24

Der Notarzt hatte Cara eine Beruhigungsspritze gegeben. Sie lag auf der Chaiselongue in Brocks Büro, die Augen geschlossen, den Kopf zur Seite gewandt, und Jeremy konnte unter der hellen Haut ihres Halses die Schlagader pochen sehen.

Eine Heftklammer. Zwei Beamte von der Kripo waren da gewesen, um Miezes Schreibtisch zu untersuchen, und hatten mehrere Exemplare dieser offenbar genauso eigenwilligen wie tödlichen Waffe konfisziert. Jeremy sehnte sich beinahe nach Miesdrosny und dem ohne Namen. Die beiden wären in diesen Stunden eine Konstante gewesen, die Halt gegeben hätte. Sie hätten gewusst, dass Charlie sie hinters Licht geführt hatte. Ihr ganzer Auftritt, ihre Wut beim Anblick der Schwester war eine Farce gewesen. Ein Ablenkungsmanöver, das dazu gedient hatte, sich eine Heftklammer anzueignen und irgendwo am Körper versteckt in die JVA einzuschmuggeln.

Hatte Cara mitgespielt?

Er wusste nicht, ob sie schlief. Brock hatte sich, nachdem sie verarztet worden war, hastig verabschiedet, um mit dem Staatsanwalt zu reden. Jeremy sollte bei Cara bleiben, bis entschieden war, was mit ihr geschehen sollte. Ob sie zurück nach Dessau wollte oder doch besser in einem Krankenhaus zur Beobachtung aufgehoben wäre. Ihr Zusammenbruch war echt. Vielleicht das einzig Echte, was sie in den letzten Tagen hier zu sehen bekommen hatten. Ihr Schrei, der in hilfloses Wimmern und Stammeln überging, ihre Tränen, die Rufe nach Charlie, ihr wahnsinniger Wille, die Leiche der Schwester zu sehen – was man ihr abschlagen musste, da sie noch auf dem Obduktionstisch lag –, schließlich die Aggressivität, mit der sie auf Jeremy und Brock losgegangen war, waren Ausdruck echter, tiefer Verzweiflung gewesen.

Es klopfte leise, und Mieze öffnete die Tür. Ihre Augen waren verquollen und rot. Leise stand Jeremy auf und ging zu ihr.

»Sie sollen doch nach Hause.« Jeremy schlüpfte ins Vorzimmer und schloss die Tür hinter sich, um Cara nicht zu stören. »Sie haben alle Termine von Professor Brock abgesagt?«

Mieze nickte. Die kleine, runde Frau, für die Charlie immer »das Monster« gewesen war, machte sich bittere Vorwürfe. Jeremy vermutete, dass sie weniger durch echtes Mitgefühl für die Tote ausgelöst worden waren, sondern durch Caras dem Wahnsinn so nahes Leid. Es hatte sie alle schockiert und mitgenommen.

»Wer denkt denn an so was«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Und jetzt ist sogar noch ein Herr von der Kripo hier, und ich erreiche den Professor nicht. Was soll ich denn machen?«

Gar nicht erst die Tür öffnen, dachte Jeremy in einem Anflug von Grimm. Man hatte ihnen versichert, dass im Moment keine weiteren Fragen vorlägen und man sie informieren würde, wenn die Ermittlungen eine weitere Mitarbeit erforderlich machen würden.

»Die Kripo? Bei einem Suizid?«

»Ich weiß es doch auch nicht. Er wollte mit dem Professor reden. Oder mit Ihnen, wenn es gar nicht anders geht. Er wartet vorne bei mir.«

»Okay.« Jeremy nickte Mieze aufmunternd zu. »Ich kümmere mich darum. Führen Sie ihn in mein Arbeitszimmer. Ich komme gleich.«

Er ging noch einmal zu Cara, doch sie lag genauso da, wie er sie verlassen hatte. Sie schien zu schlafen. Das war gut. Es würde den Schmerz nicht lindern, aber sie könnte ihm ausgeruht begegnen. Er war versucht, ihr über den Kopf zu streichen. Seine Hand schwebte über ihrem Scheitel, dann zog er sie zurück.

