17

Sanela bezahlte ihren Kaffee und bemerkte, dass in der Tiefkühltruhe Schlumpfeis wieder vorrätig war. Sie nahm den Pappbecher mit nach draußen und ließ sich, scheinbar ziellos, durch das weitläufige Gelände des Tierparks treiben. Vor dem Pekari-Gehege blieb sie stehen und betrachtete die Schweine, die sich vor der Mittagshitze in den Schatten ihres Holzverschlags zurückgezogen hatten und dösten. Täuschte sie sich, oder war die Rotte geschrumpft? In ihrer Erinnerung waren es mindestens ein Dutzend dieser Tiere gewesen, die in die Klinik gebracht worden waren. Jetzt zählte sie gerade einmal sechs.

Wer weiß, was Haussmann mit ihnen angestellt hatte, um an das heranzukommen, was sie verschlungen hatten. Niedlich sahen sie aus. Wie eine Kreuzung aus Wildschwein und Tapir. Schmale Köpfe, lange Rüssel, dunkelgraues bis schwarzes, borstiges Fell. Das Gefährliche an ihnen waren die Eckzähne: kürzer als die anderer Schweine, keine Hauer, aber scharf wie Dolche.

Tier, das viele Wege durch den Wald macht, las sie auf der Tafel vor dem Geländer. Tier, das Jaguare und Pumas in die Flucht schlägt. Tier, das Menschen tötet, wen man es reizt. Tier, das frisst, wenn es Hunger hat.

Welchen Hass hatte Leyendecker auf sich geladen? Was hatte ihn zum Opfer eines solchen Verbrechens gemacht? Wirklich nur der reine Zufall? Sie schlenderte weiter in Richtung Alfred-Brehm-Haus, vorbei an Wölfen, Nilpferden, Zebras und Elefanten. Schließlich erspähte sie die luftige Konstruktion der Tropenhalle, in der exotische Vögel und Gewächse beheimatet waren. Hinter dem Haus wurde das Grün üppiger, Büsche und Bäume wucherten ungehindert und bildeten einen natürlichen Wall, der die Tierparkbesucher davon abhielt weiterzugehen. Hier war das Ende der Besucherzone. Ein schmaler Weg, abgesperrt mit einer rot-weißen Kunststoffkette, führte weiter zum Wirtschaftshof.

Sanela erinnerte sich, dass sie diese Strecke mit Leyendeckers Kopf in einer Kiste im Elektroauto eines Tierparkmitarbeiters gefahren war. Hinter der Kette begann der Bereich, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Sie sah sich schnell um. Niemand war ihr gefolgt. Pinguine, Geparden und Präriehunde lagen links von ihr, dahinter hatte Charlotte Rubin, sofern man ihren Ausführungen Glauben schenkte, Leyendecker über zwölf Stunden lang gefesselt, geknebelt und betäubt, an einer uneinsehbaren Stelle abgelegt und gewartet, dass es dunkel wurde.

Sie stieg über die Kette und schlug sich nach links in die Büsche. Natürlich hatte die Spurensicherung alles abgesucht. Sanela war sich nicht sicher, nach was sie Ausschau hielt. In erster Linie wollte sie einen Eindruck gewinnen. Die dürren Worte, mit denen der Tathergang in Charlotte Rubins Ermittlungsakte beschrieben worden war, waren vielleicht mit einer Landkarte vergleichbar. Es reichte nicht, sie zu studieren. Um das Gelände zu kennen, musste man es begehen.

Sie folgte einem kaum erkennbaren Trampelpfad. Goldregen, Kirschlorbeer und junge, wild gewachsene Bäume erschwerten das Durchkommen. Nach zwanzig Metern erreichte sie die Stelle. Geknickte Zweige. Ein Handschuh der Spurensicherung, wahrscheinlich beim Einpacken verloren. Sie ging in die Knie und berührte den lockeren Waldboden. Ihre Schulter schmerzte. Sie hatte es dem Amtsarzt verschwiegen.

Ein gutes Versteck für einen Körper, den keiner finden sollte. Von ferne konnte sie die Geräusche des Tierparks hören – Lachen, laute Stimmen, das Kreischen der Affen, ein Raubtier brüllte. Fütterungszeit.

