gab dann den Weg frei.

»Kommen Sie rein.«

Sie wartete, bis er den breiten, halbdunklen Flur betreten hatte, und schloss nach ihm die Tür. Ein Schild an der Wand verwies auf den Wartebereich – ein großer Raum zur Rechten, ausgestattet mit Buchenholzstühlen und einem Tisch mit zwei Stapeln Zeitschriften. Der Fußboden war gekachelt, in der Mitte des Raumes senkte er sich zu einem Abfluss. Ein Geruch nach Desinfektionsmitteln und nassen Tieren lag in der Luft.

»Hier entlang.«

Er folgte ihr. Sie hielt den Rücken gerade wie jemand, der sich oft beobachtet fühlt. Sie führte ihn in ein kleines, ordentliches Büro. Ein halbhohes Regal vor dem Schreibtisch diente als Tresen für die Besucher. Darauf ein Kugelschreiber an einer Kette, Prospekte und ein Schreibblock mit dem Aufdruck der Praxis, ihrer Telefonnummer und den Öffnungszeiten.

Er schrieb »Bitte melde dich, Jeremy« und faltete das Papier zusammen.

»Haben wir vor ein paar Tagen miteinander telefoniert?«, fragte er.

»Haben wir?« Sie trat an den Schreibtisch, nahm eine Patientenakte und ordnete sie in die Hängeregistratur an der Wand ein. Überall auf dem Tisch lagen Heftklammern.

»Ich bin Psychologe in der Praxis, die das Gutachten über Charlotte Rubin erstellt hat.«

»Charlie.« Die Frau schob die Registratur zurück.

»Kannten Sie sie?«

»Nein. Aber ich arbeite schon ein paar Jahre in dieser Praxis, da bekommt man das eine oder andere mit. Zwangsläufig.«

Sie nahm auf dem Stuhl Platz und begann, Radiergummis in Schubladen zu verstauen und Stifte in Köcher zu stecken. Also all die kleinen Arbeiten, die zeigen sollten, dass ein Gespräch beendet beziehungsweise vertane Zeit war. Er reichte ihr das zusammengefaltete Papier.

»Sagen Sie ihr, es ist dringend.«

»Natürlich.«

Sie legte die Nachricht vor sich ab. Das Papier entfaltete sich etwas, vermutlich würde sie seine Worte lesen können.

»Ich muss noch die ganzen Abrechnungen machen. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann?«

»Nein. Danke.«

Er verließ das Haus, setzte sich in seinen Wagen und wartete. Am späten Abend hatte er das Gefühl, jemand wäre im ersten Stock ans Fenster getreten und riskierte einen schnellen Blick durch die zugezogenen Jalousien. Aber er konnte sich auch täuschen. Um elf kam Caras Sprechstundenhilfe aus dem Haus, schloss sorgfältig ab und ging mit geradem, durchgestrecktem Rücken zu einem Smart, setzte sich hinein und fuhr los.

Er blieb sitzen. Wenn sie im Haus war, würde sie irgendwann sein Auto sehen und sich der Belagerung stellen müssen. Er machte es sich bequem, so gut es ging. Wenig später war er eingeschlafen.

Jemand klopfte an die Scheibe. Erschrocken fuhr er hoch. Draußen stand Cara. Es war zwei Uhr morgens, und sie trug ein verdrecktes T-Shirt und roch nach Stall, als er die Scheibe hinunterkurbelte und sie sich zu ihm beugte.

»Das ist aber unbequem.«

»Wo warst du?« Mühsam versuchte er wach zu werden.

»Arbeiten. Was denn sonst? Willst du hier draußen übernachten?«

Sie öffnete die Tür und zog ihn aus dem Wagen. Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie trat schnell einen Schritt zurück.

»Ich könnte eine Dusche brauchen. Gibst du mir zehn Minuten? Ich lasse die Tür auf.«

»Okay.« Er war immer noch überrumpelt. Sie trug Jeans und Gummistiefel, die bis über die Knöchel mit getrocknetem Schlamm verkrustet waren.