Ihre fragile, splittrige Beziehung hatte einen weiteren Riss bekommen. Sie würden sich anders begegnen müssen, falls es jemals ein Wiedersehen gab. Charlies Selbstmord hatte die verwirrende Option, sie vielleicht doch noch eines Tages näher kennenzulernen – dann, wenn der Prozess vorüber war und die Geschehnisse langsam zu Erinnerungen wurden –, zerstört. Jeremy wusste noch nicht, wer Cara sein würde, wenn sie die Augen wieder aufschlug. Patientin, Zeugin, Komplizin ihrer Schwester … bestimmt nicht die Frau, die etwas in ihm zum Klingen gebracht und eine fast schmerzhafte Sehnsucht in ihm ausgelöst hatte. Er spürte sein Herz brennen, weil sie so zart und zerbrechlich aussah. Er wollte sie beschützen. Doch dieser uralte, atavistische Instinkt stand im klaren Gegensatz zu dem, was Brock immer gesagt hatte. Abstand. Sich nicht zu sehr auf jemanden einlassen, weder im Guten noch im Bösen. Er wusste nicht, zu was er sich entscheiden sollte.

Sie blinzelte. Ihr Blick wanderte über den geschlossenen Vorhang und die Stehlampe und blieb schließlich an Jeremy hängen. Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Es verschwand. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, wie die Erinnerung sich brutal ihren Weg durch ihr betäubtes Gehirn bahnte.

»Charlie«, flüsterte sie.

Jeremy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Sie tastete nach seiner Hand. Die Berührung ließ nicht nur sein Herz auflodern, sie setzte seinen ganzen Körper in Brand.

»Wo ist sie?«

»In der Gerichtsmedizin. Die Todesursache muss eindeutig geklärt werden. Mein Beileid.«

»Beileid.« Ihre Hand fiel herab. »Du kannst mir gestohlen bleiben mit deinem Beileid.«

»Cara, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Dann halt den Mund. Sie wollte es so. Schon immer. Deshalb war ich auch so wütend auf sie. Und jetzt bin ich es wieder. Ich will sie schütteln, in den Hintern treten, sie anschreien. Sie hat mein Leben kaputt gemacht mit ihrer Scheiße. Seit ich denken kann, hatte ich Angst, wann sie es wieder versuchen wird. Beileid. Beileid!« Sie stieß ein trockenes Lachen aus.

»Habt ihr …« Er räusperte sich, weil seine Kehle trocken war. »Habt ihr jemals daran gedacht, Hilfe zu suchen?«

»Hilfe? Wo denn? Weshalb denn? Es war fast eine Erleichterung, als sie weg war. Sollen sich doch die anderen Sorgen um sie machen. Einmal hab ich sie vom Dachbalken geschnitten. Da war ich zehn. Zehn! Davor hat sie es mit Rasierklingen versucht. Oder mit einer Plastiktüte. Ich dachte, sie wollte spielen, als ich sie gefunden habe. Ich war noch ein Kind, verstehst du? Ein Kind!«

Sie presste die Lippen aufeinander und wandte ihren Kopf in die andere Richtung. Sie wollte nicht, dass er ihr Gesicht sah.

»Hilfe? Was wusste ich von Hilfe. Du trägst deine Schultüte und ein neues Kleid, und in der Schule sagen sie dir, du stinkst. Du willst spielen, stattdessen wirst du verprügelt. Es war, als hätten wir Aussatz. Einmal wäre sie fast verblutet. Ich konnte früher einen Druckverband setzen als lesen. Der nächste Arzt war in Jüterbog. Was hätten denn die Leute gesagt, wenn nachts ein Krankenwagen vor der Tür gestanden hätte? In die Klapse wäre sie eingewiesen worden. Das wollte ich nicht. Ich hab es immer vertuscht. Hab sie keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen. Wenn sie nachts aufstand und in die Küche ging, bin ich aufgewacht. Wenn sie zu lange draußen bei den Schafen war, hab ich sie gesucht. Ich war …«

Sie schluchzte. »Ich war noch keine zwölf, als sie weggegangen ist. Und ich war glücklich. Kannst du das verstehen? Glücklich, dass ein anderer sie finden wird, wenn sie es wieder tut. Dass fremde Leute ihr Blut aufwischen würden. Dass ich nicht nochmal ihr blau angelaufenes, verschwollenes Gesicht sehen muss. Glücklich. Ich schäme mich so dafür.«

