35

Beim zweiten Erwachen konnte sie die Augenlider bewegen, aber sie war blind. Die Finsternis war endgültig und undurchdringlich, mit geschlossenen wie mit geöffneten Augen. Sie versuchte, ihre Finger zu beugen und zu strecken – es gelang. Die Lähmung schien nachzulassen, und sie holte tief Luft.

Fehler.

Es roch nicht, es stank nach Exkrementen. Der Boden war feucht, modrig, war glattgetretene Erde vielleicht oder Schlamm, den der Regen durch die Ritzen spülte. Sanela versuchte, sich aufzusetzen, und stieß mit dem Kopf an die Decke. Ein Sarg, schoss es ihr durch den Kopf. Im gleichen Moment zuckte ein Schmerz durch ihren Körper, wie sie ihn noch nie empfunden hatte. Entweder war ihr Rückgrat gebrochen, oder jemand hatte einen glühenden Nagel in ihre Wirbelsäule gejagt. Sie zog die Luft durch die Zähne ein, um nicht laut aufzuschreien. Du bist tot, dachte sie. Auch wenn du wieder atmen und dich bewegen kannst. Du liegst in einem Sarg in deiner eigenen Pisse. Sie haben dich lebendig begraben. Panik saß in ihr wie ein gefangener Vogel, bereit, die Flügel auszubreiten.

Atmen. Atmen und zählen. Dann wird es gehen.

Sie streckte die Arme aus und wunderte sich, dass es ihr gelang. Also kein Sarg. Dann wartete sie, bis die nächste Schmerzwelle abgeflaut war, und tastete mit den Fingerspitzen über den feuchten Boden. Welcher Raum hatte eine Deckenhöhe von kaum einem Meter? Sie drehte sich mühsam um und betastete ihren Hinterkopf. Eine warme und klebrige Flüssigkeit blieb an ihrer Hand kleben. Blut. In gebückter Haltung, voller Vorsicht, damit sie sich nicht noch einmal den Kopf anstieß, kroch sie durch den Dreck, bis sie an eine Mauer kam. Der Gestank raubte ihr fast den Verstand. Ammoniak. Ihre Augen tränten, der Hustenreiz war nicht mehr zu unterdrücken. Sie zog ihr Hemd hoch und presste es sich vor die Nase. Der Anfall wollte kein Ende nehmen, ihr Kopf wollte explodieren. Sie musste sich zwingen, mit dem Husten aufzuhören. Nach Luft ringend krümmte sie sich zusammen, legte die Stirn auf den Boden. Atmen und zählen. Atmen und zählen. Noch leuchteten die Ziffern ihrer billigen Armbanduhr. Zehn nach zwei. Mittags oder nachts? Sie versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war, aber das letzte Bild, das ihr Hirn ihr lieferte, war blutrote Tomatensoße, die aus einer Dose spritzte. Ihrer Verletzung nach musste sie jemand niedergeschlagen haben. Diesmal ist es dir gelungen, Charlie. Dieses Mal hast du mich richtig erwischt …

»Hallo?«

Ihre Stimme klang dumpf.

»Hallo? Hilfe!«

Niemand hörte sie. Die Stille hier unten war so dicht wie die Dunkelheit. Trotzdem musste von irgendwoher Luft hereinkommen, sonst wäre sie schon längst erstickt. Sie kroch auf und ab, tastete immer wieder nach der niedrigen Decke, Holzbohlen, fast fugenlos verlegt, saubere Arbeit, suchte jeden Quadratzentimeter ab, fand aber keinen Ausstieg, keine Falltür, nichts. Irgendwie musste sie hier hereingekommen sein. Da unter ihr nur verdreckter, mit einer zehn Zentimeter dicken Schlammschicht bedeckter Beton war und die Wände ebenfalls gemauert und glatt verputzt waren, konnte es nur einen Ausweg geben – nach oben.

Mühsam, immer wieder unterbrochen von Hustenanfällen, maß sie anhand ihrer Körpergröße und eines Steins die ungefähre Länge und Breite ihres Verlieses. Ein Rechteck, circa zwei mal vier Meter groß. Im Dreck stieß sie immer wieder auf Steine und Äste, vielleicht noch aus der Zeit, in der diese niedrige Grube angelegt worden war. Für was? Das war kein Raum, das war eine Falle. Ein Verlies. Ein Abort. Vielleicht eine uralte Sickergrube. Schließlich ließ sie sich stöhnend auf die Seite rollen und zog die Beine an. Sie hatte geglaubt, sie hätte das Weinen verlernt. Aber plötzlich war es ganz einfach.

Nach ein paar Minuten hörte sie auf, weil es die reine Vergeudung von Kraft und Körperflüssigkeit war. Müdigkeit überfiel sie. Vielleicht waren es auch Verzweiflung und Todesangst, aber sie entschied sich, diesen Sog einfach zu ignorieren. Sie musste nur zu Kräften kommen und dann einen Ausweg suchen. Wer hier hereinkam, kam auch wieder heraus.

Sie bettete ihren Kopf auf den Stein. Er war halbrund, mit einer Kuhle auf der einen Seite. Als er wegrutschte, griff sie ihn sich, um ihn neu zu positionieren. Er hatte Löcher, die mit nasser Erde verstopft waren. Eingriffslöcher. Vielleicht eine kaputte Bowlingkugel? Schwer genug war er. Sie pulte die Erde heraus, dann strich sie über die Kuhle, entfernte Schlamm und anderen, undefinierbaren, schleimigen Dreck und tastete über die Wölbungen und Einbuchtungen. Konnte nicht glauben, was sie fühlte. Kieferknochen. Eine Fontanelle. Entsetzt fuhr ihre Hand zurück. Sie schrie auf, warf das Ding von sich, kroch, von Panik getrieben, in die andere Ecke, spürte die Zweige, schrie wieder auf, als sie mit der Hand mitten in das Gerippe traf, das sie für vermoderte Äste gehalten hatte, schüttelte sich, rollte sich, von Grauen getrieben, in der anderen Ecke zusammen und schlang die Arme um sich. Wimmernd blieb sie liegen. Der Stein war ein Schädel und die Äste Knochen. Sie war nicht die Erste hier unten. Aber die Einzige, die noch lebte.

Das Dorf der Mörder
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