33

Jeremy hinterließ eine zweite, kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter, die er am Montag noch löschen konnte, bevor Mieze ins Büro kommen würde. Sie besagte, dass er mit Cara übers Wochenende einen Besuch in Wendisch Bruch machen und danach mit ihr nach Berlin zurückkehren würde.

Er beendete die Verbindung und warf Cara einen kurzen Blick zu, die am Steuer ihres Wagens saß und ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen hatte. Charlies Tod war noch so nah. Trauer und Schmerz hatten Türen geöffnet, die die Zeit wieder schließen würde.

Sie waren schon eine gute halbe Stunde auf der A9 Richtung Berlin unterwegs. Cara fuhr schnell und sicher. Als das Schild mit der Ausfahrt Treuenbrietzen am Straßenrand erschien, verlangsamte sie das Tempo und setzte schließlich den Blinker. Am Rückspiegel klebte eine kleine Plakette. Ein alter Mann trug das Jesuskind.

»Der heilige Christophorus?«, fragte er.

Sie nickte konzentriert, weil sie gerade in die Ausfahrt einbog.

»Ich bin so katholisch wie ein ungetauftes Heidenkind. Das ist noch vom Vorbesitzer.«

»Ach so. Ich dachte …«

»Was? Bist du religiös?«

Jeremy dachte nach. »Ja.«

»Ich nicht. In meinem Job verliert das Göttliche irgendwann seinen Reiz. Man sieht, was die Natur vor sich hinreproduziert, und das war’s. Die Evolution ist auch nichts anderes als das Schleifen von Flusskieseln.«

Er nahm es ihr nicht ab. »Und die heilige Katharina?«

»Ah, die Nothelfer. Stimmt. Die sind ja immer zur Stelle, wenn es ganz eng wird. Ja, von denen habe ich schon gehört.« Ihre Ironie schlug Funken. »Und ihre Chefin ist die heilige Maria, die die Anträge auf Hilfe sofort an die richtige Stelle weiterleiten soll. Behörden. Der Himmel eine einzige, bürokratische Behörde und der Boss in Urlaub.«

»Wie kam Charlie an die Heilige?«

Sie überfuhr eine rote Ampel. Es hatte keine Konsequenzen, weil weit und breit kein weiteres Fahrzeug zu sehen war. Trotzdem verringerte sie das Gas.

»Du hast doch gesagt, ein Priester hat sie ihr gebracht. Die lassen ja nichts unversucht.«

»Das kann kein Zufall sein. Woher wusste er, dass es ihre Schutzheilige war?«

»Bei einem Verhältnis von eins zu vierzehn hat er vielleicht einfach nur gut geraten.«

Jeremy zuckte mit den Schultern. Die Antwort stellte ihn nicht zufrieden, aber er hatte selbst auch keine bessere.

»Betest du manchmal?«, fragte er.

»Ja.« Die nächste Ampel tauchte in weiter Ferne auf. Cara schaltete einen Gang herunter. »Ich glaube, das tun wir alle. Wenn es eng wird und keiner da ist, dann brauchen wir etwas, dem wir unsere Verzweiflung an den Kopf werfen können. Aber ich mache keine Exerzitien mit Rosenkränzen, wenn du das meinst. Ich bin da flexibel. Ich fluche, ich bete, ich schreie herum – mein Gott hat es nicht leicht mit mir.«

Sie bremste und hielt an. Dann schenkte sie ihm ein zärtliches Lächeln.

»Du auch nicht.«

Sie küssten sich, bis es grün wurde.

Es war ein wamer Vormittag im Sommer, und alles fühlte sich richtig an.