Über ihr zwitscherten die Vögel in den Baumkronen. Sanela erinnerte sich daran, wie warm dieser Tag im Mai gewesen war, der Leyendeckers letzter werden sollte. Auftakt zu einer Reihe noch schönerer, noch wärmerer Tage, die in eine ausgedehnte Hitzeperiode mündeten, unter der die ganze Stadt mittlerweile litt. Damals war es wie das Erwachen aus dem Winterschlaf gewesen. Eine Verheißung von Sommer. Jetzt war er da, und alle beschwerten sich.

Sie stand auf und schob die Lorbeerzweige zur Seite. Die Rückansicht des Alfred-Brehm-Hauses kam ins Blickfeld. Selbst wenn Leyendecker gestöhnt und gerufen hatte, niemand hätte ihn gehört. Dieses Versteck untermauerte die These, dass der Mörder oder die Mörderin das Gelände kannte – und nicht nur seinen Lageplan.

Sie kehrte zu dem abgesperrten Weg zurück und lief ihn weiter. Niedrige graue Baracken kauerten im Wald. Die Gehege um sie herum waren leer. Sanela vermutete Aufzucht oder Quarantäne. Die Tiere waren vor der Hitze in die kühleren Häuser geflüchtet. Sie wusste, dass weiter vorn der Wirtschaftshof lag und rechts davon die Futtertierstation. Ein Pfau kam ihr entgegenstolziert. Als sie das Geräusch eines Wagens hörte, schlug sie sich in die Büsche und wartete, bis es vorüber war. Sie wollte nicht entdeckt werden. Sie wollte keinen Ärger.

Unbehelligt gelangte sie bis zum Hof. Auf der anderen Seite lag die Tierklinik. Hinter dem Stamm eines uralten Ahorns wartete sie, bis sie sicher sein konnte, dass niemand die Verwaltung verließ oder durch das Wirtschaftstor hereinkam. Sie huschte über den Platz und erreichte die Knochentonnen. Der Gestank kam ihr unerträglich vor.

Es war kein gutes Gefühl, an diesen Ort zurückzukehren. Der Schlag gegen sie war mit großer Wucht und dem Willen zum Töten ausgeführt worden. Wenn Rubin wirklich eine Einzeltäterin war – und Sanela zweifelte mehr und mehr an dieser Theorie –, was war dann geschehen in der kurzen Zeit, die Sanela sie allein gelassen hatte? Was hatte in der Frau eine solche Rage freigesetzt? War es vielleicht gar nicht Charlotte Rubin gewesen, die sie niedergeschlagen hatte?

Sanela holte eine mehrfach zusammengefaltete Kopie aus ihrer Hosentasche und verglich das vor ihr liegende Areal mit der Zeichnung auf dem Papier. Sie stand nun mit dem Blick in nördliche Richtung. In ihrem Rücken spürte sie die beruhigende Wärme der Ziegelwand. Vor ihr lagen, verborgen von Bäumen und nachlässig gestutztem Gebüsch, die Wohnbaracken. Auf dem Plan waren fünf dieser kleinen Häuschen verzeichnet. Das vorderste hatte Rubin gehört. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte alles unter Kontrolle. Rubin saß im Knast. Falls es einen zweiten Täter geben sollte, hatte er schon längst das Weite gesucht. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Sie durfte sich nur nicht erwischen lassen.

Noch einmal kamen Bedenken. Ihre Bewerbung für die Hochschule, Gehrings fast aggressive Ablehnung, sogar Haussmann, der ausgesprochen freundlich zu ihr gewesen war, als er in ihr die Frau wiedererkannt hatte, die ihm Leyendeckers Kopf gebracht hatte, der ihr aber auch dringend geraten hatte, sich nicht weiter einzumischen – all das müsste doch eigentlich reichen, dass sie den Mund hielt und den Fall Rubin einfach vergaß. Warum stand sie dann im Tierpark neben den Knochentonnen und hatte vor, in Rubins Haus einzusteigen?

Weil etwas an der ganzen Geschichte nicht stimmt, machte sie sich selber Mut. Entweder bin ich eine gute Polizistin, oder ich höre auf das, was andere mir sagen, damit ich ihre Arbeit nicht störe.

Rubin funktionierte. Ob als Rattenzüchterin oder Mörderin – sie akzeptierte die Rolle, die ihr das Leben zuwies. Es hatte einen Morgen in Sanelas Kindheit gegeben, an dem sie, um zu überleben, genau das Gleiche getan hatte.

Du hast nichts gesehen. Verstanden? Sonst bist du tot.

Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, diesen Morgen endlich auszulöschen.

