Hilf mir.

Der Hund hob den Kopf und lauschte. Doch außer ihm schien niemand etwas gehört zu haben. Das große Haus blieb still. Ein Mond mit milchweißem Hof erleuchtete die Nacht und warf kalte Schatten. Über die Ufer des kleinen Flusses war der Nebel gekrochen und hatte sich in der Senke gesammelt. Die Bäume ragten wie abgeschnitten aus dem Dunst, in den kahlen Ästen hingen die Misteln.

Der Hund legte den Kopf wieder auf die Vorderläufe. Er schloss die Augen und schlief ein. Im Traum jagte er bunte Bälle oder junge Eichhörnchen. Seine Pfoten zuckten, der Schwanz streifte über den Boden. Vielleicht sprang er gerade über einen Graben, oder eine der Dorfkatzen erschreckte ihn – er fuhr zusammen, heftig, als sei er beim Spielen unversehens an den Rand eines Abgrunds getollt, riss die Augen auf und kam auf die Beine. Der Ruf, der ihn geweckt hatte, war für niemanden hörbar, nur für ihn und die Ohren der anderen Hunde – doch die schliefen. Oder sie waren taub. Oder sie spürten nicht, was diesen Ruf begleitete. Etwas, das uralt war, so alt wie die Geschichten der Menschen über ihre treuesten und tapfersten Gefährten.

Hilf mir!

Suchend, nervös, unruhig lief er durch das Zimmer. Dann zwängte er sich durch den schmalen Türspalt in den Flur und lief zur Haustür. Er schnupperte, spitzte die Ohren, scharrte auf den Dielen. Ein leises Winseln drang aus seiner Kehle. Schließlich versuchte er ein kurzes Bellen. Vergeblich.

Alles schlief. Und dennoch hörte er, dass jemand seinen Namen flüsterte. Dennoch spürte er, dass etwas geschah. Dennoch wusste er, dass man ihn brauchte. So sehr.

Der Hund war noch jung. Gemessen in Menschenjahren befand er sich gerade in der Zeit, in der die Welt ein buntes Bilderbuch ist und alle Wesen das Vertrauen wert sind, das er ihnen entgegenbrachte. Er wusste, wer ihn rief. Es war das Mädchen. Und noch etwas klang mit in diesem stummen Hilfeschrei. Eine zweite Stimme. So dünn, so leise, so hilflos.

Wieder spitzte er die Ohren, um gleich darauf, von Unruhe getrieben, zur Gartentür zu laufen. Er hatte schnell gelernt, wie einfach sie zu öffnen war. Trotzdem misslangen mehrere Versuche, bis er die Klinke im richtigen Winkel erwischt hatte. Es waren viele Leute im Haus, doch nirgendwo brannte Licht. Sie lagen in den Betten, rochen schlecht und schliefen. Er achtete nicht darauf, leise zu sein. Das Einzige, worauf er achtete, war das angstvolle Flüstern und das Wimmern in seinen Ohren und der schmale Pfad durch das erfrorene Unkraut, der ihn hinaus auf die Straße führte.

Er nahm die Mitte der Straße und raste los. Pfeilschnell, sein Ziel vor Augen. Hätte man ihn gerufen – er wäre nicht mehr umgekehrt. Nicht der Jagdinstinkt, etwas anderes hatte ihn gepackt und trieb ihn an. Das trübe Licht der Straßenlaternen brauchte er nicht. Er sah alles. Aber er nahm nicht alles wahr. Er achtete nicht auf die heruntergelassenen Rollläden, nicht auf die kleinen Autos, die am Straßenrand abgestellt worden waren. Nicht auf das gelbe Licht der Laternen, deren Schein die Welt noch trostloser machte als jede gnädige Dunkelheit. Nicht auf die grauen Häuser, nicht auf das entlaubte Gebüsch, die berstenden Betonplatten, die schiefen Zäune. Er hechtete durch das Dorf, als sei ein ganzes Rudel fauchender Dorfkatzen hinter ihm her. Erst als er die letzten, dunklen Häuser hinter sich gelassen hatte und an die Mauer des Aussiedlerhofes kam, verlangsamte er sein Tempo. Genauso wie er die Stimme gehört hatte, die ihn gerufen hatte, vernahm er jetzt eine zweite, tief aus seinem Inneren: Gefahr, flüsterte sie. Eine unbekannte, beängstigende Gefahr. Er kroch in den Straßengraben und blieb geduckt liegen.

Er kannte die Gestalt, die aus dem Tor trat und sich vorsichtig umsah. Sie trug etwas in der Hand – einen Eimer, der ihr die Schulter auf einer Seite nach unten zog. Sie wickelte sich einen Schal um das Gesicht. Vielleicht wollte sie sich maskieren und die Menschen täuschen, bei dem Hund gelang ihr das nicht. Er erinnerte sich an ihren Geruch und daran, dass er oft schwanzwedelnd auf sie zugelaufen war. Nun witterte er etwas, das ihn davon abhielt, es jetzt wieder zu tun. Etwas, das ihn auf der einen Seite rasend, geradezu wütend neugierig machte und auf der anderen ängstigte. Einen Geruch, der ihn magisch anzog – er witterte ihn vorm Haus des Metzgers, wenn er vorüberschnürte, er witterte ihn, wenn er auf den zerrissenen Kadaver eines Vogels stieß oder die plattgefahrenen Überreste eines Fuchses auf der leeren Landstraße. Doch diese Gestalt vor ihm war nicht geschlachtet, überfahren oder zu Tode gehetzt worden – sie lebte. Sie schlich in der Dunkelheit mit ihrer geheimnisvollen Last vom Hof und roch, als hätte sie in Blut gebadet.