»Bis gleich.«

Er sah ihr hinterher. Eine Dusche könnte er selbst auch vertragen. Im Handschuhfach hatte er ein Päckchen Kaugummi gebunkert. Er schob sich einen Streifen in den Mund. Als die zehn Minuten vergangen waren, spuckte er ihn aus und überquerte die Straße. Die Tür war zu. Er klingelte mehrmals, der Glockenton geisterte durch die Räume und verhallte weit hinten Richtung Garten.

Das Haus blieb dunkel. Gerade als er sich umdrehen wollte, um sein Handy aus dem Auto zu holen, ertönte der Summer. Jeremy drückte die Tür auf und betrat den Flur. Es war dunkel, doch am Ende, dort, wo eine frei stehende, geschwungene Treppe nach oben führte, die er beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, fiel der schwache Widerschein von Licht aus dem ersten Stock. Entweder war es gerade erst angegangen, oder er hatte es von der Straße aus nicht gesehen. Das wunderte ihn, weil das Haus einen transparenten, durchlässigen Eindruck gemacht hatte.

Er folgte dem Schein. Nachdem er eine Wendung der Treppe überwunden hatte, erkannte er, dass das Licht von einer Blockkerze stammte. Sie stand auf der letzten Stufe und tauchte den riesigen, fast leeren Raum in warmes Licht.

Der Boden war aus glattem, spiegelndem Wachsbeton. Am Ende des Raumes erkannte er eine Couchkombination. Italienisches Design, flach, quadratisch, über Eck stehend. Auf ihr lag eine Gestalt, die sich bei seinem Anblick langsam aufrichtete.

»Komm her«, sagte sie. Der Hall trug die leisen Worte zu ihm. Er blieb neben der Kerze stehen und wartete.

»Komm du«, antwortete er.

Die darauffolgende Stille dauerte eine Ewigkeit. Schließlich erhob sie sich. Schwankend, nach Balance suchend, mit den halb ausgebreiteten Armen einer todmüden Equilibristin, die in gefährlicher Höhe ihr Gleichgewicht finden muss. Er war versucht, auf sie zuzulaufen und ihr zu helfen. Doch dann entschied er, dass sie diese Schritte auf ihn zu alleine gehen musste.

Sie trug ein weich fließendes Nachthemd aus dünner, fast durchsichtiger Seide. Die Haare fielen ihr feucht auf die Schultern. Ihre ersten Schritte waren tastend und vorsichtig, dann fing sie sich und lief auf ihn zu. In der Mitte des Raumes begann sie zu rennen und warf sich in seine ausgebreiteten Arme. Der Aufprall war so stark, dass Jeremy Angst hatte, sie würden gemeinsam die Treppe hinunterfallen. Er hielt sie an sich gepresst, spürte ihren Körper und das Verlangen, das ihn durchbohrte wie ein glühender Pfeil.

Sie liebten sich quer durch den Raum. Später, als Jeremy nackt auf dem Sofa lag und auf ihre Rückkehr wartete, betrachtete er mit Vergnügen die einzelnen Stationen ihres Tuns: Krawatte und Hemd an der Treppe, Hose fünf Meter weiter, danach ihr Nachthemd. Strümpfe und Unterwäsche lagen in Armlänge vor der Couch. Er angelte sich seinen Slip und streifte ihn über, als sie mit zwei beschlagenen Gläsern zurückkam, in denen Champagner perlte. Er trank seines in drei Schlucken aus.

Mit einem Stöhnen, das allein der Wonne des Moments geschuldet war, lehnte er den Kopf zurück. Der Schweiß trocknete auf seiner Haut. Sie setzte sich neben ihn und fuhr mit der Hand unter den Saum seines Slips. Sofort spürte er, wie das Begehren wieder wuchs. Zum Teufel mit Brock. Zum Teufel mit Abstand. Er war jung, und das hier war das Leben.

Sie trank in kleineren Schlucken, den letzten behielt sie im Mund und küsste ihn. Er trank gierig und leckte die letzten Tropfen von ihren Lippen. Sie legte sich neben ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. Er hob den Arm, fuhr mit der Hand durch ihre zerzausten Haare und küsste sie auf den Scheitel. Er war versucht zu fragen, ob dieses zweite Mal für sie auch nur eine nette Abwechslung war. Gerade noch rechtzeitig hielt er sich zurück. Es hätte den Moment und vielleicht noch viel mehr zerstört.

»Wie geht es dir?« Das war unverfänglich.