Seit die KTU Rubins Bungalow durchsucht hatte, war niemand mehr dort gewesen. Sanela riss das Klebeband ab und benutzte den scharfkantigen Bart ihres Autoschlüssels, um das Siegel aufzuritzen. Den Schnapper im Schloss drückte sie mit ihrer Kreditkarte zurück. Angst vor Einbrechern hatte Rubin nicht gehabt. Wahrscheinlich gab es auch keinen Grund dafür. Der Wachschutz und die hohen Mauern rund um das Gelände hielten Eindringlinge ab. Stieg doch jemand über die Mauern oder wartete im Park auf den Schutz der Dunkelheit, dann tat er das, um wertvolle und seltene Tiere zu stehlen. In den Unterkunftsbaracken gab es nichts zu holen.

Sie kam in einen engen Flur, von dem rechts das Badezimmer und die Küche abgingen, links ein kleines Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Auf den ersten Blick ein sauberes, aber recht karges Wohnen. Rubin hatte nicht viel für Dekoratives übrig. Vor dem Fenster hingen weiße Gardinen, wohl ein Fertigzuschnitt, denn sie endeten auf halber Höhe des Heizkörpers. Auf dem Couchtisch lagen einige Zeitungen und ein aufgeschlagener Roman, irgendeine englische Liebesschmonzette von Jane Austen. Eine Nussbaumanrichte bot Platz für weitere Bücher, Gläser und ein paar CDs. Klassische Musik. Rilke. Hesse. Hustvedt. Coelho. Sieh an. Belesen und romantisch. Das hätte sie Charlie gar nicht zugetraut. Sanela sah sich um und entdeckte eine kleine Anlage neben dem Sofa. Sie tippte auf den CD-Auswurf. The Celtic Viol, Jordi Savall. Irische Musik des Mittelalters. Die Frau verbarg ihre Facetten gut.

Ein Röhrenfernseher, zwei Kunstledersessel, ein Flickenteppich auf altem Linoleum, das wohl wie Holzparkett aussehen sollte. Es glänzte, auch die Fenster waren noch sauber. Rubin schien ihr kleines Reich gemocht zu haben. An den Wänden hingen Aquarelle. Zebras, Antilopen, Elefanten. Sie waren hübsch und mit echtem Talent gezeichnet. Sanela entdeckte, dass jedes Bild mit den Buchstaben CR signiert war. Auch wenn alles von der Spurensicherung durchsucht worden war und deshalb etwas Unordnung herrschte, konnte man eines erkennen: Charlie hatte versucht, eine Heimat zu finden und sie gleichzeitig vor den Augen der anderen zu verbergen.

Das Badezimmer müsste eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden. Ein uraltes, aber peinlich sauberes Klo mit einer Ziehspülung. Gelbe Kacheln an den Wänden, eine in die Jahre gekommene, zerkratzte Badewanne. Es roch leicht nach Zitrus und Desinfektionsmittel. Auf dem Waschbecken stand ein Zahnputzbecher, im Spiegelschrank bewahrte Rubin einige wenige Kosmetika und frei verkäufliche Arzneimittel auf.

Das Einzelbett im Schlafzimmer war zerwühlt, der Kleiderschrank stand halb offen. Charlie lebte allein, das war offensichtlich. Ihre Kleidung war praktisch und schlicht, wie Sanela nach einem kurzen Check feststellte. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker. Die eingestellte Zeit war vier Uhr fünfzehn. Kurz vor Morgengrauen war sie ein letztes Mal aufgestanden, um Leyendeckers Reste aus dem Gehege zu entsorgen, um dann, pünktlich um acht, zu ihrer Schicht zu erscheinen, als wäre nichts gewesen.