Sie weinte. Jeremy berührte sanft ihre Schulter. »Das ist normal. Du warst ein Kind und völlig überfordert. Wo waren eure Eltern?«

»Ich … ich weiß nicht. Sie waren arbeiten oder saufen. Sie konnten auch nichts machen. Ich war allein.«

»Allein? Mit allem?«

»Mit allem. Oder warum glaubst du, dass ich so gut mit Tieren umgehen und sensationell kochen kann? Ach so, das weißt du ja gar nicht. Schade.«

»Ja, schade.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Weißt du, ob Charlie hier in Berlin wieder versucht hat, sich das Leben zu nehmen? Ich meine, bevor diese Sache im Tierpark passiert ist.«

»Ich glaube nicht. Wir haben uns nicht mehr oft gesehen. Aber wenn, dann schien sie mir glücklich zu sein. Was heißt glücklich. Sie hatte einen Job, sie lebte ziemlich einsam, aber das war alles, was sie wollte. Keine Kontakte, nur das Nötigste. Sie war ruppig und abweisend, damit man sie in Ruhe ließ. Auch zu mir.«

»Keine Männer?«

»Charlie?« Verwundert schüttelte sie den Kopf.

»Warum war sie so aggressiv? Warum diese vehemente Ablehnung, als sie dich hier in der Praxis gesehen hat?«

Cara setzte sich auf und zog die Beine zu sich heran. Sie schlang die Arme um ihre Knie, als ob sie sich kleiner machen wollte. Sie sah Jeremy nicht an.

»Weil ich es gewusst habe«, flüsterte sie. »In dem Moment, in dem ich sie gesehen habe, wusste ich, sie würde es wieder tun.«

»Wie konntest du ihr das ansehen?«

»Es war ihr Blick. Sie hat mir nicht in die Augen gesehen. Nur wenn sie wütend war, dann ging es. Aber sonst … wich sie mir aus. Schaute an mir vorbei. So wie damals, wenn sie immer stiller wurde und mit keinem mehr geredet hat. Und wehe, man hat sie angesprochen. Dann ist sie ausgerastet. In dieser Verfassung war sie lange nicht mehr. Ich kenne sie besser als jeder andere, soweit man Charlie kennen konnte. Ich habe gespürt, dass es wieder losgegangen ist bei ihr.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Weil ich Idiot der Meinung war, im Knast wäre sie sicher? Weil ich das ganze Elend, diese ganze grauenhafte Geschichte hier nicht ausbreiten wollte?« Sie sah hoch und blitzte ihn wütend an. »Hier, bei euch. Vor euch. Ihr hättet sie doch sofort zu einer Irren abgestempelt!«

»Du unterschätzt Professor …«

»Ich unterschätze alles! Ich bin so blöd zu glauben, dass man sich in einer Zelle nicht umbringen kann! Wie konnte das passieren? Mit einer Heftklammer? Sie hat sie hier geklaut. In dieser Praxis. Ja, ich habe unterschätzt, wie unfassbar leichtsinnig ihr mit Patienten umgeht. Warum lasst ihr sie nicht gleich mit einer Pistole allein? Das wäre schneller und schmerzloser.«

Sie ließ sich zurückfallen und starrte an die Decke. Jeremy fühlte, wie ihre Trauer und ihre Wut auch ihn überwältigten. Abstand, dachte er, geh auf Abstand. Aber das würde bedeuten, Cara alleinzulassen. Er wünschte sich, der Mann zu sein, der ihr zur Seite stehen könnte. Der sie nicht mit ihrer Trauer und den grausamen Erlebnissen im Regen stehen lassen würde. Wenn er ihr helfen wollte, musste er Psychologe sein. Kein Liebender.

Kaum hatte er das Wort gedacht, erschrak er davor.

»Ich komme gleich wieder«, sagte er leise.

Sie nickte und drehte sich weg.

