15

Die Gondeln waren breite Ruderboote, die man sich ausleihen konnte, um damit die Schönheiten des Wörlitzer Parks vom Wasser aus zu bewundern. Jeremy hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, bis zum Venustempel zu wandern, was er nun, je näher seine Verabredung rückte, bitter bereute.

Sein Hemd war schweißgetränkt, seine Schuhe staubig. Kurz vor sechs verließ er die Gartenanlagen und entdeckte am Marktplatz ein kleines Landhotel. Die Sehnsucht nach einer Dusche war so übermächtig, dass er hineinging und ein Zimmer nahm. Der Preis überraschte ihn angenehm, auch ein Blick ins Restaurant und die Speisekarte übertraf seine Erwartungen. Der Wörlitzer Park war UNESCO-Weltkulturerbe, er zog ein internationales Publikum an, das Ansprüche stellte, denen man hier gerecht werden wollte. Sogar die Beschaffung eines frischen Hemdes war kein Problem.

Eine Stunde später saß er, geduscht, rasiert, mit ausgebürstetem Anzug und gewienerten Schuhen, unter den Bäumen des kleinen Marktplatzes und ließ sich eisgekühltes Mineralwasser servieren. Radfahrer und Wanderer kamen vorbei, Paare kehrten ein, das Lokal füllte sich. Als am Nebentisch das Essen serviert wurde und der Duft von Rehkeule und Sauerbraten in seine Nase stieg, knurrte sein Magen. Aber er beherrschte sich. Acht Uhr war die klassische Zeit, um eine Frau auszuführen. Er stellte sich vor, wie sie zunächst eine Runde auf dem See bis hinunter zur Insel Stein drehen würden, um anschließend in eines der kleinen Lokale einzukehren, die entlang der historischen Wallanlagen lockten.

Von seinem Zimmer aus hatte er bereits den Professor angerufen und ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Er erzählte, dass er Kontakt zu Cara Spornitz aufgenommen hatte und dass Charlotte Rubin in ihrer Jugend zwei Selbstmordversuche unternommen hatte. Und dass er sich nun mit ihrer Schwester treffen würde.

Nachdem er aufgelegt hatte, war er versucht, sich Notizen zu machen. Aber dann hatte er vor seinem Fenster den goldenen Abend hereinbrechen sehen. Die Sonne, die von grünen Blättern gefiltert flirrende Muster auf das Kopfsteinpflaster vor dem Haus warf. Er hatte die Vögel singen gehört und die leisen Stimmen der Menschen, die auf der Terrasse saßen und den Sommer genossen. Er wusste nicht, wann er das zum letzten Mal getan hatte.

Er hatte sein Notizbuch zurück in die Aktentasche geworfen und war hinuntergegangen. Und während er sein Wasser trank und die Zeit bis zu seinem Wiedersehen mit Cara ungenutzt verstreichen ließ, freute er sich.

Erst hätte er sie fast nicht wiedererkannt.

Sie trug ein sonnengelbes Kleid, enganliegend bis zu den Hüften, dann weit aufspringend und um ihre Knie spielend. Dazu flache Sandalen, mit denen sie behände in die Gondel kletterte. Die derbe Arbeitskleidung hatte ihren Körper verborgen. Das Kleid brachte ihn zur Geltung. Der weite Ausschnitt lenkte seinen Blick auf ihr Schlüsselbein und den zarten Ansatz ihrer Brüste. Die Haare waren heller, weil sie sie offenbar gewaschen und geföhnt hatte. Sie schimmerten dunkelblond, nicht gefärbt, an den Spitzen ausgeblichen, und sie hatte sie zu einem Knoten im Nacken gebändigt, der die Zartheit ihres Gesichtes noch betonte. Sie schien sich durchaus bewusst, dass das Niedliche und Puppenhafte ihrer Züge gebrochen werden musste, um sie nicht einfach nur süß aussehen zu lassen. So hatte sie die Brauen dunkel nachgezogen und ihre Lippen tiefrot und matt angemalt. Es sah künstlich aus und passte trotzdem zu ihr. Eine Frau, nach der sich die Männer zwei Mal umdrehten.