Sie fuhren durch den Fläming, eine weite, flache, von Misch- und Kiefernwäldern durchzogene Landschaft. Die Kirchtürme der Dörfer waren weithin zu sehen. Ziegelsteinbauten und Fachwerkhäuser standen am Rand der Hauptstraßen. An Jüterbog faszinierte ihn die Klosterarchitektur und der mittelalterliche, tausendjährige Stadtkern. Dennoch waren deutlich die Spuren von Vernachlässigung und Landflucht zu bemerken. Die Dörfer und Weiler, durch die sie jetzt fuhren, lagen wie ausgestorben in der Mittagssonne. Cara verlangsamte das Tempo. Sie musste die eine oder andere Stelle wiedererkennen. Mitten auf einer Kreuzung in Richtung Baruth, auf dem Weg zum Urstromtal und der Luckenwalder Heide, hielt sie den Wagen an. Das war nicht gefährlich, weil weit und breit kein anderes Fahrzeug die Straßen befuhr.

»Meine Schule«, sagte sie und deutete auf ein zerfallenes Gebäude, das einmal ein typisch märkisches Verwaltungsgebäude aus wilhelminischer Zeit gewesen sein musste. Die Fensterhöhlen gähnten leer, an manchen Stellen waren noch Reste der eingeschlagenen Scheiben zu sehen. Der Putz blätterte vom spitzen Giebel des Eingangs, den jemand vor langer Zeit ausgerechnet mit grellgelber Farbe verunziert hatte.

»Hübsch«, sagte Jeremy.

»Na ja.«

Sie gab Gas und fuhr weiter. Mehrere Kilometer lang ereignete sich gar nichts. Die Äcker lagen wie riesige Handtücher ausgebreitet auf sanften Hügeln. Hier und da weideten Kühe. Weit oben am Himmel traf sich ein Schwarm Schwalben. Am Horizont drehten sich Windräder. Sie überquerten ein ausgetrocknetes Flussbett.

»Die Wende«, sagte sie. »Willkommen in der Steinzeit.«

Sie lachte. Es klang nervös. Ein bisschen so, als würde sie sich sogar für den versiegten Fluss genieren.

»Die Wende?«, fragte er.

»Ja. Sie ist ein Zufluss der Nuthe. Zumindest solange sie Wasser trägt. Daher der Name Wendisch Bruch. Wendisch hat also nichts mit den Elbslawen zu tun. Bruch kommt aus dem Mittelhochdeutschen von Bruoch, das heißt Sumpf, Morast, Moor. Nach der Wende … also nach neunundachtzig hieß es, alles, was auf unserer Seite ist, ist vor der Wende, alles, was auf der anderen, Richtung Jüterbog liegt, ist nach der Wende. Vor der Steinzeit, nach der Steinzeit. Kapiert?«

»Ja«, antwortete er. Brandenburg. Merkwürdiger Humor.

»Schöne Gegend«, setzte er hinzu, um überhaupt etwas zu sagen und weil man bei so viel Grün und Einsamkeit mit diesen Worten nicht viel verkehrt machen konnte.

»Na ja.«

Endlich tauchte ein Ortsschild auf. Jemand musste vor langer Zeit einmal dagegengefahren sein, es war immer noch schief nach hinten gedrückt. An den Knicken rostete es. Bevor sie es erreichten, ließ Cara den Wagen am Straßenrand ausrollen und stieg aus. Sie ging zur Fahrbahnmitte, blieb stehen und stemmte beide Hände in die Hüften, als wolle sie eine Baustelle besichtigen und die Arbeit abschätzen, die auf sie zukam. Jeremy folgte ihr.

Zur Linken lagen, hinter löchrigen, baufälligen Mauern, die grauen Baracken eines ehemaligen Bauernhofs. Die Straße führte weiter in den Ort. Buckliges Kopfsteinpflaster, gesäumt von einer Allee alter, knorriger Bäume. Er konnte einige Häuser erkennen, die in keinem guten Zustand waren. Das war er also, der Morast der Wende. Der Ort von Caras Kindheit.

»Wie geht es dir?«, fragte er. »Und sag jetzt bitte nicht na ja.«

»Na ja.«

Sie nahm die Sonnenbrille ab und schob sie sich ins Haar. Sie erinnerte ihn in Haltung und Aussehen an die junge Jackie Onassis. Eine Frau, die selbst in Jeans und geknoteter Bluse kühle Erotik ausstrahlte.

