11

Henny war wieder da.

Nach der Scheidung von Jeremys Eltern hatten sich eine Menge Frauen für Jason Saaler interessiert. Mit Mitte sechzig war es ihm mit der diskreten Hilfe einiger vertrauenswürdiger Ärzte gelungen, sein Äußeres auf Ende fünfzig zu tunen. Bei genauerer Betrachtung hielt diese Jugendlichkeit nicht lange vor. Die weggelaserten Altersflecken, das straffe Kinn und die silbern gesträhnten Haare machten zwar Eindruck. Dazu die Größe – über eins achtzig, breite Schultern, federnder Gang, all das wirkte auf den ersten Blick überzeugend. Ein Mann, wenn schon nicht mehr in der Mitte des Lebens, dann doch voller Kraft und Selbstbewusstsein und noch lange nicht bereit, am Ende seines Weges auszuruhen.

Doch das Alter ließ sich nicht überlisten. Es schlug zu, wenn der Mensch am schutzlosesten war. Jason Saaler lag mit leicht geöffnetem Mund in seinem Lesesessel und schnarchte. Die Brille saß noch auf seiner Cäsarennase, die Hand auf der Zeitung, von der einige Blätter auf den Boden gefallen waren. Im Schlaf fehlte ihm die Körperspannung, und die geschlossenen Augen konnten nicht einschüchternd blicken, die kräftige Stimme nicht mehr gebieterisch Anordnungen erteilen. In sich zusammengefallen, kleiner, schmaler, war er ein Mann im Spätherbst seines Lebens, der auf Teufel komm raus sein eigenes Sommertheater inszenierte.

Jeremy fragte sich, was eine Frau in Hennys Alter in Jason sah. Er hörte, wie sie in der Küche nebenan hantierte. Sie suchte Weingläser. Seit er sich ihren Namen merken musste, weil sie, anders als die anderen, nicht nach wenigen Wochen ausgetauscht oder ergänzt worden war, ging sie ihm auf die Nerven.

Seine Mutter hatte das Haus nach der Scheidung vor einigen Jahren verlassen. Mit ihr war auch die Erinnerung an eine Kindheit verschwunden, in der der Vater zwar irgendwie präsent war, faktisch aber kaum zugegen. Babette Saaler hatte das getan, was man in Dahlem »ihrem Mann den Rücken freihalten« nannte. Vielleicht bestand die Hauptaufgabe darin, andere Frauen auf ihre Plätze zu verweisen. Jeremy wusste es nicht. Er erinnerte sich nur daran, dass seine Mutter nicht glücklich gewesen war, ihr Umfeld mit einem Wechselspiel von hysterischen Anfällen und depressiver Trauer in Atem hielt und Jeremy seit frühester Kindheit Angst gehabt hatte, sie könnte ihre dramatisch verkündeten Selbstmordabsichten in die Tat umsetzen. Er hoffte, dass der Vertreter für Arztpraxeneinrichtungen, mit dem sie schließlich irgendwo an den Bodensee gezogen war, das mit dem Glück besser hinbekam.

»Chardonnay?«, piepste Henny aus der Küche.

Sein Vater gab einen ärgerlichen Schnarchlaut von sich. Der Rest der Zeitung segelte zur Erde. Jeremy hob ihn auf und legte die Seiten auf den Lesetisch neben dem Kamin.

Jason hatte den Bungalow nach Babettes Auszug renovieren lassen. Die Seidenblumengestecke, die schweren Damastvorhänge, die elfenbeinfarbene Sitzgarnitur – all das war verschwunden und hatte einer strengeren, sachlicheren Atmosphäre Platz gemacht. Der Blick ging nun durch die riesigen Panoramascheiben direkt hinaus in den Garten. Auch dort hatte ein befreundeter Architekt radikale Veränderungen vorgenommen. Das Einzige, was Jeremy noch wiedererkannte, war der Zaun um das Grundstück. Der Rest war nun ein japanischer Ziergarten von mönchischer Strenge.

»Ja, danke.«

Er wollte nicht lange bleiben. Es hatte eine kurze Phase nach der Scheidung seiner Eltern gegeben, in der Jeremy geglaubt hatte, seinen fremden Vater näher kennenzulernen. Sie hatten öfter Tennis zusammen gespielt, sich ein paar Mal zum Essen getroffen. Jeremy hatte sogar begonnen, Golfunterricht zu nehmen. Manchmal dachte er daran, dass ein zweckfreier gemeinsamer Abend vielleicht auch ganz schön gewesen wäre. Denn alles, was Jason Saaler unternahm, hatte einen Sinn. Sport, Kultur und Nahrungsaufnahme wurden stets kombiniert mit »Kontakten«.

Einer dieser Kontakte war Gabriel Brock. Jason hatte seinen Sohn angepriesen wie eine Kiste fleckiger Äpfel. Zumindest hatte Jeremy sich so gefühlt. Brock war eine Kapazität. Eine graue Eminenz. Er fuhr ausschließlich Autos, aus denen er noch ohne fremde Hilfe herauskam. Seine Studenten, vor allem aber die Studentinnen vergötterten ihn, und er war trotzdem seit über dreißig Jahren mit derselben Frau verheiratet. Als der Professor Jeremy gesagt hatte, dass er das Gespräch mit Charlotte Rubin führen durfte, hätte er am liebsten sofort seinen Vater angerufen. Dann hatte er gedacht, dass es besser wäre, es ihm von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Doch er hatte vergessen, dass er seinen Vater noch nicht einmal zuhause mehr als fünf Minuten allein antreffen würde.