Der Mann, der aufsprang, als Jeremy sein Büro betrat, war Mitte dreißig und einer von der Sorte, die mit bloßem Händedruck Nüsse knackten. Er hatte ein schmales Gesicht mit eng stehenden blauen Augen, die nur deshalb nicht verschlagen wirkten, weil sein Lächeln offen und seine Körperhaltung zurückgenommen selbstbewusst war. Sie waren ungefähr gleich groß und von ähnlicher Statur, allerdings kam sein Gegenüber wesentlich häufiger zum Sport und hatte offenbar Freude daran, das Resultat zur Schau zu stellen. Jeremy konnte mit Muskelprotzen nichts anfangen. Sein Vorurteil tendierte dazu, einen Zusammenhang zwischen Trizepsgröße, Penislänge und Gehirnmasse zu konstruieren. Doch dieser gottbegnadete Halb-Adonis mit den engen Sommerhosen und den Quetschfalten im Schritt schien es zu widerlegen.

»Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring, Mordkommission Sedanstraße.«

Freundliche Stimme, gute Artikulation. Wacher Blick, knappes Lächeln. Kein Schwätzer, der mit den eigenen Zeitressourcen und denen seiner Mitmenschen verschwenderisch umging.

»Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz.«

Jeremy umrundete den Schreibtisch und setzte sich ebenfalls. Dieser Raum wurde zum Arbeiten genutzt, deshalb fehlten gemütliche Sessel und ein Kaffeetisch. An den Wänden standen Regale, in denen Teile von Brocks beeindruckender Bibliothek genauso versammelt waren wie Jeremys Nachschlagewerke. Sein Schreibtisch hätte aufgeräumter sein können, aber er verspürte kein schlechtes Gewissen. Nur Neugier, was diesen Ironman der Berliner Kripo hierhergetrieben haben könnte.

»Man hat mir gesagt, Professor Brock sei den Rest des Tages außer Haus und nicht erreichbar.«

»Natürlich ist er für Sie zu sprechen, ich gebe Ihnen gerne seine Nummer. Aber vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Gehring ließ den Blick über den Schreibtisch wandern. Er sah das Aufnahmegerät und die Handakte mit der Aufschrift »Charlotte Rubin«.

»Waren Sie an der Erstellung des Gutachtens im Fall Rubin beteiligt?«

»Ja. Bevor wir weiterreden – Ihnen ist bekannt, dass die ärztliche Schweigepflicht auch nach dem Tod eines Patienten nicht endet.«

»Das betrifft nicht die polizeilichen Ermittlungen.«

Jeremy brauchte eine Sekunde, bis er begriff.

»Charlotte Rubin hat Selbstmord begangen. Ich verstehe nicht ganz. Die Ermittlungen müssten so oder so eingestellt sein. Und Frau Rubins Suizid fällt doch kaum in die Zuständigkeit einer Mordkommission. Was führt Sie zu uns?«

»Ich bin … ich war der leitende Beamte bei den Tierpark-Ermittlungen.«

Jeremy schlug die Akte auf, fand die Untersuchungsberichte und blätterte sie durch bis zur letzten Seite mit der Signatur des ausstellenden Beamten. »Stimmt. Sie haben das unterschrieben, deshalb kam mir Ihr Name auch so bekannt vor. Ja, ich war bei den Sitzungen dabei. Aber ich bin nicht in der Lage, auf die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit eine Antwort zu geben, falls das noch von Relevanz sein sollte.«

»Darum geht es auch nicht.«

Jeremy klappte den Deckel zu. »Um was dann? Was ermitteln Sie eigentlich noch?«

Er dachte an Cara im Nebenzimmer und wurde ungeduldig.

In diesem Moment öffnete Mieze die Tür und balancierte ein Tablett mit Kaffeekanne, Tassen, Zucker, Milch und Keksen.

»Danke«, sagte er.

Mieze stellte das Tablett ab. »Ich würde jetzt gehen. Ist das in Ordnung?«

»Natürlich, Frau Katz. Wir sehen uns morgen.«

Sie nickte dem Kommissar zu und verließ den Raum. Jeremy schenkte zwei Tassen Kaffee ein, er roch frisch gebrüht. Doch das Stillleben auf dem Tablett erinnerte ihn an die letzten, unbefangenen Momente mit Cara, bevor die Nachricht von Charlies Tod wie ein Fallbeil auf sie herabgestürzt war. Gehring gab Milch in seine Tasse, rührte um und trank einen Schluck.