»Das war unser Hof.« Sie wies auf die Ansammlung niedriger Stall- und Wirtschaftsgebäude.

»Was ist damit passiert?«

»Kurz nach dem Tod meines Vaters sollte er zwangsversteigert werden, aber es fand sich schon damals kein Interessent.«

»Also gehört er dir noch?«

»Nein. Und wenn, dann wäre er auf Charlie … egal. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Meine Güte, das ist so lange her. Ich will das nicht. Lass uns umkehren.«

»Nicht jetzt. Wir sind doch fast da.«

»Die kennen mich doch alle hier und wissen, was man Charlie vorgeworfen hat. Das Dorf der Mörderin, so hat die Presse Wendisch Bruch genannt. Ich glaube nicht, dass ich hier mit offenen Armen empfangen werde.«

»Darum geht es auch nicht. Wir machen einen Spaziergang, schauen uns alles an, und wenn du dich an etwas erinnerst, bin ich da. Den Rest sehen wir dann in Berlin weiter, wenn du mit Professor Brock sprichst.«

»Ist das wirklich nötig?«

Der Mut verließ sie. In Dessau hatte alles noch so einfach geklungen. Nach einem spielerischen Experiment, das jederzeit abgebrochen werden konnte. Nun wurde es ernst.

»Du schaffst das.«

»Natürlich schaffe ich das. Ich weiß nur nicht, worauf du hinauswillst.«

Jeremy betrachtete das stille, leere Dorf.

»Das weiß ich auch nicht. Noch nicht. Lass uns sehen, was passiert. Und ich bin bei dir.«

»Hm.«

»Ich bin vielleicht kein Professor. Aber ich merke, wenn es dir zu nahe geht. Dann brechen wir sofort ab.«

Sie stiegen wieder ein und fuhren los. Als sie den Aussiedlerhof passierten, erwartete er, dass Cara anhalten würde. Aber sie stoppte erst an der einsamen Kreuzung in der Mitte des Dorfes, um die sich die wenigen Häuser des Ortes versammelt hatten. Jeremy fiel auf, dass jedes zweite verlassen und aufgegeben schien.

»Exodus«, murmelte er.

Cara stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. »Wir waren offenbar nicht die Einzigen, die die Flucht ergriffen haben. Meine Güte. Lebt hier überhaupt noch jemand? Ich habe diesem Flecken ja nie etwas Gutes gewünscht. Aber hier sieht es ja aus, als wäre eine Neutronenbombe eingeschlagen.«

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Riechst du das?«, fragte sie nach einer Weile. »Du wolltest doch Erinnerungen. Das sind sie. Gemähtes Gras, Heu, Getreidestaub in der Luft. Trockene Erde. Einsame Sommer.«

»Sonst nichts?«

Sie dachte nach.

»Nichts.«

Sie verließen den Wagen. Cara sah sich um, deutete auf ein leeres niedriges Haus, das von wild wucherndem Gestrüpp fast zugewachsen war.

»Das war der Bäcker. Und dort«, sie deutete auf eine weitere Ruine, »war der Fleischer. Und da …«

Sie drehte sich um. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Haus war etwas größer als die anderen und war zu früheren Zeiten wohl so etwas wie der Dorfkrug gewesen. Auf der Hauswand waren noch verblichene Schriftzeichen zu lesen. Zur Linde, entzifferte Jeremy und bewunderte die hohen Eichen, die den Giebel weit überragten.

»Da hab ich ab und zu ein Eis gekriegt. Kratzeis von Walburga. Lass uns nachsehen. Vielleicht lebt sie ja noch.«

Jeremy wollte gerade fragen, was Kratzeis und ob Walburga eine DDR-Firma gewesen war, da trat eine korpulente Frau von vielleicht sechzig Jahren mit ergrautem, zerzaustem Haar, Kittelschürze und ausgetretenen Gesundheitsschuhen vor die Tür. Unter dem Arm trug sie einen Wäschekorb aus Plastik, darin offenbar Handtücher und zerknäulte Kleidung. Sie blieb stehen und sah überrascht auf die beiden Unbekannten, die sich ihrem Haus näherten. Sie setzte den Korb ab und kam vorsichtig die zwei Stufen herunter. Die Überraschung wich Ungläubigkeit.