Henny hieß eigentlich Henriette. Was sie arbeitete, wusste Jeremy nicht. Jason hatte sie auf einer Vernissage in einer Galerie kennengelernt. Die Verbindung hielt bereits mehrere Monate. Sie war Ende zwanzig, eine hübsche, sportliche Frau mit einem harten Zug um den Mund, in dem Jeremy den Zeitdruck zu erkennen glaubte, unter dem sie stand. Sie musste endlich in einen sicheren Hafen, um dort in gepflegtem Müßiggang die nächsten Jahre mit gerafften Segeln abzuwarten, bis die Scheidung lukrativ genug war.

Sie kam mit zwei Gläsern Wein in den Raum, für den Jeremy seit dem Umbau keinen Namen mehr hatte. Früher war es das Wohnzimmer gewesen. Jetzt eine Art gehobenes Wartezimmer mit Kamin und Blick ins Grüne. Abends, wenn die Beleuchtung sanfter war und die Bücherregale besser zur Geltung kamen, erinnerte es an eine moderne Bibliothek, wie sie in den Hochglanzzeitschriften für distinguiertes Wohnen manchmal abgebildet wurden. Die Gläser waren beschlagen. Henny trug einen knappen Bikini unter der halbtransparenten Tunika.

»Jason?« Sie ging zu ihm und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.

Jeremy kam es vor wie eine medizinische Handlung zwischen Krankenschwester und Patient. Er hatte schon seit langem keine tiefe Bindung zu seinem Vater mehr. Doch diese kurze Szene schmerzte ihn.

Jason brummte unwillig. Er öffnete blinzelnd die Augen, erkannte Henny und zog sie mit einer groben Bewegung auf seinen Schoß. Ihr gefiel das. Sie kicherte, als sie etwas Wein verschüttete und ihn darauf hinwies, dass sie nicht alleine waren.

»Das ist ja eine Überraschung!« Sein Vater gab Henny einen Klaps. Sie stand auf und lief barfuß hinaus auf die Terrasse, wo statt der alten Felsensteine nun Teakholz die Wärme eines ausklingenden Hochsommertages speicherte.

Jason stand auf. Das ging nicht mehr ganz mühelos. Jeremy war versucht, ihm beizuspringen, unterließ es dann aber. Sein Vater hätte das in Anwesenheit seiner jungen Geliebten nicht gewollt.

»Schon fast acht«, murmelte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Wir gehen gleich essen im Rot-Weiß.« Der Tennisclub, dem Jason, Brock und nun offenbar auch Henny angehörten. »Kommst du mit?«

»Nein danke. Ich habe schon etwas vor.«

Jeremy hatte nichts vor. Aber es widerstrebte ihm, Henny dabeizuhaben.

»Wie läuft’s bei Brock? Gut? Ja?« Sein Vater wartete die Antwort gar nicht ab. Er trank einen Schluck Wein und beobachtete die junge Frau, die es sich gerade auf einer Aluminium-Gartenliege bequem machte.

»Marquardt hat mir erzählt, dass der Prozess für Mitte, Ende September angesetzt ist. Ungewöhnlich für so einen Fall. Was sagt Brock?«

Marquardt war ein bestens vernetzter Staranwalt, der nur zu gerne in die Rolle des Pflichtverteidigers gesprungen war. Der Prozess würde eine Menge Publicity bringen. Jeremy wusste noch nichts von diesem Termin. Er zuckte nur vage mit den Schultern.

»Kommt ihr voran?«

Das war der Moment. Ja, wollte Jeremy sagen. Und ich habe den Durchbruch erreicht. Sie redet mit mir, und Brock nimmt das zum Anlass, mich mehr in das Gutachten zu involvieren. Er traut es mir zu. Er wurde nicht von anderen dazu aufgefordert, sondern hat diesen Entschluss aus freien Stücken gefasst. Es ist etwas, worauf ich stolz bin. Und ich würde das gerne mit dir teilen.

»Sie ist religiös.« Jeremy stellte sich neben seinen Vater. Das Wasserbecken mit den asiatischen Zierkarpfen war eingefasst von kleinen Buchsbaumkugeln. »Und sie erinnert sich an ihre Kindheit. Sie hat erst im Krankenhaus angefangen zu reden. Vorher hat sie einfach nur geschwiegen. Ich war heute bei ihr. Und da erzählte sie mir …«

Er wandte sich zu seinem Vater um. Jason Saaler beobachtete Henny. Sie räkelte sich auf der Liege und zog einen kleinen Schmollmund. Offenbar fühlte sie sich vernachlässigt.

»Schön«, sagte er, ohne den Blick von der jungen Frau zu wenden. »Richte ihm meine Grüße aus.«

»Mach ich.«

Noch im Hinausgehen fragte sich Jeremy, wann es aufhören würde. Dieses beschissene Gefühl, wenn einem der eigene Vater nicht zuhörte.

Das Dorf der Mörder
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