Jeremy hatte das Boot für eine Stunde gemietet. Länger war es nicht mehr möglich, hatte der Verleiher betont, da dann die Dunkelheit hereinbrechen würde und alle Gondeln wieder sicher angeseilt am Steg liegen mussten. Er übernahm das Ruder, sie setzte sich ihm gegenüber und arrangierte den weich fallenden Stoff ihres Kleides um ihre Beine. Es war immer noch warm, aber nicht mehr heiß, sodass der feuchte, schwere Duft von Abendtau und Blüten zu ihnen herüberwehte.

Eine Weile schwiegen sie. Enten schwammen um das Boot herum und bogen dann enttäuscht wieder ab, da sie keiner fütterte. Das Licht der untergehenden Sonne tanzte auf dem Wasser. Er beobachtete den Verlauf der Wellen, die sich vom Boot ausgehend auf dem See langsam auflösten. Das Leder, mit dem die Ruder angebunden waren, knarrte. Eine andere Gondel kam ihnen entgegen. Eine Familie mit zwei Kindern, deren fröhliches Geplapper sie noch begleitete, bis sie das Schloss am Ufer vorbeiziehen sahen.

»Es ist so schön«, sagte sie schließlich. »Und doch von Menschenhand geschaffen.«

»Das eine schließt das andere ja nicht aus.«

»Stimmt.« Sie ließ die Finger ins Wasser gleiten. Ihre Bewegungen erinnerten Jeremy an eine Balletttänzerin: fließend, elegant, schwerelos. Die Tierärztin in den schlammbespritzten Gummistiefeln schien nicht mehr zu existieren. Er betrachtete ihr Gesicht und suchte nach einer Ähnlichkeit zu ihrer Schwester. Haar- und Augenfarbe waren ähnlich, vielleicht noch die Gesichtsform – rund und breitflächig. Wenn er ein Bildhauer wäre, so wäre Charlie der grob geschnitzte Entwurf aus Holz, Cara hingegen die Vollendung in Marmor.

»Ich entspreche wohl nicht ganz Ihrer Erwartung?«, sagte sie und beobachtete, wie die Seerosen auf dem Wasser zu schweben schienen.

Er lächelte sie an und merkte, dass er schon wieder ins Schwitzen kam. Rudern ließ einen in der Gegenwart einer so zarten Frau irgendwie grob wirken.

»Im Gegenteil«, sagte er. »Sie haben sie gerade übertroffen. Das sieht hübsch aus, was Sie da anhaben.«

»Ach, das Kleid. Das ist schon so alt … ich habe es auf dem Standesamt getragen.«

Jeremys Herz gefror. Sie war verheiratet. Natürlich. Warum sollte sie auch sonst einen anderen Nachnamen tragen?

»Bei der Scheidung hat es dann ein Overall getan. Ich kam von einer Hausschlachtung und hatte keine Zeit mehr, mir was Anständiges anzuziehen.«

Sein Herz taute wieder auf. Die Schnelligkeit, mit der es den Aggregatzustand wechselte, und die ungewohnte Anstrengung raubten ihm fast den Atem.

»In meinem Beruf verliert die Natur schnell ihre Romantik. Aber an Abenden wie diesen …« Jeremy konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Er hatte lange keine Frau mehr getroffen, die ihn so faszinierte. Egal, ob sie nach Gülle oder Rosen duftete. »… könnte ich glatt mal wieder dran glauben.«

Sie grinste ihn an.

»An was?«, fragte er und kam sich dämlich und ertappt vor.