»Nee. Nicht. Cara? Bist du das?«

Sie legte die Hand über die Augen. Das verschattete ihr Gesicht, sodass nicht mehr zu erkennen war, ob die Verwunderung in Freude oder Ablehnung überging. Cara tastete nach Jeremys Hand. Er spürte ihre Anspannung, die sich durch ihre Berührung übertrug wie durch eine Stromleitung.

»Walburga. Walburga, der Wal.«

Die Frau ließ die Hand sinken.

»Und immer noch frech wie Lumpi.«

Ein unsicheres Lächeln zerschnitt ihre Züge, die Jeremy an die Bauerngemälde von David Teniers oder Jan Brueghel erinnerten. Hartes, entbehrungsreiches Leben, die letzten Jahre vor dem Alter mehr Erschöpfung als innere Ruhe. Walburgas Schritte waren unsicher, die Beine, die den schweren Körper trugen, geschwollen. Ihr Kittel sah nicht so aus, als ob sie ihn jeden Tag wechseln oder waschen würde. Fleischige, nackte Arme, wogende Brüste, durch einen ausgeleierten Büstenhalter von undefinierbarer Farbe mehr bedeckt als gestützt. Die grauen Haare, schlecht geschnitten und dünn und glatt wie Schnittlauch. Als sie näher kam und erst Cara, dann ihm die Hand entgegenstreckte, roch er säuerlichen Schweiß und Zwiebeln.

»Walburga Wahl, mit h, wenn’s beliebt. Mädchen, Mädchen. Was machst du denn hier?«

Ihr Blick, schneller und wacher als alles andere an ihr, flitzte von Cara zu Jeremy und wieder zurück.

»Das ist Jeremy Saaler. Er ist mein Psychologe. Ich darf einmal im Monat einen Nachmittag raus, wenn er mich begleitet.«

Walburga kniff die Augen zusammen, dann schüttelte sie den Kopf und lachte. Cara stimmte mit ein. Sie prusteten auf der Straße, als ob das der beste Witz aller Zeiten gewesen wäre, den nur Jeremy nicht verstand.

»Willste ’nen Saft?«, fragte Walburga und wischte sich eine kleine Träne aus den Augenwinkeln. »Und Sie, Herr Saaler? Einen Obstwein?«

Die Küche war altmodisch und im gleichen Zustand wie die Hausbesitzerin. Wahrscheinlich wie das ganze Haus, das seine Zeit als Gasthaus längst hinter sich hatte, wie Jeremy auf den ersten Blick feststellte. Das Wachstuch auf dem Tisch klebte, als er aus Versehen beim Hinsetzen seine Hand darauflegte. In der großen viereckigen Keramikspüle standen mehrere Teller und warteten auf den Abwasch. Walburga wieselte erstaunlich flink in die Speisekammer und kehrte mit zwei glücklicherweise noch nicht geöffneten Flaschen zurück.

Währenddessen hatte Cara drei Gläser ausgespült und auf den Tisch gestellt. Walburga gab in zwei von ihnen bis zur Hälfte Saft und holte dann einen Wasserkrug aus dem Kühlschrank, um den Rest damit aufzufüllen.

»Ist sonst zu süß«, erklärte sie. »Bruch’sche Pflaume. Und Ihr Wein ist Schwarzkirsche. Den mache ich selber.«

»Walburgas Obstwiesen sind ein Paradies.« Cara setzte sich und trank ihr Glas in einem Zug bis zur Hälfte aus. Jeremy schnupperte misstrauisch an der dunkelroten Flüssigkeit und kostete vorsichtig. Er schmeckte die wuchtige Süße von reifen Kirschen und einen Alkoholgehalt, der Richtung Likör tendierte.