Der Clown war am Vormittag noch einmal zurückgekommen. Warum? Die Kleidung des Toten war nicht gefunden worden. Auch sein Portemonnaie, sein Handy und seine Uhr, falls er eine getragen hatte, waren verschwunden. Sanela vermutete sie im Wassergraben bei den Eisbären oder irgendwo im Elefantengehege. Wenn es einen zweiten Mann oder eine zweite Frau gab, dann hatte er/sie die Nacht mit Rubin in diesem Haus verbracht.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer und untersuchte die Couch. Fuhr in die Ritzen der Polster, schob sie zur Seite, sah unter ihnen nach, hob die Kissen, fand nichts. Dasselbe Procedere mit den Sesseln erbrachte das gleiche Ergebnis. Mit einem leisen Fluch warf sie das letzte Kissen zurück auf seinen Platz. Es musste eine Spur geben. Zwei Menschen töteten. Sie saßen nach vollbrachter Tat zusammen. Sie blieben wach. Rubin ging vielleicht zurück ins Bett, der andere blieb hier, im Wohnzimmer. Um vier Uhr fünfzehn klingelte Rubins Wecker – falls sie überhaupt geschlafen hatte. Sie standen auf, einer hielt die Pekaris in Schach, der andere sammelte die Reste ein. Kippten alles in die Tonne. Vergaßen Hand und Kopf, fanden beides vielleicht nicht, oder die Schweine ließen sie nicht heran. Verloren etwas auf dem Weg, wussten, dass einer nochmal zurückmusste. Warteten. War es so? War das die Wahrheit? Oder hatte sie sich nur in etwas verrannt? Es war ihnen um die Tat gegangen. Ein eingespieltes Team offenbar, denn so mordete man nicht spontan. Hinterher musste die Leiche verschwinden. Sie sollte nicht entdeckt werden. Hatten sie das früher schon einmal getan? Gab es ähnlich rätselhafte ungelöste Fälle, in denen Menschen sich in Luft aufgelöst hatten? Oder in denen sie Opfer eines grausamen Rituals, nahezu einer Schlachtung geworden waren? Taten im Affekt beging man mit den Waffen, die einem gerade in die Hände fielen. Nicht mit Medikamenten, Schubkarren und Clownskostümen. Sanela schob die Hände in die Hosentaschen und drehte sich langsam in dem Raum um die eigene Achse. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie Zuschauerin eines Theaterstücks war, das nach mehreren Aufführungen abgesetzt und dann urplötzlich doch noch einmal auf den Spielplan gehievt worden war. Aber Charlie spielte nicht die Hauptrolle. Die hatte jemand anderes übernommen. Jemand, der Regisseur und Darsteller in einer Person gewesen war.

Sanela ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Steinalte Wurst, ein Stück Butter, zwei Becher Joghurt und ein muffiger Geruch, der aus der Milchtüte kommen musste. Sie schlug die Tür zu und sah die Kaffeemaschine. Auf dem Glasboden der Kanne hatte sich schwarzes Surrogat abgesetzt. Der Filter war halb voll, der Inhalt knochentrocken. Die glatte Oberfläche des Kaffeemehls und die braunen Ränder an der Filtertüte verrieten ihr, dass diese Kanne die letzte gewesen war, die Rubin in ihrem Haus getrunken hatte. Sie nahm die Kanne und roch nachdenklich an dem eingetrockneten Rest.

Ihr Handy klingelte. Auf dem Display erschien die Dienststellenvorwahl.

»Ja?«

»Wo zum Teufel sind Sie?«

Gehring hatte einen Ton am Leib, den er sich dringend abgewöhnen musste.

»Zuhause im Bett«, antwortete sie. »Mir war nicht gut heute Morgen. Hab ein bisschen gefeiert.«

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich nach reiflicher Überlegung eine Kollegin mit den Kindern sprechen lasse. Rein informell, damit wir uns richtig verstehen. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, wenn Sie Kollegin Schwab vorher briefen könnten.«

Die Schwab. Großartig. Die Schwab in einer Ermittlung einzusetzen war das Gleiche, wie Gänseblümchen mit dem Mähdrescher zu pflücken.

»Was soll ich ihr denn sagen?« Vorsichtig schob sie die Kanne zurück unter den Filter. Gehring stöhnte ungeduldig.

»Zum Beispiel, mit welchen Kindern Sie gesprochen haben und was diese Befragung erbracht hat.«

»Es war keine Befragung. Es war Erste Hilfe. Die Kleinen standen unter Schock. Jemand musste sich um sie kümmern, bis die Eltern eintrafen.«

»Und das waren ausgerechnet Sie?«

»Ich bin immer an dem Platz, an den der Herr mich stellt.«

Sie öffnete einen der Hängeschränke über der Spüle. Reis, Mehl, Zucker, Tee, Nudeln. Sie hörte, wie Gehring wieder stöhnte.