»Die Romantik. Man hat nicht viel Platz für sie im Leben. Oder ist das bei Ihnen anders?«

»Nein.«

»Was machen Sie eigentlich genau?«

»Ich bin Diplompsychologe und mache meine Facharztausbildung bei Professor Brock.«

»Warum?«

»Ich verstehe nicht.«

»Warum Psychologie?«

Weil mein Vater es so wollte? Er verkniff sich diese Antwort und sagte stattdessen: »Weil ich Menschen verstehen will. Auch die, die es uns schwer machen.«

Er lauschte in sich hinein und stellte fest, dass die Antwort stimmte. Sie machte ihn froh, übermütig und anders. Leichter, ja, leichter. Es war, als ob der Schatten seines Vaters soeben das Boot verlassen hätte.

»Macht Charlie es Ihnen schwer?«

»Ziemlich.«

»Das dachte ich mir. Sonst wären Sie ja nicht hier. Was genau wollen Sie von mir?«

»Professor Brock glaubt, dass Sie ihm etwas über Frau Rubins Kindheit erzählen könnten.«

»Das habe ich doch schon erklärt, dass ich das nicht kann. Wir sind zu weit auseinander. Als ich anfing, klar zu denken, war sie schon aus dem Haus. Sie hat im Tierpark von Dessau angefangen und ist dann wegen einer Lehrstelle nach Berlin. Sie kam nicht wieder. Sie hat den Kontakt völlig abgebrochen.«

»Und Sie? Was wurde aus Ihnen?«

Ihr Blick verdüsterte sich. »Ich fühlte mich verraten. Meine Mutter ist früh gestorben, und mein Vater soff wie ein Loch. Ich wollte nichts wie weg und habe Charlie deshalb gut verstanden. Trotzdem fühlte ich mich im Stich gelassen.«

»Wie alt waren Sie da?«

»Fast noch ein Kind. Mein Vater starb ein paar Jahre später an Leberzirrhose. Ich glaube, wir haben in all der Zeit keine drei Worte gewechselt. Ich habe den Haushalt geführt und nach der Schule das bisschen Vieh versorgt, das wir vor der Wende als Privatleute haben durften. Ich war noch nicht mal sechzehn nach seinem Tod, da habe ich den Hof verlassen. Ich war nie wieder dort. Wahrscheinlich verfällt er. Charlie hat ihn geerbt, aber sie hätte wohl alles lieber gehabt als den Hof am Bein. Ich bin dann nach Waren an der Müritz. Dort habe ich eine Ausbildung zum Pferdewirt gemacht. Und dort habe ich auch Jörg kennengelernt.«

Sie lächelte unsicher. Jeremy vermutete, dass Jörg der Mann gewesen war, der ihr Kleid als Erster zu sehen bekommen hatte.

»Jörg war das Beste, was mir passieren konnte. Ich war ein Nichts. Ich konnte keine drei Worte reden, ohne zu stottern. Ich kam mit Tieren besser zurecht als mit Menschen. Er hat mich bestärkt, genau das zu meinem Beruf zu machen und zu studieren. Ich hatte kein Abitur, nur mittlere Reife. Aber ich habe eine Eins-a-Ausbildung hingelegt. Nach vier Jahren konnte ich mich zum Probestudium bewerben.«

»Und dann?«

»Ich ging nach Leipzig, er blieb in Waren. Er hat mir die Tür gezeigt, durch die ich gehen musste. Er war älter als ich. Viel älter. In Leipzig habe ich mich zum ersten Mal jung gefühlt. Er hat es gewusst und es trotzdem getan. Er muss mich geliebt haben.«

»Und Sie?«

»Er war wie der Vater, den ich nie hatte. Bei der Scheidung haben wir beide geweint. Er wird immer in meinem Herzen bleiben. Aber nicht in meinem Leben.«