»Mich würde interessieren, ob es während der Sitzungen Auffälligkeiten gegeben hat.«

Jeremy lehnte sich zurück und hob die Augenbrauen. Bevor er die Fingerspitzen aneinanderlegen konnte, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass er damit die Pose seines Vaters nachahmen würde. Die Dozentenstellung. Das Imponiergehabe. Er räusperte sich und schob die Akte zur Seite, um seine Tasse auf die Schreibtischunterlage zu stellen.

»Auffälligkeiten … in gewisser Weise sind sie bei uns die Normalität.«

»Das kann ich mir denken. Aber ist etwas passiert? Etwas Unvorhergesehenes? Rubin hat doch hier in der Praxis schon einmal einen Suizidversuch unternommen. Gab es einen direkten Auslöser?«

»Nein. Wir … okay, ich habe sie für einen Moment unbeaufsichtigt in Professor Brocks Zimmer warten lassen. Diese Gelegenheit hat sie genutzt. Ich will mich nicht herausreden, der Vorfall ereignete sich unter meiner Verantwortung. Aber ganz ungeschützt und unter vier Augen: Meiner Meinung nach bedurfte es keines Auslösers. Nur der Gelegenheit.«

»Aber man entscheidet sich doch nicht spontan dafür, sich umzubringen.«

»Nein. Meist fasst man diesen Entschluss schon viel früher.«

»Wie viel früher?«

Jeremy merkte, dass ihm die Fragen des Kommissars gefielen. Gehring beabsichtigte, etwas über Rubin herauszufinden und nicht nur Heftklammern einzusammeln. Er war versucht, dem Kommissar zu erzählen, was Cara ihm anvertraut hatte. Charlies endlose Kette von dilettantischen Selbstmordversuchen, die entweder von sich aus danebengingen oder die ihre kleine Schwester in letzter Sekunde verhindert hatte. Und dass sie, nachdem sich diese Teenager-Depression offenbar gelegt hatte, nach dem Mord an Leyendecker einen Rückfall gehabt hatte. – Und wir haben es nicht bemerkt, fügte er in Gedanken hinzu. Vielleicht war das der Grund, weshalb er schwieg.

»Sie müssten mit Professor Brock reden. Möglicherweise lag eine schwere Depression vor. Charlotte Rubin hat nicht geredet, weder über den Mord noch über das mentale Wiedererleben bestimmter Dinge. Dafür scheint sie Paramnesien und Symptome von Neurosen gehabt zu haben.«

»Paramnesien?«

»Gedächtnisstörungen. Deckerinnerungen. Scheinbar unwichtige Ereignisse, die sich über das tatsächlich Erlebte schieben und den Blick darauf verstellen. Ein Schutzmechanismus. Verdrängung.«

»Haben Sie eine Idee, was sie verdrängt haben könnte?«

»Nein.« Jeremy schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Es tut mir sehr leid, aber ich will keine Spekulationen in die Welt setzen, mit denen ich vielleicht völlig danebenliege. Der Professor schien eine Ahnung gehabt zu haben. Es war auch seine Idee, ihre Schwester herzuholen.«

»Ihre Schwester?«

»Cara Spornitz, eine Tierärztin aus Dessau.«

Gehring runzelte die Stirn. Jeremy schlug noch einmal die Akte auf, dieses Mal an der Stelle, die Mieze mit einem grünen Post-it markiert hatte. Die Alibis im Untersuchungsbericht.

»Sie war zur Tatzeit auf einem Kongress in München«, sagte er und überflog die Zeilen.

Gehring erinnerte sich. Er zog ein Notizbuch heraus und schrieb sich etwas auf. Jeremy sah hoch.

»Beide hatten über Jahre keinen Kontakt«, fuhr er fort. »Sie haben sich hier zum ersten Mal nach langer Zeit wiedergesehen.«

»Könnte das der Auslöser gewesen sein?«

Jeremy ließ die Akte zufallen. »Nein. Erst nach dem Vorfall hier in unserer Praxis kamen wir ja auf die Idee, Frau Spornitz zu kontaktieren.«

Gehring sah auf seine Notizen. »Diese Paramnesien. Um was ging es da?«

Um Rilke, hätte Jeremy beinahe gesagt. Das Bild des ruhelosen Panthers, der hinter den Gitterstäben auf und ab schnürt. Es war mit einem Mal gar kein so schlechter Vergleich zu Charlie. Ein Käfig, aus dem der einzige Weg zur Freiheit in den Tod führte. Der Panther bin ich.

