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Marten war ein lieber Junge. Immer.«

Walburga wischte einen Krümel von der speckigen Wachstuchdecke. Gehring, sein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, weil er den Ledereinband nicht auf den Tisch legen wollte, unterdrückte einen Seufzer. Wann traf endlich dieser verfluchte Streifenwagen ein?

»Wir hatten es alle nicht leicht hier. Keine Jobs, immer mehr Leute zogen weg. Und Marten fand keinen Ausbildungsplatz. Nicht mit seiner Behinderung.«

»Was hatte er denn?«

»Er ist als Junge unter den Trecker gekommen, die Hüfte ist nicht richtig zusammengewachsen. Er hinkt ein bisschen. Aber das reicht ja schon, ihn als Idioten hinzustellen.« Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Keiner hat ihn für voll genommen. Deshalb war er viel allein. Nur die kleinen Kröten vom Aussiedlerhof, mit denen war er oft zusammen. Wenn man hier groß wird, muss man sich durchsetzen können. Irgendwann hat er das gelernt. Aber er hat ein gutes Herz. Früher ist er immer nach Jüterbog und hat für die Kinder im Krankenhaus den Clown gespielt.«

»Den Clown?«, wiederholte Gehring fassungslos. Er hatte das Gefühl, langsam, aber sicher auf einen Abgrund zuzutreiben. »Macht er das heute auch noch?«

»Woher soll ich das wissen? Er lebt in Berlin. Eine schreckliche Stadt. Riesig. Und laut! Keine zehn Pferde könnten mich da …«

»Adresse?«

»Weichselring 75c.«

Gehring tippte die Adresse in sein Handy und schickte die SMS mit Bitte um sofortige Überprüfung an Schwab. Walburga beobachtete ihn mit steigendem Unwillen.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich will wissen, wo fünf Männer und eine Frau geblieben sind und warum fünf – hören Sie? Fünf! – weitere sterben mussten. Wenn meiner Kollegin auch nur ein Haar gekrümmt worden ist, dann werde ich jeden Einzelnen – hören Sie zu? –, jeden Einzelnen in diesem Dorf zur Rechenschaft ziehen! Es kann nicht sein, dass niemand etwas gewusst haben will. Ich werde so lange suchen, bis ich herausgefunden habe, was sich hier abgespielt hat. Tod für Tod. Unfall für Unfall. Mord für Mord. Und bei Ihnen, Frau Wahl, fange ich gerade erst an. Wo ist meine Kollegin?«

Walburgas Kinn begann zu zittern. Sie wischte wieder, auch wenn mittlerweile kein einziger Krümel mehr auf dem Tisch lag.

»Ich weiß es nicht. Ich habe überhaupt keine Ahnung, von was Sie reden!«

»Ihr Mann ist seit achtzehn Jahren spurlos verschwunden. Und einige Ihrer Nachbarn, die Wendisch Bruch verlassen haben, kamen niemals an ihrem neuen Aufenthaltsort an. Sie sind tot. Darunter Gisela und Walter Weber und«, er faltete Schwabs Blatt auseinander, »Gerd Vennloh. Sie haben weder die Costa Blanca noch Amerika je zu Gesicht bekommen.«

»Da müssen Sie sich irren.« Walburga stand eifrig auf und ging zur Anrichte. Sie zog eine Schublade heraus, wühlte darin herum und präsentierte Gehring eine Postkarte. Rotglühender Sonnenuntergang am Meer. Nervös, mit zitternder Hand, hielt sie sie ihm entgegen. »Den Webers geht es gut. Die haben sie uns geschickt.«

Gehring drehte die Karte um. Sie war voller Fettflecken, hatte eine spanische Briefmarke mit einem Pesetenbetrag und einen unleserlichen Poststempel. Wir sind gut angekomen, herzliche Grüsse, Gisela und Walter. Er legte sie in sein Notizbuch, um sie an die Spurensicherung und den Graphologen weiterzuleiten.

»Heben Sie Ihre ganze private Post so lange auf?«

»Ich bekomme nicht so viel. Sie hat neben dem Herd gehangen. Also?«

Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und sah ihn herausfordernd an. Sie hatte wieder Oberwasser, der Schreck verflüchtigte sich.

»Erstaunlich«, sagte Gehring. »Ich werde das prüfen lassen. Dann hätten wir den ersten echten Beweis für ein Leben nach dem Tod. Wir vermuten, dass die Webers ermordet wurden.«

»Ermordet?«, flüsterte sie. Dann schüttelte sie den Kopf, wieder und wieder. »Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht.«

»Was ist mit den anderen? Sachs? Vennloh? Schmidt?«

»Was soll mit denen sein? Sie sind weggezogen. Wie so viele andere auch. Wenn ich jedem hinterherweinen würde, dem es hier nicht mehr gefällt, hätte ich viel zu tun.«

»Das sind, bis auf Gisela Weber, alles Männer.«

»Und?«

»Haben Sie eine Erklärung dafür? Was hat diese Leute miteinander verbunden? Wer könnte sich an ihnen gerächt haben? Für was?«

»Sie sind hier falsch, ganz falsch. Ich kannte die kaum.«

»Sie haben Tür an Tür mit ihnen gelebt. Sie haben mit angesehen, wie Wendisch Bruch zu einem Geisterdorf wurde. Sie müssen doch etwas gehört haben. Dorfklatsch. Dummes Gerede. Irgendetwas!«

»Nein!«

»Wer hat das Auto in die Garage gefahren?«

»Ich.«

»Zeigen Sie mir mal Ihren Führerschein.«

Walburga blieb sitzen, als hätte sie ihn nicht gehört.

»Ihren Führerschein, bitte.«

»Ich hab keinen«, flüsterte sie. »Aber ich kann fahren. Wirklich.«

Gehring stand auf und ging zur Tür. Auffordernd sah er sich nach ihr um. Walburga erhob sich ebenfalls.

»Kommen Sie mit.«

Sie folgte ihm wie ein Lamm zur Schlachtbank.

Das Dorf der Mörder
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