28

Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring begann sein morgendliches Fitnesstraining mit einem Fünf-Kilometer-Lauf, bei dem er sich Living Things von Linkin Park in voller Dröhnung gab. Nach der Dusche und einem schnellen Espresso im Stehen – an dem großen Küchentisch aus Eiche mit der rustikalen Sitzgruppe für sechs Personen nahm er schon lange nicht mehr Platz – überflog er den Aufmacher der Tageszeitung, die seine Frau noch abonniert hatte.

»Tierpark-Monster: Selbstmord in U-Haft«

Manchmal fragte er sich, wer diese Überschriften erfand. Er hatte einmal gehört, dass sie von Redakteuren stammten, die ohne Kenntnis des Artikels einfach wild fabulierten. In diesem Fall stimmten zwar die Fakten, aber trotzdem störte er sich an der Grobheit der Sprache.

Auch inhaltlich war nichts auszusetzen: Charlotte R., des grausamen Mordes überführt (wir hatten berichtet und erwähnen gerne noch das eine oder andere Detail) und in Erwartung ihrer Gerichtsverhandlung, hatte in der Untersuchungshaft ihrem Leben ein Ende gesetzt. Ein Polizeisprecher bestätigte, dass das mittels eines eingeführten, spitzen Gegenstandes, einer Heftklammer erfolgte (die bilden wir hier mal in Originalgröße ab, damit Sie sich eine Vorstellung davon machen können, dass wir nicht so ein kleines Ding meinen), die sie aus der Praxis ihres Therapeuten entwendet hatte (ja, Rubin hatte Ausgang! Stellen Sie sich das mal vor! Und dort ging es wohl zu wie im Grandhotel: Kaffee, hübsche Sessel, Plauderstündchen …). Prof. Dr. Dr. Gabriel Brock war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. Damit bleibt einer der grausamsten Morde, die unsere Stadt jemals erschütterten und unschuldige Kinder auf ewig traumatisiert haben, ungesühnt.

Ein Foto erregte Gehrings Aufmerksamkeit. Geschossen am Tag des Mordes am Pekari-Gehege. Gaffer. Presse. Kinder.

Sein Büro im dritten Stock der Sedanstraße erreichte er nach einem Sprint durchs Treppenhaus. Er warf als Erstes den Rennkalender Hoppegarten in den Papierkorb und rief noch einmal Sanela Bearas Handy an. Vergeblich. Er schwor sich, dass dies der endgültig letzte Versuch gewesen war und er ihren rätselhaften Anruf vom Vortag – Walter, Gisela, Erich und Harald Schmidt, was und wen auch immer sie damit meinte – löschen würde. Er machte sich ja lächerlich. Vier Anrufe in Abwesenheit von Gehring – wahrscheinlich zeigte sie das ihren Freundinnen, und die lachten sich einen Ast über ihn.

In seinem Mailfach fand er eine Notiz, dass ein Heiner Vieritz von der Firma Vieritz Maschinen-Vertrieb GmbH aus Kleefeld bei Schwerin versucht hatte, ihn zu erreichen. Stichwort Leyendecker, hatte seine Kollegin vom LKA MeckPom in den Betreff geschrieben. Es war kurz nach acht Uhr morgens. Er versuchte es trotzdem.

»Vieritz?«

Laute, polternde Stimme. Im Hintergrund Motorenlärm.

»Gehring, Kriminalpolizei Berlin. Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«

»Um was geht es denn?«

Misstrauen. Vorsicht. Vermutlich nicht die erste Erfahrung in dieser Richtung.

»Ich habe eine Frage zu einem Ihrer ehemaligen Mitarbeiter. Werner Leyendecker.«

»Moment.«

Gehring hörte Schritte, dann das Öffnen und Schließen einer Tür. Die Maschinen klangen nur noch gedämpft durch den Hörer. Quietschende Federn, vermutlich ein in die Jahre gekommener Schreibtischstuhl.