Jeremy nickte. Das Schicksal des unbekannten älteren Mannes rührte ihn. Gleichzeitig war er fast glücklich, dass Cara mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen hatte. Er war versucht zu fragen, ob es einen neuen Mann an ihrer Seite gab. Ob sie jetzt auch Jüngeren eine Chance gab. Doch das wäre eitel und selbstgefällig gewesen, und er wollte sich nicht lächerlich machen. Er genoss es, ihr zuzuhören und dabei seine Muskeln zu spüren, die sich spannten, wenn er das Ruder durchs Wasser führte. Und er konnte sie betrachten, dieses Elfenwesen mit dem kleinen, blutroten, verlockenden Mund. Ich will mit ihr schlafen. Der Gedanke zuckte durch sein Hirn und seinen Körper. Er spürte Adrenalin und Verlangen.

»Und jetzt bin ich Tierärztin. Die kleine Asoziale aus Wendisch Bruch.« Sie lächelte, als ob ihr Coup sie gleichzeitig erstaunen und triumphieren ließ.

»Ihre Schwester züchtet Ratten.«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen. Wir haben uns ganz unabhängig voneinander entwickelt und haben doch ähnliche Berufe. Na ja, vielleicht nicht ganz so ähnlich. Ich will hier keine moralischen Messlatten ansetzen. Ihr Job ist wichtig, genau wie meiner. Aber was die Journalisten aus ihr gemacht haben, ist widerwärtig. Charlie ist kein Monster. Sie hat diesen Mann nicht getötet.«

»Sie wurde überführt und hat ein Geständnis abgelegt.«

Cara schüttelte den Kopf. »Dann hat man sie erpresst oder sonst was mit ihr gemacht. Ich kann das nicht glauben. In den Zeitungen stand, sie hätte den Mann auch noch zersägt. Das kann sie gar nicht. Da habe sogar ich Schwierigkeiten. – Oh Gott.«

Sie schlug die Hand vor ihren blutroten Mund. »Das klingt, als ob … beim Schlachten muss ich manchmal auch mit Hand anlegen. Haben Sie jemals ein Schwein zerteilt, ohne Kettensäge? Das ist Schwerstarbeit.«

Jeremy konnte sich im Moment überhaupt nicht vorstellen, was diese zarte Frau noch alles in ihrem Job zu bewältigen hatte.

»Charlotte Rubin hat gestanden. Und der Staatsanwalt hat alle Beweise zusammengetragen. Beides sagt uns, dass Ihre Schwester tatsächlich diesen Mann getötet hat. Aber wir wissen nicht, warum. Darüber schweigt sie. Es gibt auch keine Verbindung zu ihm. Als ob sie willkürlich jemanden aus der Masse der Tierparkbesucher herausgepickt hätte. Wir sollen herausfinden, ob Charlotte Rubin ein gesunder oder ein kranker Mensch ist.«

»Wenn sie gesund ist, ist sie bei guter Führung nach fünfzehn Jahren draußen.«

»Nicht zwangsläufig. Aber es könnte sein.«

»Und wenn Sie der Meinung sind, sie ist krank, dann landet sie den Rest ihres Lebens in der Psychiatrie. Stimmt’s?«

Jeremy drehte sich um. Die Insel Stein tauchte auf. Ein künstliches Eiland aus grauen Feldsteinen, auf dem eine dunkelrote Villa thronte.

»Sie ist nicht krank.« Caras Stimme klang wie eine Bitte. Als ob das Urteil von ihm, Jeremy, abhängen würde.

»Dann helfen Sie uns. Und Ihrer Schwester. Kommen Sie nach Berlin, und reden Sie mit Professor Brock.«

»Das würde ich tun, wenn ich nur den Hauch einer Chance sähe, wirklich etwas dazu beitragen zu können. Was sagt sie denn? Will sie mich sehen?«

Jeremy begann ein Wendemanöver, das er bewusst komplizierter gestaltete, um Cara nicht antworten zu müssen.