»Sehr gut«, lobte er. »Aber ich glaube, ich muss ihn etwas strecken.«

»Bitte, bitte sehr.« Walburga schob ihm den Krug über den Tisch. Er stand direkt unter einem Fliegenfänger.

»Bewirtschaftest du sie noch?«, fragte Cara.

Walburga Wahl schüttelte den Kopf. »Schon lange nicht mehr. Aber erzähl, was treibt dich hierher? Ich sag’s lieber gleich, ich weiß das von deiner Schwester.«

Cara nickte. »Ließ sich ja wohl nicht vermeiden.«

»Tut mir leid. Obwohl das, was sie getan hat …«

»Sie hat es nicht getan.« Cara trank ihr Glas leer, Walburga beobachtete sie dabei und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist alles Lüge. Alles erfunden. Charlie ist keine Mörderin.«

»Soso. Tja.«

Jeremy goss sich Wasser in den Wein und hoffte, dass keine von den Fliegenleichen in den Krug gefallen war. Trotz dieser Todesfalle summten drei oder vier fette Brummer über der Spüle.

»Na ja. Leid tut es mir trotzdem. Hast ja genug mitgemacht. Ist was mit dem Hof?«

»Was soll denn mit dem Hof sein?«

»Der fällt langsam zusammen. Neulich war jemand vom Amt da und hat nachgesehen, was gesichert werden muss.«

»Ach ja? Von welchem Amt?«

»Weiß ich doch nicht. Ich sag nur, wenn da jemandem was passiert, bist du dran.«

Jeremy hörte zu und schwieg.

»Ich hab mit dem Hof nichts zu tun.«

»Nach Charlie gehört er dir. Ich dachte, das ist der Grund, warum du auf einmal auftauchst.«

Erstaunt wendete sich Cara an Jeremy. »Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, wir hätten den Hof längst verloren.«

»Verloren.« Walburga kicherte. »So was verliert man nicht. Das bleibt wie Dreck am Schuh. Aber egal. Also nicht deshalb. Warum dann?«

»Sei nicht immer so neugierig. Hast du noch ein Eis?«

»Schon lange nicht mehr.« Walburga seufzte und sah sich um. »Es ist alles vor die Hunde gegangen.«

»Die Hunde …«

Cara schloss die Augen. Dann riss sie sie auf. »Akra … was ist aus Kerl geworden?«

»Den hat dein Vater doch eingeschläfert.«

»Ach so. – Und Bruno? Lebt er noch?«

»Schon lange nicht mehr. Das ist sein Enkel, der irgendwo draußen rumstromert. Er heißt auch Bruno. Ich hab sie alle Bruno genannt, ist einfacher so. Sie sehen ja auch einer wie der andere aus. Hässlich, aber eine Seele. Die Brunos mögen alles, was klein ist und Hilfe braucht. Einmal hat er die jungen Katzen von Böhnes über die Straße getragen. Und alle haben sie auf die Kinder aufgepasst.«

Walburga schwieg. Die Stille setzte sich zu ihnen wie ein ungebetener Gast, den erst Caras Räuspern vertrieb.

»Wo ist Erich?«

Walburga, die eben noch in ihrem Stuhl geruht hatte wie ein Königsberger Klops in seinem Topf, richtete sich auf. »Der ist weg.«

Jeremy bemerkte, wie die aufgesetzte oder auch echte Freundlichkeit fast unmerklich in eine Abwehrhaltung überging. Sie rieb sich die Unterarme, als ob ihr kalt wäre, ihre Wangen bekamen schwachrote Flecken. Ihr physiologisches Reaktionsmuster deutete auf Angst, ausgelöst durch Misstrauen oder Schuldgefühle. Jeremy tippte auf Letzteres und wurde neugierig, was es mit diesem Hund auf sich hatte.