»So. Jetzt. Leyendecker. Wir haben davon gelesen. Schrecklich. So ein guter Mann. Er hat damals den ganzen Osten für uns erschlossen. Die Leute haben ja Maschinen gebraucht, die ganzen LPGs und VEBs waren doch Schrott. Was kann ich für Sie tun?«

Nichts, hätte Gehring am liebsten geantwortet. Ich bin einer Verrückten auf den Leim gegangen und entschuldige mich hiermit vielmals für die Störung. Aber wenn er Vieritz schon einmal am Apparat hatte und die Kollegen in Schwerin sich die Mühe gemacht hatten, konnte er die Befragung auch fortsetzen.

»Ich möchte wissen, ob Herr Leyendecker für Sie in einem Ort mit Namen Wendisch Bruch gewesen ist. Unweit Jüterbog, im südlichen Brandenburg.«

»Jüterbog, ja. Das gehörte zu seinem Bereich. Aber … wie hieß das Kaff nochmal?«

»Wendisch Bruch.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er ist ja schon vor ein paar Jahren in Rente. Und der Kollege, mit dem er anfangs unterwegs gewesen ist, lebt nicht mehr.«

Gehring, der diesen Anruf aus dem einzigen Grund fortsetzte, um Beara bei ihrer Rückkehr lückenlos die Absurdität ihrer Vermutungen vor Augen zu halten, nahm instinktiv Papier und einen Stift.

»Wie, lebt nicht mehr?«

»Der hatte einen Unfall. Aber das ist schon so lange her.«

»Einen Verkehrsunfall?«

Ach so. Gehring legte den Stift wieder weg.

»Ja. Kam von der Straße ab, weil irgend so ein Penner eine ganze Ladung Gülle verloren hat.«

»Gülle?«

»Scheiße. Zum Düngen. Dabei war es Winter, und es gab Bodenfrost. Das Zeug ist gefroren, es war glatt wie eine Schlittschuhbahn. Und dann auch noch hinter einer Kurve. Er hatte keine Chance.«

»Wer war das?«

Vieritz schnaufte, und er legte alle Verachtung, zu der er fähig war, in dieses Ausatmen. »Hat man nie rausgefunden. Oder denken Sie, der Penner meldet sich freiwillig?«

»Wie hieß Leyendeckers Kollege?«

»Maxe. Maximilian Göhler. Das war Winter fünfundneunzig sechsundneunzig.«

Gehring schrieb den Namen auf. »Ich werde mir die Akte nochmal ansehen, Herr Vieritz. Aber viel wichtiger wäre für mich, Herrn Leyendeckers Bewegungsprofil vor dem Tod seines Kollegen erstellen zu können. Gibt es keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit? Bewirtungsbelege? Hotelrechnungen? Fahrtenbücher?«

»Da müsste ich die Sonja fragen. Die ist die Einzige, die schon so lange bei uns ist. Die macht auch die Buchhaltung.«

Gehring bat Vieritz, das zu tun, und beendete das Gespräch.

Gülle. Schweine. Trog. Göhler, Leyendecker und der Bäcker von Wendisch Bruch. Drei Männer, deren Todesumstände außergewöhnlich waren. Gehring ließ die Spitze des Bleistifts über das Papier tanzen. Er spürte, wie er unruhig wurde. Dieses Gefühl bekam er immer, wenn vage Verdachtsmomente einen Cluster bildeten. Er wollte sich an etwas erinnern, das er schon einmal gelesen oder gehört hatte und das ihm die Einschätzung einfacher machen würde. Klarer. Besser auf den Punkt bringen. Er sah auf die Uhr. Viertel nach acht. Die Dienstbesprechung begann erst um neun. Er stand auf und zog den Ordner mit der Akte Rubin aus dem Schrank. Er begann mit dem Protokoll des Leitenden Ermittlungsbeamten – seinem –, überschlug den Obduktionsbefund und konzentrierte sich auf die Zeugenaussagen.

Kinder.