»Um Hunde«, antwortete er stattdessen. »Dorfköter. Diese Rudelkläffer, wenn einer anfängt und alle anderen mit einfallen.«

»Kommt mir bekannt vor.« Das kurze Grinsen auf Gehrings Gesicht verriet, dass er dieses Verhalten nicht nur aus der Tierwelt kannte. »Haben Sie herausfinden können, was hinter dieser Deckerinnerung steckt?«

»Nein. Sie ist … wir haben es nicht so weit geschafft.«

»Glauben Sie, dass diese Hunde etwas mit Wendisch Bruch zu tun haben?«

»Mit was?«

»Das ist das Dorf, in dem Charlotte Rubin aufgewachsen ist.«

»Das weiß ich nicht. Die Hunde sind eine Kindheitserinnerung. Sie mögen geografisch mit diesem Ort verbunden sein. Aber das heißt nicht, dass diese Deckerinnerung auch tatsächlich etwas mit dem Dorf zu tun hat.«

»Aber möglich wäre es schon?«

»Möglich, ja. Aber wir begeben uns damit ins Reich der Spekulation. Frau Rubin kann uns keine Antwort mehr darauf geben. Warum wollen Sie das wissen?«

»Mir ist so ein Fall noch nie untergekommen.«

»Mir auch nicht. Wir würden gerne verstehen. Aber manchmal gelingt es uns nicht. Tragen Sie es nicht zu lange mit sich herum. Wenn es Sie belastet, dann sprechen Sie mit einem unserer Kollegen bei der Polizei.«

»Danke. Ich komme sehr gut klar.« Gehring steckte den Notizblock ein und stand auf. Die meisten Männer reagierten wie er. Therapie war etwas für Weicheier.

»Hat sie es getan?«

Jeremy starrte den Mann an. Er hatte die Frage nicht verstanden.

»Oder waren vielleicht zwei Täter am Werk?«

Das fragte ihn ein Kriminalhauptkommissar, der eine so lückenlose Indizienkette zusammengetragen hatte, dass zur Eröffnung des Strafverfahrens nur noch Brocks Gutachten gefehlt hatte.

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Schon gut. Wo kann ich Frau Spornitz finden?«

»Hier.«

»Hier?«

»Sie hatte heute Morgen einen Termin bei Professor Brock. Die Nachricht vom Tod ihrer Schwester hat ihr sehr zugesetzt.«

»Kann ich sie sehen?«

Jeremy erhob sich ebenfalls. »Wenn Sie sich einen Moment gedulden? Ich werde sie fragen.«

Er verließ das Büro und ging über den Flur ins Vorzimmer. Er sah die Tür zu Brocks Büro halb offen stehen und ahnte, was passiert war, noch bevor er den Raum betrat.

Sie war fort.

Jeremy eilte zurück ins Vorzimmer, doch Mieze war auch schon weg. Er riss die Tür zum Treppenhaus auf und lauschte. Nichts. Wann war sie an ihnen vorbeigeschlichen? Wie viel hatte sie von der Unterhaltung mit Gehring mitbekommen?

»Sie ist weg, nicht wahr?«

Gehring war ihm gefolgt und trat nun an ihm vorbei in den Hausflur. Er reichte Jeremy die Hand.

»Wenn ich noch weitere Fragen habe, wende ich mich an den Professor.«

»Ja«, antwortete Jeremy zerstreut.

»Wo könnte sie sein?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Zurück nach Dessau?«

Gehring nickte, wandte sich ab und lief die Treppe hinunter. Jeremy schloss die Tür. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz und atmete tief durch. Aber das half auch nicht gegen den Druck in seiner Brust.

Sie war fort. Charlie war tot. Die Kriminalpolizei ermittelte weiter. Er fühlte sich hilflos, als sei er in ein Spiel geraten, das er nicht verstand. Einen Moment lang beneidete er Gehring. Den Mann, der felsenfest davon überzeugt war, mit allem klarzukommen.

Das Dorf der Mörder
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