»Weg?«, fragte Cara erstaunt. »Wie das denn?«

»Kommt vor.«

»Ist er entlaufen?«, mischte Jeremy sich ein und wunderte sich, dass beide Frauen in Lachen ausbrachen.

»Erich ist Walburgas Mann.« Cara wurde ernst. »Ist vielleicht besser so, oder?«

»Hmmja«, antwortete Walburga ausweichend. Die Flecken wurden dunkler. »Und seitdem schlage ich mich so durch. Ich hab seine Rente, damit geht es.«

»Ach so.«

»Warum ist es besser so?« Jeremy trank von seinem verdünnten Wein und fand ihn nun genießbar.

»Weil er ein brutaler, ekliger Mensch war«, erklärte Cara. »Er hat mal mit einem Stein auf den Kerl geschmissen.«

»Das war aber doch ein Hund?« Er fand es immer noch irritierend, welche Namen man den Tieren hier gab.

»Ja. Und ganz ehrlich, er hat doch auch gesoffen wie ein Loch. Erich, meine ich, nicht der Kerl. So viel hat die Linde gar nicht einbringen können, dass er nicht gleich alles wieder in Alk umgesetzt hätte.«

»Ja«, sagte Walburga. Sie löste ihre Arme. Sie war wieder auf sicherem Terrain, weil Cara ihr glaubte. Jeremy tat das nicht. Etwas war faul an der Sache mit Erich. Kein Alkoholiker setzte sich ab und überließ seiner Frau freiwillig die Rente.

»Und Sie?«, fragte Walburga und wuchtete ihren Körper in Jeremys Richtung. »Was treibt Sie in unser gottverlassenes Kaff?«

»Die Feldsteinkirche. Ich habe darüber im Internet gelesen und würde sie mir gerne ansehen.«

Walburga nickte skeptisch. »Ja, manchmal kommen Radfahrer deshalb her auf dem Weg nach Baruth. Sie ist immer offen. Zum Klauen gibt’s da nichts. Höchstens unsere Esther.«

»Esther lebt noch?«, entfuhr es Cara. »Die müsste doch jetzt schon weit über achtzig sein.«

»Ja. Und immer noch genauso boshaft wie eh und je. Es hat sich hier nicht viel verändert. Es ist nur alles noch einsamer und trostloser geworden.«

»Warum stehen so viele Häuser leer? Wendisch Bruch ist wie ausgestorben.«

»Wenn es einmal anfängt, hört es nicht mehr auf.« Walburga patschte mit ihrer Hand leicht auf den Tisch. Jeremy wunderte sich, dass sie nicht an der Wachsdecke festklebte wie die Fliegen am Leim. »So. Ich muss weiter Wäsche aufhängen, sonst werd ich nie fertig.«

»Ich geh mal auf die Obstwiesen. Darf ich?« Cara sprang auf. »Das mache ich alleine. Lass mich, geh du schon mal zur Kirche. Wir treffen uns dann da.«

Noch bevor Jeremy auf den Beinen war, war sie auch schon hinausgelaufen. Walburga räumte die Gläser in die volle Spüle und ging dann durch den Hinterausgang, den auch Cara genommen hatte.

Aufgegebene Gärten berührten Jeremy. Wenn man noch ahnen konnte, wie eine liebevolle Hand sie angelegt hatte, bevor die Vernachlässigung begann. Das Gasthaus Zur Linde musste einmal vor langer Zeit ein reiches, stolzes Haus gewesen sein. Er stellte sich vor, wie Fuhrwerke vor dem Haupteingang gehalten hatten und zahllose Tische unter dem grünen Dach der Zweige besetzt gewesen waren. Wie Weinfässer sich in dem Schuppen gestapelt hatten, der jetzt beinahe in sich selbst zusammenbrach. Der Rasen war fleckig, zum Teil verdorrt, zum Teil in die Höhe geschossen. Die Wäscheleine, von einem Baum zu einer verrosteten Eisenstange geführt, hing in der Mitte durch. Er nahm den Plastikkorb auf und folgte Walburga, vorbei an ausladenden Brennnesselbüschen.