Beara hatte mit Kindern gesprochen. Aber die hatte sie in ihrem Bericht nur kurz erwähnt. Erst am Ende stieß er auf den Satz, den er gesucht hatte. Er ließ den Ordner sinken, lehnte den Kopf zurück und starrte an die Decke.

Er wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was dieser Satz bedeutete. Er stellte alles an Ermittlungsarbeit in Frage, das sie zusammengetragen hatten. Er könnte dazu führen, dass das BKA eingeschaltet werden musste, Interpol, alle sechzehn Landeskriminalämter. Sein Chef. Der Staatsanwalt. Vor allem aber würde er beweisen, dass sie alle versagt hatten. Alle, bis auf eine Streifenpolizistin. Wenn er diesen einen Satz ernst nehmen würde.

Diesen einen Satz, der die Verbindung zu drei Toten herstellte und vielleicht den Beginn einer landesweiten, europaweiten Suche nach weiteren Vermissten markierte.

… sie erklärte mir, dass sie Rattenzüchterin geworden ist, weil ihre Familie aus der Landwirtschaft kommt und sie nach Bauernart töten.

Gülle. Schweine. Trog. Töten nach Bauernart.

Er beschloss, Sanela Beara und sich selbst einen Gefallen zu tun. Er würde zwei Gespräche führen. Von deren Verlauf und Ergebnis würde er weitere Ermittlungen abhängig machen. Er griff zum Telefon.

Prahm, der Revierpolizist der Polizeiwache Teltow, ein nicht mehr ganz junger Mann mit ächzendem Atem, fand seine Anfrage so merkwürdig, dass er mehrfach nachhakte, ob er Gehring auch richtig verstanden hätte.

»Wendisch Bruch? Vor fast zwanzig Jahren?«

»Ja. Harald Schmidt, Erich Wahl, Gisela und Walter …«

»Die Webers?«

»Kannten Sie sie?«

»Nein, kennen ist zu viel gesagt. Weber hatte die Metzgerei, wir haben da öfter unsere Krakauer geholt. Der konnte noch richtige Würste machen, sage ich Ihnen.«

Weber, notierte Gehring hinter die beiden Vornamen. »Und was aus ihnen geworden ist, wissen Sie das?«

»Die sind weggezogen, glaube ich. Ist ja schon lange her. Mitte der Neunziger begann das ganze Elend hier. Da sind viele weg, um nochmal ganz von vorn anzufangen. Tja.«

Das letzte Wort dehnte Prahm mit einem Ausatmer zu einem wortlosen Kommentar.

»Und Harald Schmidt und Erich Wahl?«

»Sagt mir gar nichts. Nee.«

Gehring holte das zerknüllte Papier, auf das er die letzte Nachricht Bearas in Stichpunkten notiert hatte, wieder aus dem Papierkorb und dankte seinem Dienstherrn, dass diese auf Grund von Sparmaßnahmen nur noch zwei Mal wöchentlich geleert wurden. »Könnten Sie herausfinden, wer alles von dort weggezogen ist und falls bekannt wohin? Und wie die Besitzverhältnisse des Aussiedlerhofes sind.«

»Das ist Sache vom Melderegister und Katasteramt. Ich kann Ihnen da nicht viel Hoffnung machen. Damals haben wir noch mit ISVB und nicht mit POLIKS gearbeitet. Wenn, dann liegt das im Archiv Luckenwalde.«

Gehring unterdrückte ein ungeduldiges Stöhnen. Das uralte Vorgangsverwaltungssystem war erst vor einigen Jahren durch ein moderneres ersetzt worden. Er erkannte, dass sich sein Ermittlungsersuchen an diese kleine brandenburgische Polizeiwache schwierig gestalten könnte.

»Ich will Ihnen keine unnötige Arbeit aufbürden. Aber vielleicht erinnert sich noch einer der älteren Kollegen von Ihnen an ungeklärte Vorfälle in Wendisch Bruch?«

»Ich bin der Älteste.«

»Der Bäcker, der damals im Teig erstickt ist. So etwas in der Art meine ich.«

Schweigen. »Davon weiß ich nichts«, sagte der Mann schließlich, ehrlich überrascht.