»Wann sind Sie wieder im Dienst?«

»Morgen. Die Kinder hießen Dilshad und Luise. Die Erzieherin der Kita-Gruppe hat den ersten Notruf abgesetzt.«

»Okay. Ich werde das so weiterleiten.«

»Sie haben den zweiten Clown gesehen. Er hat Luise einen Luftballon geschenkt.«

»Einen Luftballon«, wiederholte Gehring in einem Tonfall, als ob er alles genau notieren würde. »Sonst noch was?«

Sanela öffnete die Tür zu dem Schrank unter der Spüle. Der Mülleimerdeckel öffnete sich automatisch. Sie sah versteinerte Brotreste, eine zusammengedrückte Milchtüte und eingetrocknete, benutzte Teebeutel.

»Ich … lassen Sie mich überlegen.« Sie ließ das Handy sinken und öffnete eine Besteckschublade. Sie holte eine Gabel heraus und fischte nach einem der Teebeutel. »Ich glaube, ich hab was gefunden.«

»Frau Beara … wo sind Sie?«

»Also, um ehrlich zu sein, in Charlotte Rubins Bungalow auf dem Tierpark-Gelände.« Schweigen. War wahrscheinlich kein gutes Zeichen. Vorsichtig legte sie den Teebeutel auf der Arbeitsplatte ab.

»Was tun Sie da?«, klang Gehrings Stimme gepresst an ihr Ohr.

»Psychologisch gesehen arbeite ich gerade mein Trauma auf. Ich wollte noch einmal an den Ort, an dem ich niedergeschlagen wurde. Das ist wichtig für mich, hat mir der Arzt gesagt.«

»Welcher Arzt?«

»Mein Arzt. Er meinte, ich müsste zurück an den Ort des Geschehens. Und da bin ich.«

»Sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie eingebrochen sind.«

»Hören Sie, ich …«

»Nein! Jetzt hören Sie! Das hat Konsequenzen! Verstehen Sie mich? Es reicht! Bis jetzt habe ich Sie noch halbwegs ernst genommen, aber damit ist nun Schluss. Sie verlassen sofort den Tierpark. Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie sich, den Kollegen, der ganzen Ermittlung damit gerade antun?«

»Sie trinken Kaffee, nicht wahr?«

»Jetzt hören Sie endlich mit diesem running gag auf!«

»Charlotte Rubin trinkt Tee. Nur Tee. Sie hat zwar Kaffee im Haus, aber der ist nur für Gäste.«

»Und?«, brüllte Gehring.

»In der Nacht von Leyendeckers Tod hat sie sich Tee gekocht. Und Kaffee für einen Gast. Die Reste sind noch in der Maschine. Sie müssen die Spurensicherung nochmal herschicken. Es war eine zweite Person in diesem Haus. Vielleicht finden sich noch Fingerabdrücke an der Kanne oder einem Becher.«

»Ich fasse es nicht.«

»Ihr Besuch muss auf der Couch geschlafen haben. Zumindest einige Stunden haben die beiden hier gemeinsam zugebracht. Sie sind kein Paar. Rubin hat allein geschlafen, sofern sie überhaupt ein Auge zugemacht hat.«

»Raus da.«

»Diese zweite Person hat Charlotte Rubin geholfen, mindestens. Ich gehe sogar noch weiter. Diese zweite Person war die treibende Kraft hinter dem Mord. Ich habe mit Charlotte Rubin gesprochen, erinnern Sie sich?«

»Sie verlassen sofort dieses Haus!«

»Sie wollte jemanden schützen. Jemand, der ihr sehr nahestand. Hier wohnte eine Frau, die nie Besuch hatte. Nur in der Mordnacht war sie nicht allein.«

Stille.

»Hallo?«

Gehring hatte aufgelegt. Sanela steckte das Handy ein und verließ das Haus. Sie beschloss, das Gelände durch die Wirtschaftszufahrt zu verlassen und nicht noch einmal durch den ganzen Park zu gehen. Als sie die Futtertierzucht passierte, war sie versucht, einen Blick hineinzuwerfen und nachzusehen, wer Rubins Job nun übernommen hatte. Dann ließ sie es bleiben. Sie hatte schon genug Schaden angerichtet.

Und das war gut so. Gehring musste etwas unternehmen. Er konnte ihren Anruf nicht ignorieren. Die Spurensicherung würde Beweise finden, dass Rubin in der Tatnacht nicht allein gewesen war. Wen schützte sie? Für wen nahm sie all das auf sich? Einen Prozess, ein Gutachten, eine Verurteilung, die sie mindestens fünfzehn Jahre hinter Gitter bringen würde.

Sanela Beara beschloss, noch einen weiteren Tag unpässlich zu sein.

Das Dorf der Mörder
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