»Das ist aber sehr aufmerksam, junger Mann.«

Sie nahm einen ausgeblichenen Baumwollbeutel von der Stange und hängte ihn sich um. Dann ließ sie sich von Jeremy eine exorbitante Unterhose reichen, die sie, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Leine hängte. In dem Beutel grabbelte sie nach Wäscheklammern und befestigte damit das ausgewaschene, löchrige Stück.

»Nun mal raus mit der Sprache. Warum ist sie hier?«

Sie wies mit dem Kopf ans Ende des Grundstücks, das in einen verwilderten Kräutergarten und dann in eine Obstwiese überging. Er sah Cara, wie sie sich kurz umwandte und ihm zuwinkte. Er winkte zurück.

»Kindheitserinnerungen«, sagte er wahrheitsgemäß.

Walburga kniff die Augen zusammen. Nicht, um damit den Zustand des nächsten Wäschestückes, einer Jeans mit Beinen wie Kanalrohre, zu kommentieren, sondern weil sie ihm offensichtlich nicht glaubte.

»Da gibt’s nicht viel zu erinnern.«

»Nicht? Es klang immer so nett, wenn sie von Wendisch Bruch erzählt hat.«

»Nett? Was hat sie denn erzählt?«

»Von den Sommern hier. Dem Geruch, der bei der Ernte in der Luft liegt.« Er hielt kurz inne, dann beschloss er, den wichtigsten aller Steine ins Rollen zu bringen. »Von den Hunden.«

»Den Hunden?«

Die Klammer aus Kunststoff zerbrach bei dem Versuch, den dicken Stoff festzuklemmen. Walburga suchte mit gerunzelter Stirn nach einer anderen in ihrem Beutel und zog dann eine aus Holz hervor. Mit der gelang es.

»Warum erinnert sie sich an die Hunde?«

»Genau das frage ich mich auch. Was war hier los?«

»Nichts. Das ist ja das Elend.«

»Sie verstehen mich nicht. Ich glaube, dass es kein Zufall war, was Charlie geschehen ist.«

»Charlie? Haben Sie sie gekannt?«

»Sie war Caras Schwester. Natürlich.«

Walburga ließ sich einen verpillten Pullover reichen. »Macht sie also einen auf Familie. Reichlich spät. Herzlichen Glückwunsch dann also. Sie sind doch zusammen, oder?«

Jeremy lächelte. Walburga war schlauer, als es der erste Anschein vermuten ließ. »Ja. In gewisser Weise. Und deshalb möchte ich natürlich auch so viel wie möglich über sie erfahren.«

»Dann fragen Sie sie man lieber selbst, junger Mann.«

»Sie kann sich nicht erinnern.«

Walburga ließ den Pullover sinken. Sie schnaufte leicht, und die Flecken an Hals und Wangen traten wieder auf. Dieses Mal von der Anstrengung, vermutete Jeremy.

»Vielleicht ist das auch besser so. Sie hat es nicht leicht gehabt. Die Mutter früh gestorben, der Vater ein versoffener, grober Mann, vor dem alles in Deckung gehen musste, wenn er einen sitzen hatte. Und Charlie, die hatte noch nie alle Tassen im Schrank.«

»Und die Hunde.«

»Was haben Sie denn immer mit den Hunden?«, fragte sie, leicht verärgert, und widmete sich dem Pullover. »Die hatten zwei. Akra und Kerl. Ein Schäferhund und ein Mastino-Mix. Gefährliche Brut. Liefen immer frei auf dem Hof herum, deshalb hat sich auch keiner dahingetraut.«

»Aber es gab doch noch mehr davon, oder?«

Sie schob den Pullover zur Seite und bückte sich, um auf die andere Seite der Leine zu kommen.