»Wäre es möglich, seine Identität zu klären und herauszufinden, wer den Totenschein ausgestellt hat?«

»Ich kümmere mich darum. Aber das kann dauern. Wir sind hier nur ein kleiner Revierposten. Wenn es dringend ist, dann fordern Sie doch Verstärkung aus Luckenwalde an.«

Womit seine Anfrage wahrscheinlich in den Ablagekorb wanderte.

Das zweite Gespräch führte er mit Gerlinde Schwab. Polizeikommissarin mittlerer Dienst, Schwerpunkt Aktenführung. Ein verblühtes Talent, eine enttäuschte Hoffnung. Mit brillanten Zeugnissen an den Start gegangen und über die Jahre immer weiter nach hinten gerutscht, wenn es um Beförderungen und Kompetenzen ging. Sie war nun Ende vierzig und hatte alle Ambitionen begraben, nur eine nicht: krankheitsbedingt so schnell wie möglich den Vorruhestand zu erreichen. An diesem Ziel arbeitete sie mit Fleiß und Ausdauer. Die Zahl ihrer Krankheitstage überwog die ihrer Anwesenheit um einiges, und der leidende Zug um den Mund, den sie sich angewöhnt hatte, forderte Fragen nach dem Befinden heraus, die man spätestens dann bereute gestellt zu haben, wenn sie den jüngsten Schub ihrer Gürtelrose detailreich beschrieb. Schwab anzurufen und sie um diese Uhrzeit am Apparat zu haben grenzte an ein Wunder. Sie tatsächlich dazu zu bringen, in den dritten Stock zu kommen, setzte ihrem guten Willen die Krone auf.

»Die Kinder«, begann Gehring ohne Umschweife, als sie hereinkam, und sah auf seine Armbanduhr. Noch zehn Minuten bis zur Lagebesprechung. Er wusste, dass sie nur auf den Moment lauerte, in dem sie sich über die Unzumutbarkeit ihres anstrengenden Dienstes am Schreibtisch auslassen konnte. Dazu sollte sie erst gar keine Möglichkeit bekommen.

Schwab schloss die Tür. Sie hatte in den letzten Jahren ziemlich zugelegt und versteckte ihren Körper hinter weiten Kleidern und wallenden, übereinandergeschichteten Lagen von organisch gefärbtem Stoff. Ihr rundes Gesicht zierte eine John-Lennon-Brille, die hennarot gefärbten Haare klebten in kleinen Löckchen am Schädel. Die Anstrengung, zwei Stockwerke nach oben zu laufen, hatte sie klatschmohnrot anlaufen lassen. Gehring bemerkte ihre geschwollenen Knöchel. Vielleicht war sie doch krank.

»Kinder?«, schnaufte sie und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Sie nestelte ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel ihrer Bluse und tupfte sich damit kleine Schweißperlen auf der Stirn ab.

»Vor ein paar Tagen hatte ich Sie darum gebeten, mit Luise Hoffmann und Dilshad Said im Zusammenhang mit dem Tierpark-Mord zu sprechen. Die beiden haben als Erste die Hand im Pekari-Gehege entdeckt und vielleicht weitere Beobachtungen gemacht. Haben Sie das getan?«

»Ja. Natürlich.«

»Und warum erfahre ich nichts über die Befragung?«

»Jedes Mal, wenn ich mich hinsetzen wollte, kam was dazwischen. Ich erledige das sofort.«

Sie lief noch röter an, falls das überhaupt möglich war.