»Ich verstehe.« Sie hatte Taschen in ihrem weiten Rock. Aus einer zog sie ein Papiertaschentuch hervor und tupfte sich damit über die Augen. Er konnte nicht erkennen, ob sie mit den Tränen kämpfte, aber ihre Augen glitzerten feucht. »Also, was soll ich denn da?«

Jeremy begann zurückzurudern. Er wollte nicht zu spät an den Bootsanleger zurückkommen und den Verleiher damit in Verlegenheit bringen. Die Fahrt verlief schweigend. Cara betrachtete mal ihr Taschentuch, mal die letzten Schwalben, die auf der Suche nach abendlichen Leckerbissen die Wasseroberfläche touchierten. Als sie den Steg erreichten, stand der Mann schon da und erwartete sie.

Jeremy reichte Cara die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Das Boot wackelte, sie verlor die Balance und hielt sich einen Moment krampfhaft an ihm fest. Dann erreichte sie festen Boden und hüpfte leichtfüßig die Stufen zum Ufer hinauf.

Oben angekommen, wartete sie auf ihn. Er bezahlte das Boot. Jede Handbewegung, jedes Wort, das er noch mit dem Mann wechselte, nahm er bewusst wahr. Sekunden, Minuten, die verrannen. Zeit, die verging, die den Moment der Trennung näher brachte. Er wünschte sich, dieser Sommerabend würde endlos dauern. Schließlich verabschiedete er sich.

»Wohin?«, fragte sie.

Er griff nach ihrer Hand, und sie ließ nicht los. Einige letzte Spaziergänger kamen ihnen entgegen, die Dämmerung senkte sich über den See und das Land. Sie nahmen einen schmalen Weg, der über verspielte Brücken und an geheimnisvollen Statuen vorbeiführte, die im Schlosspark standen. Das künstliche Dickicht und die üppig blühenden Sträucher schienen wie gemacht für Liebespaare, die sich vor neugierigen Augen verstecken wollten. Sie lief voraus, ihre Hand noch immer in der seinen verschränkt, ein loses Band, mal eng, mal weiter auseinander. Vor der Büste einer streng blickenden Dame aus Stein blieb sie stehen und sah sich vorsichtig um.

»Keiner da?«

»Ich sehe niemanden.«

Noch während er sich fragte, was sie vorhatte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte der Frau einen Kuss auf den steinernen Mund. Lange, intensiv und mit geschlossenen Augen. Dann trat sie zurück und betrachtete ihr Werk zufrieden.

Die strenge Dame hatte tiefrote Lippen. Und, Jeremy musste grinsen, es stand ihr weitaus besser als das langweilige Grau.

»Küssen Sie nur Steine?«, fragte er.

Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen schienen noch dunkler zu werden. Ihr Gesicht kam näher. Er sah, wie ihre Lippen sich leicht öffneten, und er beugte sich zu ihr herab, um sie mit den seinen zu berühren.

»Ja«, flüsterte sie. »Bis auf wenige Ausnahmen.«

Sie liebten sich in seinem Zimmer. Erst danach bemerkten sie, dass das Fenster zur Straße offen gestanden hatte. Caras erstickte Schreie, sein überwältigtes Stöhnen, als sie zeitlos in den Höhepunkt getrieben waren, musste die halbe Straße mitbekommen haben. Er küsste sie, stand auf, nackt, spürte die kühle Luft auf seiner Haut und schloss die Flügel.

»Ich glaube, wir haben den gesamten Marktplatz unterhalten«, sagte er.

Cara kringelte sich in die leichte Decke und schüttete sich aus vor Lachen. Alles war schön, alles war fröhlich mit ihr. Ein erstes Mal, wie es selbstverständlicher, zärtlicher, leidenschaftlicher nicht sein konnte. Keine Spur von Befangenheit, keine kokette Scham. Fast zu schön, um wahr zu sein.

»Morgen im Frühstücksraum wird ihnen das Besteck aus der Hand fallen, wenn du reinkommst«, kicherte sie. »So viel Abendunterhaltung gibt es hier selten.«

Jeremy zog die Vorhänge zu. Er holte eine kleine Flasche Sekt aus der Minibar und öffnete sie. Dann schenkte er in zwei Wassergläser ein, die einzigen, die es gab.