Angst …

Das Flüstern war wieder da. Die Gestalt lief die Straße hinab ins Dorf. Der Hund machte einen Satz und rannte hinter ihrem Rücken auf das Tor zu, das noch einen Spalt breit geöffnet war. Er war noch jung und wusste nicht, wie laut das Scharren seiner Pfoten in der stillen Winternacht zu hören war. Und er sah nicht, wie die Gestalt erschrocken zusammenfuhr und sich umdrehte, ins Taumeln geriet, fast die Balance verlor. Aber er hörte, dass sie ihn rief – zornig und leise, denn sie wollte niemanden wecken. Doch wer leise war, war machtlos. Der Hund lief weiter.

Die beiden Hofhunde kannten ihn. Knurrend stellten sie sich ihm in den Weg. Er benutzte eine List und raste auf die Ställe zu. Die alten Kämpfer waren zu langsam. Er schlug einen Haken und entkam ihnen. Die Hofhunde waren zu müde und zu oft geschlagen worden, ihr Protest beschränkte sich auf ein böses Grollen. Die Tür zum Haus stand halb offen. Er war so schnell, dass er auf den Fliesen ins Schlittern kam.

Im ersten Stock brannte Licht. Er rannte die Treppe hoch und sah sie fast zu spät: die Frau, die ihn schon einmal getreten hatte. Sie kam aus dem Zimmer mit den gelben Kacheln. Ihre Stimme war böse. Sie roch nach der Flüssigkeit, die die Leute oft gemeinsam tranken, bevor sie laut und grob wurden. Er hasste diese Flüssigkeit und den Geruch. Sie rief ihm etwas hinterher, aber er war schon an ihr vorbei und sie zu langsam, um ihm noch einen Tritt zu versetzen. Auch sie roch nach Blut. Die Treppe, das ganze Haus roch so. Sie hielt einen Schrubber in der Hand. Der Geruch peinigte ihn, er machte ihm Angst.

Die Hofhunde bellten nun doch. Vielleicht fürchteten sie sich auch. Vielleicht spürten sie ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Ihr Bellen wurde leiser, sie schnupperten, witterten, nahmen die Fährte auf. Er hörte, wie sie ins Haus kamen. Die böse Stimme der Frau gellte in seinen Ohren.

Der junge Hund raste hoch zum Dachboden und blieb winselnd vor Angst vor einer schmalen Tür stehen. Er jaulte, fiepte, scharrte. Er versuchte ein zaghaftes Bellen, hörte aber sofort auf, als die Frau mit schweren, schleppenden Schritten die Treppe hochkam, den Schrubber drohend erhoben. Er drehte sich einmal um sich selbst in der Hoffnung, einen Fluchtweg zu finden, versuchte ein lächerliches Knurren, das sie niemals davon abgehalten hätte, ihm wieder in den Bauch zu treten. Hektisch tanzte er vor der Tür auf und ab. Die Frau kam näher.

Da ging endlich die Tür auf. Er schlüpfte hinein, das Mädchen warf sie hinter ihm zu. Der Hund hechelte.

»Schschsch. Sei still!«, flüsterte sie.

Die Schritte auf der Treppe verharrten. Schließlich drehte sich die Frau um und ging wieder hinunter. Das Mädchen fiel auf die Knie und vergrub sein Gesicht im Fell des Hundes.

»Bruno«, flüsterte sie.

War das sein Name? Er wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr tränennasses Gesicht ab. Das Kind zitterte. Unten kehrten die Hofhunde nach draußen zurück, unzufrieden, nervös. Und dann geschah etwas Seltsames, das der junge Hund noch nie erlebt hatte: Die Hunde im Dorf begannen zu heulen. Erst die auf dem Hof. Dann die anderen. Fast jedes Haus hatte einen Hund. Und plötzlich schienen alle auf einmal zu erwachen.

Der junge Hund wand sich aus den Armen des Mädchens und rannte ans Fenster. Er richtete sich auf. Seine Vorderpfoten erreichten gerade mal das Fensterbrett. Er konnte nicht sehen, was vor sich ging. Doch er konnte es hören.

Ein vielstimmiger Klagegesang schwoll an. Er war wie eine Nachricht, die sich verbreitete. Wie ein uraltes Lied von Grauen und Angst. Das Heulen setzte sich fort, kroch durch das Dorf wie ein Lauffeuer. Etwas war geschehen, etwas, das nie hätte geschehen dürfen.

Der junge Hund sah das Mädchen. Es spürte dieselbe namenlose Furcht wie alle Wesen dort draußen, die von dem Verderben geweckt worden waren, das das Dorf heimgesucht hatte. Er zog den Schwanz ein. Das Mädchen ging zurück ins Bett, ein schmales Bett unter der Dachschräge, und schlüpfte unter die Decke. Der Hund folgte ihr. Er legte sich neben sie und spürte ihr Zittern. Sie roch nicht nach Blut, sondern nach Seife. Sie hatte lange, dunkle Haare und zarte Hände, mit denen sie ihn hinter den Ohren kraulte. Es sollte ihn beruhigen. In Wirklichkeit beruhigte sie sich selbst.

Das schreckliche Heulen ebbte ab, erstarb. Totenstille senkte sich über das Dorf. Es war vollbracht. Was auch immer es gewesen war.

Das Dorf der Mörder
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