»Sie sollen angeblich einen Clown am Leichenfundort gesehen haben, mit einer Schubkarre. Wurde Ihnen das bestätigt?«

Schwab zerknüllte das Taschentuch. »Eigentlich nicht.«

»Könnten Sie das etwas präzisieren?«

»Die Eltern wollten nicht, dass nochmal jemand mit ihnen spricht. Sie sind doch erst sechs Jahre alt. Vielleicht müsste man einen Kinderpsychologen zu dem Gespräch hinzuziehen. Ich wollte Sie deshalb auch nochmal sprechen.«

Gehring überschlug, wie viele Tage seit Erteilen des Auftrags und dieser Aussage vergangen waren. Er beschloss, nicht sich zu ärgern, sondern sie.

»Kann ich Sie mit einer anderen Aufgabe betrauen?«

»Ich weiß nicht … ich hab heute noch einen Arzttermin.«

»Wenn es nichts Akutes ist, könnten Sie den vielleicht auf die Zeit nach Dienstschluss legen.«

Doch Frau Schwab wusste um ihre Rechte. »Es ist akut, und ich bin nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Außerdem gehe ich freitags immer um eins.«

»Gut.« Gehring klappte den Aktenordner zu und hielt ihn hoch, damit sie die Aufschrift auf dem Rücken lesen konnte. »Hier drin befindet sich der Untersuchungsbericht des Mordfalls Werner Leyendecker. Der Tote im Tierpark.«

Das hypertonische Rot in Frau Schwabs Antlitz verlor sich etwas. Man könnte in gewisser Weise sagen, sie erbleichte. »Die Angeklagte hat sich umgebracht, gestern Nacht.«

»Ja.«

Er wartete darauf, ob sie eins und eins zusammenzählen konnte. Sie konnte nicht. Er sah kurz auf seine Uhr. Die Besprechung würde ohne ihn anfangen müssen.

»Alle Kollegen sind mit anderen, sehr wichtigen und dringenden Fällen beschäftigt. Ich auch. Sie, Frau Schwab, können Ihre Aktenführung durchaus für eine Recherche unterbrechen. Ist das möglich?«

»Ich weiß nicht …«

»Ich habe Sie angerufen, weil Sie mir als eine verschwiegene und vertrauenswürdige Person bekannt sind. Auch nach dem Tod Charlotte Rubins sind die Ermittlungen noch nicht beendet.«

»Nicht? Aber ich dachte …«

»Was ich suche, sind Hinweise auf das Verschwinden von Menschen in einem kleinen Dorf im Landkreis Teltow-Fläming. Sie könnten im Zusammenhang mit dem Tierpark-Mord stehen. Eventuell würde ich Sie bitten, nach Luckenwalde zu fahren. Was ich aber konkret von Ihnen fordere, ist, über unsere Unterredung Stillschweigen zu bewahren, egal, ob Sie die Aufgabe annehmen oder auch nicht.«

»Luckenwalde?« Er sah geradezu, wie sich hinter ihrer Stirn die Landkarte von Brandenburg ausbreitete, zeitgleich mit dem Entschluss abzulehnen.

»Ich verstehe wirklich nicht, wie ich Ihnen da helfen kann.«

Gehring bekam Zweifel, ob seine Idee wirklich gut gewesen war. Schwab gehörte zu den Menschen, die man irgendwann aufgegeben hatte. Sie bekamen einen Platz, man wies ihnen eine Aufgabe zu, ab und an erkundigte man sich, ob alles erledigt worden war – das schaffte sie immerhin, wenn auch mit krankheitsbedingten Verzögerungen, und niemand beachtete ihr Treiben und Tun. Sie wäre die ideale Person gewesen, um diskrete Nachforschungen anzustellen.

»Luckenwalde …« Schwab schüttelte den Kopf. Ein Schweißtropfen sickerte aus dem Schläfenhaar. Sie tupfte ihn hektisch weg. »Das schaffe ich nicht bis heute Mittag.«

»Schon gut. Ich will Sie nicht noch zusätzlich belasten.«

Sie sah ihn misstrauisch aus ihren kleinen, von wulstigen Lidern fast bedeckten Augen an. Vielleicht wartete sie darauf, dass er seinen Worten noch etwas Herablassendes hinzufügte. Gehring zwang sich zu einem Lächeln.