Sie trank in gierigen, kleinen Schlucken. Dabei verschüttete sie etwas, und die Flüssigkeit lief ihren Hals hinunter ins Kopfkissen. Jeremy leckte sie von ihrer Haut.

»Mmmh«, schnurrte sie. »Komm her.«

Sie zog ihn an sich, und er spürte ihren schlanken, schmalen Körper und wollte sie sofort wieder besitzen. Cara merkte das und lächelte, zufrieden und kokett zugleich.

»Lass mich doch erst einmal austrinken!«

Er rollte zur Seite und sah an die Decke. Er wusste nicht, wann er sich zum letzten Mal so satt und glücklich gefühlt hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Das müsstest du mir doch eigentlich ansehen.« Sie beugte sich über sein Gesicht und küsste ihn. Ihr Mund schmeckte nach Sekt und Liebe. »Wie geht es dir? Du musst ja glauben, in diese Einöde verirren sich so wenige paarungsfähige Männer, dass man bei jeder sich bietenden Gelegenheit über sie herfällt.«

Er grinste. »Dann komme ich öfter her.«

»Untersteh dich. Damit dich gleich die Nächste wegschnappt?«

Sie angelte sich sein Glas vom Nachttisch und trank es auch gleich zur Hälfte aus. Dabei rutschte die Decke herunter und entblößte ihre kleinen, runden Brüste. Ihn freute es, dass sie ihn auch danach an ihrer Nacktheit teilhaben ließ und nicht gleich ins Bad stürzte, duschte und sich anzog.

»Ich habe Hunger«, sagte er. »Wollen wir runtergehen und was essen?«

Sie leerte den Rest des Glases, setzte ab und wischte sich mit dem Handrücken burschikos über die Lippen. »Lieber nicht. Am Ende kennt mich noch einer und erzählt dann herum, dass ich ja, ja, ja! dabei schreie. Genauso wie beim Kalben.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und prustete los. »Natürlich … nicht ich … ich kalbe ja nicht …«

Jeremy musste mitlachen, ob er wollte oder nicht. Caras Art konnte wohl nur jemand verstehen, der auf dem Land groß geworden war, wo Brunft und Besamung genauso Teil des natürlichen Lebenskreislaufs war wie blühende Rapsfelder. Aber sie gefiel ihm. Er spürte noch ihre zärtlichen Bisse an seinem Hals und den festen Griff ihrer Hände, als sie seine Hüften umklammert und den Rhythmus ihrer Liebe bestimmt hatte. Er wollte sie schon wieder und zog ihr die Decke weg. Sie ließ ihren Blick seinen Körper hinuntergleiten und lächelte, als sie den Grad seines Verlangens erkannte.

»Leg dich auf den Rücken«, sagte sie nur und stellte das Glas ab.

Später, viel später, ließen sie sich vom Roomservice zwei Clubsandwiches bringen, von denen Cara zwei Drittel mit größtem Appetit verspeiste und auch vor seinen Pommes frites nicht Halt machte. Dazu tranken sie Bier aus der Dose.

»Kommst du jetzt nach Berlin?«, fragte er und schnappte ihr das letzte Stück seines Sandwiches weg.

»Weiß ich noch nicht«, antwortete sie mit vollem Mund. »Kommt drauf an, was du noch so zu bieten hast. Im Moment bin ich gerade drauf und dran, deinen Überredungskünsten zu erliegen.« Sie tunkte ihre Pommes in seinen Ketchup.

»Dann setzen wir das doch einfach fort«, sagte er leichthin.

Sie nahm die Serviette und wischte sich die Finger daran ab. »Wie, fortsetzen?«

»Wir machen da weiter, wo wir im Moment hoffentlich noch lange nicht aufhören werden.«

Er beugte sich vor und wollte ihren Bauch küssen, aber Cara rückte ein Stück weg.