»Jeder hier hat mindestens einen. Esther sogar noch bis letztes Jahr, dann hat auch der das Zeitliche gesegnet. Sind Sie Hundeforscher oder so was?«

»Nein, nein.« Jeremy bückte sich und versuchte, einige zusammengeknäuelte Strümpfe so zu entwirren, dass er sie Walburga paarweise reichen konnte. »Was war mit den Babys?«

Er fand zwei Wollsocken, die selbstgestrickt aussahen, richtete sich auf und wollte sie Walburga reichen. Sie stand da, reglos, den Blick in die Ferne gerichtet, und antwortete nicht.

»Frau Wahl, ist Ihnen nicht gut? Wollen Sie sich setzen?«

»Nein … nein, danke.« Sie nahm die Socken und warf sie über die Leine. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Hören Sie, ich muss meine Tabletten nehmen. Ich mache das hier später fertig. Auf Wiedersehen.«

Sie ging an ihm vorbei ins Haus. Jeremy blickte ratlos auf den halb leeren Wäschekorb. Da sie den Klammerbeutel mitgenommen hatte, unterließ er es, den Rest auch noch aufzuhängen. Er ging zurück zur Straße und versuchte, sich zu orientieren. Von Jüterbog waren sie gekommen, also ging die Straße nach Baruth aus dem Ort wieder hinaus. Nach hundert Metern entdeckte er die Kirche auf einem kleinen Hügel und hielt darauf zu.

In ihrem Inneren war es dunkel und kühl. Walburga hatte Recht: Zu stehlen gab es hier nichts. Höchstens das Holzkreuz mit dem gemarterten Christus über dem Altar, aber es war mit einer schmiedeeisernen Halterung sicher in der Wand verankert. Er schämte sich einen Moment, weil er in einer Kirche ans Klauen gedacht hatte.

Er nahm in einer der Bänke Platz und wartete. Als eine Viertelstunde vergangen war, trieb ihn die Unruhe hinaus vor die Tür. Er umrundete die Kirche in Richtung Osten und sah von seiner Anhöhe aus die Obstwiesen und einen Teil des alten Gasthauses Zur Linde.

Cara war nirgendwo zu sehen. Er versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber nach dem vierten Klingeln sprang nur ihre Mailbox an.

Unter einem Baum stand eine Bank. Er ging darauf zu und setzte sich. Jemand hatte vor langer Zeit ein Herz und zwei Buchstaben hineingeritzt. C und M.

Das hat mir Cara gar nicht erzählt, dachte er mit einem leisen Anflug von Eifersucht. Es hat noch jemanden gegeben in ihrem Leben. Jemand aus dem Dorf. Er strich über das Herz und stellte sich vor, wie zwei Teenager hier gesessen und sich die schwitzenden Hände gehalten hatten. Eigentlich war es ein schöner Ort hier oben. Vielleicht der schönste von Wendisch Bruch.

Als weitere fünfzehn Minuten vergangen waren und die einzige Bewegung, die er unten im Dorf ausmachen konnte, das sachte Wiegen von Walburgas Unterhosen auf der Leine war, wurde er unruhig. Vielleicht hatte sie ihre Verabredung vergessen? Da er bei seinem zweiten Versuch, sie telefonisch zu erreichen, auch keinen Erfolg hatte, schickte er ihr eine kurze SMS mit der Bitte, sich zu melden.

Er lief die Straße zurück. Ihr Auto stand immer noch vor Walburgas Haus. Doch das war nun verschlossen. Er klopfte an und versuchte es über den Hintereingang, aber auch dort stand er vor einer verrammelten Tür. Er rüttelte an der Klinke, trat zurück, rief, doch niemand reagierte. Dafür schlug in weiter Ferne ein Hund an. Ein zweiter fiel ein. Das Bellen setzte sich fort, vier oder fünf Hunde mussten es sein. Ein langgezogenes Heulen setzte ein. Es klang, als ob ein Rudel Wölfe den Mond ansang. Unheimlich. Gruselig. Jeremy schauderte. Die Hunde von Wendisch Bruch waren erwacht.

Das Dorf der Mörder
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