»Es war nur eine Idee. Ich erinnere mich, dass Ermittlungsarbeit früher einmal eine Ihrer Stärken war.«

Sie sah auf das schweißfeuchte Papiertaschentuch in ihren Händen. »Früher konnte ich auch noch laufen. Aber wenn man nicht mehr richtig funktioniert, wird man ja ausgemustert.«

»Wenn der Arzt sagt, dass Sie das nicht mehr können? Ihre Versetzung in den Innendienst wurde medizinisch begründet.«

»Alle denken doch, ich simuliere nur. Denen wünsche ich mal eine Nacht meine Beine. Was genau wollen Sie denn wissen?«

Sie deutete mit ihrer Hand auf die Akte. Gehring sah, dass ihr Ehering tief in den geschwollenen Finger einschnitt. Er überlegte, ob er sich auf ein weiterführendes Gespräch einlassen sollte, an dessen Ende sowieso nur eine Absage stand. Dann entschied er sich, Bearas Verdachtsmomente zusammenzufassen und abzuwarten, wie Schwab darauf reagieren würde.

»Charlotte Rubin kam aus Wendisch Bruch. Neunzehnhundertdreiundneunzig, im Alter von fünfzehn Jahren, zieht sie weg. Zeitnah kommt es zu einem Exodus der männlichen Dorfbewohner und mehreren rätselhaften Todesfällen. Im Moment versuche ich herauszufinden, ob Werner Leyendecker irgendwann Anfang der Neunziger dort gewesen ist. Wenn ja …«

Er brach ab.

»Wenn ja«, fuhr sie zu seinem Erstaunen fort, »wäre das der erste Beweis, dass Täter und Opfer sich kannten.«

»Sie haben den Bericht gelesen?«

»Es ist meine Aktenführung.«

»Oh.« Gehring strich über die grau marmorierte Pappe. »Gut gemacht, das wollte ich Ihnen schon lange einmal sagen.«

Schwab kniff die kleinen Augen zusammen, als ob jedes Lob für sie auch eine versteckte Ohrfeige bereithalten würde.

»Und was noch?«, fragte sie. »Die verschwundenen Männer – das könnten weitere, potentielle Opfer von Frau Rubin sein? Und Leyendecker war quasi der Letzte, der ihr durch die Lappen gegangen ist?«

Er nickte, überrumpelt von ihrem plötzlichen Interesse und ihrem hinter Trägheit versteckten, aber vorhandenen Verstand.

»Leyendecker war Vertreter für Landmaschinen. Er ist definitiv Anfang der Neunziger in Jüterbog gewesen. Das sind nur zehn Kilometer Entfernung zu Wendisch Bruch. Sein Mitarbeiter, der ihn auf diese Touren begleitet hat, ist Jahre später durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, den ich mir noch einmal genauer ansehen möchte. Der Bäcker des Ortes ist in einem Trog erstickt. Der Fleischer verschollen. Ich will wissen, wie viele der Männer, die Wendisch Bruch verlassen haben, noch leben.«

»Interessiert Sie nicht viel mehr, wie viele schon tot sind?«, fragte Schwab.

»Exakt.«

Schwab erhob sich mit einem Seufzen. Ihre Bewegungen waren schwerfällig und unsicher.

»Was haben Sie eigentlich?«, fragte Gehring.

»Rheuma.«

»Sie sollten sich mal Ihren Blutdruck messen lassen.«

»Genau das hatte ich heute vor. Aber vielleicht kann ich den Termin auf Montag früh legen. Luckenwalde schaffe ich, wenn überhaupt, erst nächste Woche.«

»Frau Schwab …« Gehring stand auf und hielt ihr die Tür auf. »Danke.«

Er wartete, bis sie gegangen war. Dann nahm er die Akte und schob sie wieder in das Regal. Er hatte getan, was er konnte.

Das Dorf der Mörder
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