»Jeremy«, sagte sie, und ihm war klar, was jetzt kommen würde. Er wusste es, weil es die ganze Zeit zu schön, zu leicht, zu einfach gewesen war. So etwas gab es nicht. Dinge hatten kompliziert zu sein, sonst waren sie nichts wert. Frauen hatten andere Maßstäbe als Männer. Für sie zählte anfangs nicht das Glück, sondern die Bedenken. »Das war wirklich schön mit dir. Und glaube nicht, ich hätte das alle Tage. Aber es ist keine gute Idee, das fortzusetzen.«

»Warum nicht?«

»Du bist Psychologe. – Halt, unterbrich mich nicht.« Er hatte den Mund öffnen und Einspruch erheben wollen. »Du willst etwas über meine Schwester herausfinden, deshalb bist du hier.«

»Aber doch nicht, indem ich mit dir ins Bett gehe!«

»Heute vielleicht nicht. Aber das nächste Mal? Charlies Vergangenheit ist auch meine. Was ihr passiert ist, wirst du irgendwann in ein Verhältnis zu mir setzen. Ich will das nicht. Das hier war ungewollt, spontan. Es hat uns beide überrascht. Lass es dabei bleiben.«

»Ich kann sehr gut das Berufliche vom Privaten trennen.«

Sie stand auf. Aber sie ging nicht in die Dusche. Sie zog sich an. Jeremy stellte seinen Teller mit den restlichen Pommes auf dem Boden ab. Ihm war der Appetit vergangen.

»Das klang aber eben ganz anders.« Sie schlüpfte in das Kleid, das nichts von seiner Schönheit verloren hatte, ebenso wenig wie seine Trägerin. Ihr Haar hatte sich gelöst, es fiel zerzaust auf ihre Schultern. Der Lippenstift war verschwunden, und über ihrem Gesicht lag ein Hauch von Röte wie nach einem langen Spaziergang. Sie sah herzzerreißend jung aus, und Jeremy wusste nicht, wie er diese überirdische Erscheinung dazu bringen könnte, dieses verdammte Kleid wieder auszuziehen und sich zu ihm zu legen.

»Es klang danach, als ob du sehr gut wüsstest, wie man das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet.«

»Aber das ist doch nicht wahr«, protestierte er schwach. Was war denn in sie gefahren? Was hatte er falsch gemacht? »Du willst doch auch, dass wir deiner Schwester helfen.«

»Indem du mit mir in die Kiste steigst?«

Sie kramte in den Taschen ihres Kleides, fand ihren Lippenstift und ging damit ins Bad. Jeremy stand auf. Mit einem Mal war Scham da, Unsicherheit. Er schlüpfte in seine Hose, bevor er ihr folgte.

Sie malte sich die Lippen an. Er blieb hinter ihr stehen.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Wie wichtig ist sie dir?« Sie sah ihm durch den Spiegel in die Augen.

»Charlie?«

»Ja.«

»Sie ist jemand, der Hilfe braucht. Eine Patientin von Professor Brock.«

»Wie hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen?«

»Sie hat sich einen Bleistift in die Halsschlagader gerammt.«

»Und warum ist sie nicht gestorben?«

Er trat neben sie, ließ Wasser ins Becken laufen und wusch sich die Hände.

»Wer hat ihr das Leben gerettet?«

»Ich«, antwortete er und fuhr sich mit den nassen Händen übers Gesicht.

Cara ließ den Stift mit einer Drehbewegung zurück in die Hülse fahren und steckte die Verschlusshälfte auf.

»Ja, so ist sie.«

Sie ging zurück ins Zimmer. Jeremy, fassungslos über ihre letzte Bemerkung, griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. Er folgte ihr, immer noch ratlos, was die Veränderung in ihrem Wesen herbeigeführt haben mochte. Sie sind sich so ähnlich, dachte er. Zwei Seelen in einer Frau.