Sie umschlang seine Hüfte mit ihrem Bein. »Gut. Es ist ein bisschen wie Sport, nicht wahr? Hinterher fühlt man sich besser. Und du?«

»Sport. So habe ich das noch nie gesehen.«

»Wie dann?«

Ihm fiel keine Antwort ein, die nicht mit Gefühlen verbunden gewesen wäre, also schwieg er.

»Vielleicht Erste Hilfe?« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich würde gerne wissen, was der Psychologe in dir jetzt von mir denkt.«

»Nichts, was dich erschüttern würde.«

»Meine Schwester ist tot, und ich schlafe mit ihrem Arzt.«

Sie ließ den Kopf wieder sinken und streichelte seine Brust. Jeremy mobilisierte seinen gesamten Willen, um nicht gleich wieder über sie herzufallen.

»Wenigstens bin ich nicht deiner. Das wäre wirklich fatal.«

»Therapeut und Patientin? Das ist doch nichts Neues.«

»Es ist verboten.«

Ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Cara, warst du schon einmal in Behandlung?«

Ihre Zunge fuhr über seine Brustwarze. Im nächsten Moment durchfuhr ihn ein glühender Schmerz. Er stöhnte auf, sie lockerte den Biss.

»He, was …«

»Schmerz«, flüsterte sie. »Liebst du Schmerz?«

»Nur wenn er nachlässt.«

Sie zog sich von ihm zurück und stand auf. Sein Blick folgte ihr, wie sie bis zur Treppe ging und die Kerze hochhob. Zurück schritt sie langsam, den Blick nach unten auf die zuckende Flamme gerichtet. Sie blieb vor ihm stehen.

»Leg dich auf den Boden.«

»Was wird das?«

Vorsichtig, um kein Wachs zu verschütten, stellte sie die Kerze ab. Dann beugte sie sich über ihn. Ihr Kuss war unendlich zärtlich.

»Wir alle müssen lernen, den Schmerz zu lieben«, flüsterte sie. »Sonst bringt er uns um.«

Sie löschte die Flamme mit den Fingern.

Im Morgengrauen erwachte er. Er hörte den ersten Vögeln zu, die zu dieser Stunde die Stadt, die Welt und den Erdkreis für sich zu haben schienen. Er betrachtete Caras Gesicht, als wäre er ein Maler und hätte nur diesen Moment, um es sich für alle Zeiten einzuprägen. Er fragte sich, ob das Gefühl, das sich in ihm niedergelassen hatte, Glück war. Oder doch nur seine weit entfernte Verwandte, die Zufriedenheit.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stand er auf und ging hinüber ins Badezimmer. Er versuchte, so leise wie möglich zu pinkeln, und setzte sich sogar dabei. Sein Blick fiel auf Marmor und Glas, auf Chromargan und Edelstahl. Ein Handtuch aus italienischer Baumwolle, leicht wie ein Pareo, lag auf dem Boden. Er zog es zu sich heran und überlegte einen Moment, es mitgehen zu lassen. Er wollte eine Erinnerung an Cara. Etwas Greifbares, etwas, das ihm bewies, dass er wirklich hier gewesen war.

Er wusch sich die Hände und trocknete sich ab. Sein Blick fiel auf eine halb geöffnete Schublade unter dem langen Waschtisch. Er musste lächeln. Cara war kein Übermensch. Sie hatte genau denselben Mädchenkram in ihrem Bad wie andere Frauen auch. Bürsten, Lippenstifte, Wattepads. Sie hatte ihn nur besser versteckt.

»Jeremy?«

Er schob rasch die Lade zu. Sein Herz klopfte, als wäre er beim Stehlen erwischt worden. Es ging ihn nichts an, was Cara im Badezimmer versteckte. Es war der intimste Bereich einer Wohnung, und er hatte nichts Besseres zu tun, als bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in ihren Sachen herumzuwühlen.

Er ging zurück ins Schlafzimmer. Sie lag in den Kissen, räkelte sich wie eine junge Katze und lächelte ihn an.

»Bist du Frühaufsteher?«

»Nein.«

»Dann schlaf. Und wenn es gar nicht anders geht, mit mir.«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Die Situation war alternativlos.

Das Dorf der Mörder
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