»Wie meinst du das?«

Cara schlüpfte in ihre Sandalen. Die Riemchen waren zu schmal, um sie mit einer Hand zu schließen. Sie ging in die Hocke und sah zu ihm hoch.

»Sie findet immer jemanden, der ihr das Leben rettet.«

»Das klingt, als ob du ihre Suizidversuche nicht sehr ernst nimmst. Es war aber verdammt nah dran.«

»Das ist es bei ihr immer. Und jetzt?« Sie hatte die Riemchen geschlossen und stand auf. »Jetzt bin ich mal wieder an der Reihe.«

»Mal wieder?«

»Ich habe sie damals gefunden. Immer wieder. Es war genauso nah dran wie bei dir. Das ist ja das Schlimme. Wenn es passiert, betet man und fleht zu Gott und gibt irgendwelche unsinnigen Versprechen ab, bloß damit sie durchkommt. Man isst nicht, schläft nicht, wacht an ihrem Bett, heult Rotz und Wasser. Und dann schlägt sie die Augen auf und sagt, sie kann bei dem Krach nicht schlafen.«

Sie wollte zur Tür, aber Jeremy versperrte ihr den Weg.

»Ich kann verstehen, dass du sauer bist.«

»So?« Er spürte, wie sie ihre Wut nur mühsam im Zaum halten konnte. Wut, und noch etwas anderes, das schon so lange so tief in ihrem Innersten verborgen war: Schmerz. »Gar nichts kannst du! Du bist der lausigste Seelenklempner, der mir je begegnet ist.«

»Dann hilf mir, besser zu werden.«

»Ach komm.« Sie wollte sich seitlich an ihm vorbeidrücken, aber er stellte sich ihr in den Weg. Das machte sie noch wütender. »Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Charlie ist tot für mich, ja? Sie ist gestorben! Es gibt sie nicht. Sie hat sich vom Acker gemacht, sie hat mich im Stich gelassen. Soll sie alleine sehen, wie sie aus dem Mist wieder herauskommt.«

»Wir haben nächste Woche einen letzten Termin mit ihr. Am Mittwoch.«

»Darf ich jetzt bitte gehen?«

Er trat einen Schritt zur Seite. »Wir haben nur noch diesen Tag. Acht Stunden, die Brock bei der Staatsanwaltschaft zusätzlich herausgeschlagen hat. Es ist unsere letzte Chance, Charlotte Rubin zu helfen. Sprich mit Brock. Wenn du es nicht für sie tun willst, dann tu es für dich.«

»Für mich? Was soll das denn heißen?«

»Sie im Stich zu lassen würdest du dir nie verzeihen.«

Sie war schon fast an der Tür, doch dann überlegte sie es sich anders und kam noch einmal zurück. Bleib, dachte Jeremy, bitte bleib. Geh jetzt nicht.

»Du glaubst, du kannst mit mir reden, als ob du mich kennen würdest«, sagte sie. »Aber du hast keine Ahnung. Das hier mit dir war eine nette Abwechslung, mehr nicht. Was auch immer du hineininterpretieren möchtest, lass dir gesagt sein, es existiert nicht. Ich existiere nicht. Charlie existiert nicht. Wir sind nur das, was du in deinem Kopf aus uns machst.«

»Und ich? Was machst du aus mir in deinem Kopf?«

Ganz kurz, kaum wahrnehmbar, flatterten ihre Lider. Dann hatte sie sich wieder in ihrer Gewalt. »Einen von vielen.«

Es fühlte sich an, als hätte sie einen Kübel Eiswürfel in seine geöffnete Bauchhöhle gekippt. Sie ging. Ihr Duft schwebte noch im Raum, als er schon längst das Licht gelöscht hatte und sich schlaflos von einer Seite auf die andere warf.

Das Dorf der Mörder
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